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Gefahr eines Aktiencrashs nimmt zu

 

Für Anleger sind die Fragen immer dieselben: Welche Papiere sind billig, welche teuer, was sind die Risiken, was sollte ich kaufen, was verkaufen? Wenn die Märkte lange Zeit in die eine oder andere Richtung gelaufen sind und daher eine Trendwende droht, so wie das zurzeit der Fall sein könnte, geht es darum, rechtzeitig auszusteigen, also bevor alle Anderen es tun, und auf diese Weise Buchgewinne zu realisieren. Da es völlig unmöglich ist, die Wendepunkte im Vorhinein zu bestimmen, empfiehlt sich ein gestaffeltes Vorgehen. Alles auf eine Karte zu setzen ist selten eine gute Strategie – und es ist verantwortungslos, wenn es um fremdes Geld geht. In der heutigen Situation ist es außerdem zunehmend wichtig, sein Vermögen und damit die Risiken auf mehr Assetklassen zu verteilen als in normalen Zeiten. Das bedeutet im Übrigen, den Anteil der sofort verfügbaren liquiden Mittel langsam zu steigern.

Deutsche Aktien sind im Durchschnitt eher überbewertet als unterbewertet. Das zeigt schon ein Blick auf die Entwicklung des DAX. In den vergangenen fünf Jahren, um einmal einen längeren Zeitraum herauszugreifen, hat er pro Jahr um nicht weniger als 15,3 Prozent zugelegt, in einer Zeit schwachen wirtschaftlichen Wachstums und nahezu stagnierender Verbraucherpreise. Das war für die Anleger wie Manna vom Himmel. Sie können aber nicht darauf setzen, dass sich das fortsetzen wird. Eine Vergleichszahl: Seit dem Beginn der Währungsunion am 1. Januar 1999 ist der DAX „nur“ um durchschnittlich 5,4 Prozent pro Jahr gestiegen.

Grafik: Dax Performanceindex, tgl., 1999-20150522

Zu dem Schluss, dass wir es mit einem Ausreißer, vielleicht sogar mit einer Blase zu tun haben, kommt man auch, wenn andere Messlatten angelegt werden. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des DAX auf der Basis der bereits veröffentlichten Gewinne pro Aktie liegt im Augenblick bei 19,1 und damit weit über Normal. Die Luft ist in dieser Region inzwischen so dünn, dass ein Schock leicht einen Crash auslösen kann. Ein Schock könnte darin bestehen, dass Griechenland sich für zahlungsunfähig erklärt, oder dass die Fed früher als erwartet mit ihrer Restriktionspolitik beginnt, oder einfach durch eine Welle von Gewinnmitnahmen am Aktienmarkt. Auf gar keinen Fall wird es noch einmal so starke Kursgewinne wie im vergangenen halben Jahrzehnt geben; der DAX wäre dann in zwei Jahren bei 15.700!

Das Verhältnis Kurswert zu Buchwert (P/B) der 30 DAX-Werte, ein alternativer Bewertungsmaßstab, beträgt aktuell 1,83. Mit anderen Worten, die Marktteilnehmer trauen den Managern der Firmen zu, dass sie die Gewinne nachhaltig steigern werden. Der DAX besteht für sie gewissermaßen nur aus Wachstumswerten. Noch übertriebener ist nach diesem Maßstab übrigens das Kursniveau des S&P 500, des führenden amerikanischen Aktienbarometers – sein P/B liegt bei 2,9. Der feste Wechselkurs des Dollar hat eigentlich die Wettbewerbsfähigkeit der US-Unternehmen stark geschwächt, die Anleger aber scheint es nicht zu kümmern.

Vermutlich liegt es vor allem daran, dass die wichtigsten Rentenmärkte nach wie vor unattraktiv sind. Selbst nach dem Minicrash des vergangenen Monats, als die Renditen der 10-jährigen Bundesanleihen von 0,08 auf 0,65 Prozent stiegen und damit real wieder etwas brachten, ist der Aktienmarkt zumindest von der Dividendenrendite her immer noch die bessere Alternative. Sie liegt bei 2,5 Prozent und ist damit knapp viermal so hoch. Klar, Unternehmen können die Dividende in schlechten Zeiten schon mal aussetzen, in der Gesamtheit des Marktes und im Verlauf der Zeit aber steigen die Ausschüttungen, während sich die Anleihecoupons bis zur Fälligkeit nicht ändern, der Cashflow also gleich bleibt. Aktien sind die bevorzugten Wertpapiere für konservative Anleger mit einem langen Zeithorizont. Selbst ein Kurseinbruch um die Hälfte braucht sie nicht zu schockieren, solange die Dividenden nicht gekürzt werden. Es gibt eine ganze Reihe von Unternehmen, die das über Jahrzehnte geschafft haben.

Einzuräumen ist, dass die deutschen Aktien nach einem anderen Maßstab fair bewertet sind: der aktuellen Prämie gegenüber risikolosen langfristigen Anleihen. Sie berechnet sich folgendermaßen: von der Gewinnrendite der Aktien (Kehrwert des KGV von 19,1 gleich 5,24 Prozent) wird die reale Rendite der 10-jährigen Bundesanleihen (0,65 Prozent nominale Rendite minus 0,4 Prozent Inflation, gleich 0,25 Prozent) abgezogen, was fast genau fünf Prozent ergibt. Das ist kein ungewöhnlicher oder beunruhigender Wert. Wenn der Zinsanstieg am langen Ende aber weitergehen sollte, sieht die Sache rasch anders aus. Bei zwei Prozent für die Zehnjährigen kommt bei einer unveränderten Inflationsrate nur noch eine Risikoprämie von 3,6 Prozentpunkten heraus, was im historischen Vergleich niedrig ist und Aktienverkäufe auslösen sollte.

