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Nachtrag zu Bini Smaghi, höheren Löhnen und Kerninflation

 

In der neuen ZEIT gibt es ein sehr interessantes Interview mit Lorenzo Bini Smaghi, dem Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB). Ich halte den italienischen Volkswirt, der sich seine Sporen in Chicago verdient hat, für den spannendsten und flexibelsten im Direktorium der EZB. Auf zwei Passagen möchte ich hinweisen, die die auf HERDENTRIEB heiß geführten Debatten um „Lohnstückkosten via Abwertungswettlauf“ und „Keine Inflation, nirgends“ befruchten könnten.

ZEIT: Wie werden sich die zunehmenden Ungleichgewichte innerhalb Eurolandes, besonders beim Vergleich Deutschlands mit Italien, abbauen?
Bini Smaghi: Deutschland ist durch einen Anpassungsprozess gegangen, der seine Wettbewerbsfähigkeit kräftig verbessert hat. Das ging über Entlassungen, moderate Lohnabschlüsse, höhere Produktivität und längere Arbeitszeiten. Deutschland hat seinen Anteil an den Ausfuhren innerhalb Eurolands deutlich gesteigert. In Italien ist genau das Gegenteil passiert. Die Löhne sind zu schnell gestiegen, Italien hat an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Dafür war der private Verbrauch relativ stark, in Deutschland dagegen ist er niedriger. Deshalb muss nun in Deutschland der Konsum wieder anziehen. In Italien muss die Wettbewerbsfähigkeit über geringes Lohnwachstum wiederhergestellt werden.
ZEIT: Hat Deutschland zu viel Lohnzurückhaltung geübt?
Bini Smaghi: Deutschland kann nicht unendlich allein aufgrund seiner Exporte wachsen. Irgendwann muss der private Verbrauch anziehen.
ZEIT: Also müssen die Löhne in Deutschland steigen?
Bini Smaghi: Sie sollten jedenfalls im Einklang mit dem Produktivitätszuwachs steigen. Sehr wichtig ist, dass der deutsche Arbeitsmarkt besser funktioniert und es mehr Beschäftigung gibt.

Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen. Es ist die makroökonomisch richtige Antwort auf den notwendigen Anpassungsprozess. Wenn Deutschland weiter Lohnzurückhaltung betreibt, müssen Italiener, Spanier und Griechen demnächst mit sinkenden Löhnen ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Interessant auch, wie sehr die FAZ in Unkenntnis der makroökonomischen Zusammenhänge in Reaktion auf Bini Smaghis Äußerungen geschäumt hat.

Unter der Überschrift „Bini Smaghis Fehltritte“ kommentiert Kollege Patrick Welter: „… Nun aber lässt er Zweifel an seinen an seinen ökonomischen Qualitäten aufkommen und an seiner Befähigung, möglicherweise EZB-Chefvolkswirt zu werden. Bini Smaghi rät den Deutschen, die Löhne im Einklang mit dem Produktivitätswachstum zu steigern, damit der Konsum wieder anspränge. Offensichtlich ist ihm nicht klar, dass genau diese Lohnpolitik zu Massenarbeitslosigkeit führte und die jüngste Lohnzurückhaltung nur ein erster Schritt ist, um diese zu bekämpfen. Überraschender ist noch, dass der Italiener seinen Landsleuten gerade das Gegenteil dessen empfiehlt, was er den Deutschen rät, und zur Lohnmäßigung aufruft, um Wettbewerbsfähigkeit zu erlangen. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.“

Anscheinend weiß, oder will Welter nicht wissen, dass in einer Währungsunion die Lohnstückkosten die Funktion von Wechselkursen übernehmen, noch scheint er die aktuellen Daten zu kennen, die ganz klar für Bini Smaghis Aussagen sprechen. Hier frische Zahlen der Bundesbank zu der Entwicklung der Preislichen Wettbewerbsfähigkeit gegenüber EWU-Ländern.

Veränderung 4. Quartal 2005

 gegenüber
 4. Quartal 1998
zum langfristigen Durchschnitt seit 1975 
in Prozent in Prozent
Deutschland  -9,5 -8,7
Belgien 7,1 3,5
Frankreich -5,2 -6,3
Griechenland 8,7 16,06
Italien 9,4 13,6
Holland 5,5 -1,95
Österreich 0,5 3,45
Portugal 3,6 13,09
Spanien 13,7 13,17

Anmerkung: Ein negatives Vorzeichen bedeutet eine Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit, bzw. gemessen am langfristigen Durchschnitt, eine günstige preisliche Wettbewerbsfähigkeit.

Bini Smaghis Äußerungen zur Kernrate der Inflation stützt dagegen ganz und gar nicht meine Ansicht:

DIE ZEIT: Herr Bini Smaghi, seit sechs Jahren verfehlt die Europäische Zentralbank (EZB) ihr Ziel, die Inflation in der Eurozone unter zwei Prozent zu halten. Ärgert Sie das?
Lorenzo Bini Smaghi: Nicht wirklich. Vergleichen Sie andere Länder mit der Eurozone, und Sie sehen, wie erfolgreich wir waren. In diesem Zusammenhang dürfen Sie den Anstieg des Ölpreises nicht vergessen. Er ist seit 1999 von 10 Dollar je Barrel auf über 60 Dollar geklettert. Ohne diesen Anstieg hätte die Inflation in der Eurozone im Schnitt unter zwei Prozent gelegen. Selbst Länder wie Deutschland hatten in der Vergangenheit nur selten eine Inflationsrate unter zwei Prozent. Letzten Endes ist unsere Leistung überhaupt nicht schlecht.

ZEIT: Wäre es nicht klüger, nur auf die Kernrate der Inflation zu schauen, also die schwankungsanfälligen Energie- und Nahrungsmittelpreise herauszurechnen, so wie es die amerikanische Notenbank Fed macht?
Bini Smaghi: Es geht hier doch um den möglichen Verlust von Kaufkraft der Verbraucher. Die Kernrate der Inflation hilft nur dann, die Entwicklung der Verbraucherpreise vorherzusagen, wenn der Ölpreisanstieg vorübergehend ist. Das aber war in den vergangenen Jahren nicht der Fall.
ZEIT: Auch staatlich verordnete Preissteigerungen treiben die Inflation, zum Beispiel höhere Mehrwertsteuern, höhere Tabaksteuern oder die Einführung der Praxisgebühr. Wie muss eine Notenbank mit diesen Inflationstreibern umgehen?
Bini Smaghi: Das ist eine sehr wichtige Frage. Theoretisch sollte eine Notenbank solche Einmalmaßnahmen unberücksichtigt lassen. Aber in der Praxis kommt es Jahr für Jahr zu staatlich verordneten Preiserhöhungen. Im Durchschnitt der vergangenen Jahre gehen rund 0,4 Prozent des Inflationsanstieges in der Eurozone darauf zurück. Ich sehe das Risiko, dass die europäischen Finanzminister auch künftig versuchen, ihre nationalen Haushalte hauptsächlich durch höhere indirekte Steuern in Ordnung zu bringen. Dann aber mutiert eine Einmalmaßnahme zur permanenten Inflationssteuer. Das können wir nicht unberücksichtigt lassen. Sonst erhöht sich die Inflationserwartung und damit der Druck auf die EZB.
ZEIT: Allein die deutsche Mehrwertsteuererhöhung im kommenden Jahr treibt die Inflation im Euroraum um 0,3 bis 0,4 Prozentpunkte. Führt das zu tendenziell höheren Zinsen der EZB?
Bini Smaghi: Unsere Aufgabe ist es, die Inflation unter und nahe zwei Prozent zu halten. Die Finanzminister erhöhen die Steuern. Warum beschneiden sie keine Ausgaben?
ZEIT: Moment! Wenn die EZB wegen der deutschen Mehrwertsteuererhöhung die Zinsen erhöht, verlangsamt sich auch das Wachstum. Dann fallen die Steuereinnahmen geringer aus, und die nächste Mehrwertsteuererhöhung steht auf der Tagesordnung. Die EZB riskiert einen gefährlichen Teufelskreis.

Bini Smaghi: Noch sind wir nicht in diesem Teufelskreis. Ich hoffe ganz einfach, dass die Finanzminister vernünftig handeln, ihre Haushalte nicht länger durch höhere indirekte Steuern ausgleichen wollen und des Weiteren strukturelle Änderungen in ihren Haushalten vornehmen, um das Verbrauchervertrauen zu verbessern.

Diese Einstellung halte ich aber für problematisch. Auf der einen Seite hören die Finanzminister von den Allokationstheoretikern unablässig, dass indirekte Steuern das non plus ultra seien. Auf der anderen Seite kämpft die EZB mit höheren Zinsen gegen die Inflationseffekte dieser Steuern an. Das schwächt das Wachstum unnötig und hält die Arbeitslosigkeit hoch.

Und noch was: Die Kommentatoren von „Keine Inflation, nirgends“ scheinen sich einig zu sein, dass das Konzept der Kernrate nichts taugt. Hier zwei namhafte US-Wissenschaftler, Alan Blinder und Ricardo Reis aus Princeton zum selben Thema. Unter dem Kapitel „Core inflation and the reaction to oil shocks“ schreiben sie:

„Another Greenspan innovation, which is rarely mentioned but is like to prove durable, is the way he has focused both the fed and the financial markets on core, rather than headline, inflation. This aspect of the Federal Reserve monetary policy contrasts sharply with the concentration on headline inflation at the ECB and to the stated inflation targets of most other central banks, which are rarely core rates. And it is not an inconsequential detail. In the US today an oil shock is viewed as a “blip” to the inflation process that does not affect long term inflationary expectations and should mostly be ignored by the Fed because it will fade away of its ow naccord. This is not the way in Europe.“

Dann evaluieren die beiden, ob die Kernrate eine bessere Vorhersagbarkeit für künftige Headline (Verbraucherpreise) liefert, oder die aktuellen Verbraucherpreise die künftigen treffsicherer vorhersagen. Sie schlussfolgern nach einem statistischen Test: „Indeed, once you take core inflation into account, adding headline inflation has at best no effect on forecasting performance, and at most horizonts makes forecasts worse.“ Also: ein klarer Punktsieg für die Kernrate.
Kann es sein, dass Amerikas Wirtschaft auch deshalb in puncto Wachstum und Arbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren so viel besser abgeschnitten hat, weil drüben die Geldpolitik einfach klüger gemacht wird?