Grafik: Renditen 10-jähriger Staatsanleihen, US, DE, JP, 197301-201505

Was sind nun die Aussichten für die Festverzinslichen? Ging eine dreißigjährige Rallye zu Ende, als die Zehnjährigen im vergangenen Monat fast null Prozent erreichten? Unter die Nulllinie können die Renditen auf Dauer nur im Fluchtgeldland Schweiz fallen, nicht aber in Deutschland, und erst recht nicht in den anderen Ländern der Währungsunion. Sie ist eine Art natürlicher Wendepunkt. Die Renditen könnten von hier an weiter in Richtung Normalniveau anziehen oder noch eine längere Zeit zwischen null und ein Prozent fluktuieren, wenn sich beispielsweise wieder die Anzeichen mehren, dass das allgemeine Preisniveau nicht nachhaltig steigen wird. Wie steht es damit?

Die Deflationsrisiken haben sich zuletzt etwas vermindert. Nach dem Tiefpunkt im Januar, als für Euroland bei den Verbraucherpreisen eine Inflationsrate von minus 0,6 Prozent gemessen wurde, kam es zu einem Anstieg des Preisniveaus. Im April erreichte die Inflationsrate wieder null Prozent (und in Deutschland +0,4 Prozent). Möglicherweise lag das daran, dass die Ölpreise seit ihrem Tiefpunkt am 20. Januar in Euro gerechnet um fast 30 Prozent gestiegen waren und die Einfuhrpreise insgesamt kräftig zugelegt hatten, nicht zuletzt wegen der Euroschwäche. Eine Abwertung ist eine hervorragende Medizin gegen Deflation.

Grafik: VPI Inflation, US, DE, JP, 198001-201504

Ob der Mix von steigenden Ölpreisen und Euroschwäche anhalten wird und die Inflation von daher einen Schub bekommt, ist sehr fraglich. Die Weltwirtschaft hat in letzter Zeit einiges an Dynamik verloren, insbesondere weil die Big Boys USA und China enttäuschten; in Russland und Brasilien herrscht sogar Rezession. Im ersten Quartal hatte sich die Zuwachsrate des globalen realen BIP auf 2,1 Prozent verlangsamt (annualisiert auf der Basis von Kaufkraftparitäten), verglichen mit einem Trendwachstum von 3,5 bis vier Prozent. Da die Outputlücke nicht mehr schrumpft, nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, dass sich die Inflation nennenswert beschleunigt. Im Gegenteil, global gehen die Inflationsraten bislang sogar noch zurück. Auf’s Jahr hochgerechnet betrug die aggregierte Rate im ersten Quartal lediglich 2,2 Prozent, wobei die USA auf -0,1, China auf +1,2 und Euroland auf -0,3 Prozent kamen.

Normal wären für ein Schwellenland wie China vier oder fünf Prozent, weil die hohen Zuwachsraten bei der Produktivität hohe Lohnsteigerungen, Kaufkraftgewinne und Preiserhöhungen zulassen, ohne dass die Wettbewerbsfähigkeit darunter leidet. Es ist ziemlich beunruhigend, dass jetzt auch in China Disinflation herrscht; offenbar gibt es Überkapazitäten. Vermutlich werden die Rohstoffmärkte daher weiter unter Druck bleiben, einschließlich der Märkte für fossile Brennstoffe – China dominiert die globale Nachfrage nach Rohstoffen.

Seit die Leitzinsen Null erreicht haben, sind die Notenbanken nicht mehr die Herren über den Inflationsprozess. „Gelddrucken“ ist nicht mehr dasselbe wie „Inflation schaffen“. Sie können durch eine Verlängerung ihrer Bilanzen („QE„) so viel Basisgeld in den Bankensektor pumpen wie sie wollen, ob daraus Geld entsteht, das für realwirtschaftliche Transaktionen verwendet wird und so die Konjunktur verbessert und die Inflationsraten erhöht, ist keineswegs mehr sicher.

Die globale Disinflation kann etwas damit zu tun haben, dass in alternden Gesellschaften das Gewicht der Sparer gegenüber den Kreditnehmern zunimmt und damit Zinsanreize eine verminderte Rolle spielen (wie es ein Ökonom des IWF herausgefunden hat), dass die Finanzpolitik spätestens seit der Finanzkrise auf Konsolidierung umgeschaltet hat und so die Nachfrage bremst, dass die Löhne, der wichtigste Kostenfaktor, wegen des immer intensiveren internationalen Wettbewerbs tendenziell unter Druck stehen, oder dass die Rohstoffpreise aufgrund von Fortschritten bei der Ressourceneffizienz und der globalen Outputlücke eher sinken als steigen.

Zentralbanken können nur hoffen, dass Prozesse, auf die sie keinen Einfluss haben, am Ende nachhaltige Inflation produzieren. Mario Draghi beansprucht daher nicht, anders als einst Alan Greenspan, der Hexenmeister zu sein, der Inflation herbei oder hinweg zaubern kann.

Insgesamt weiß ich nicht, aus welchem Grund das Preisniveau wieder kräftiger steigen könnte. Sollte es zu einer deutlichen Korrektur der Aktienmärkte kommen, dürfte vielmehr das Risiko einer weltweiten Deflation und Rezession erneut zunehmen. Überschuldete Anleger würden versuchen, durch sparsames Wirtschaften ihre Kreditwürdigkeit zu verbessern. Für die Konjunktur wäre das Gift.