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Hass aus der Stollendose

 

Im NSU-Prozess untersucht das Gericht den ersten Anschlag der Gruppe, bei dem 2001 eine Deutsch-Iranerin verletzt wurde. Für ein politisches Motiv interessierten sich die Ermittler damals nur am Rande.

Der Knall der Explosion zerreißt die Stille, die um sieben Uhr morgens in der Kölner Probsteigasse herrscht. Die Fensterscheiben im Erdgeschoss zerbersten, messerscharfe Fetzen einer Blechdose fliegen durch den Raum. Die Dose lag in einem weißen Flechtkorb, dessen Splitter sich in die Jackenärmel von Mashia M. graben. Gesicht und Hand der 19-Jährigen verbrennen, Bruchstücke zerschlitzen ihre Haut.

Nach dem schrecklichen Ereignis am 19. Januar 2001 liegt M. über Wochen in einer Klinik für Brandopfer, muss mehrmals operiert werden. Polizisten untersuchen den Ort der Explosion – den Lebensmittelladen von M.s Vater, einem iranischen Einwanderer. Noch während das Opfer um sein Leben kämpft, wird klar, dass dort eine Bombe detoniert ist. Doch wer dafür verantwortlich ist, das kann lange Zeit niemand erklären. Bis mehr als zehn Jahre später die rechtsterroristische Gruppe NSU auffliegt und sich in einem hämischen Video zu der Tat bekennt.

Zwei Sprengstoffanschläge in Köln werden dem NSU zugeschrieben, neben dem Fall von 2001 eine Explosion in der Kölner Keupstraße im Jahr 2004, bei der 22 Menschen verletzt wurden. Am 117. Prozesstag beginnt das Münchner Oberlandesgericht mit der Untersuchung der ersten Bombentat, geladen sind drei Polizisten.

Unter den ersten Ermittlern am Tatort war der Kommissar Martin M., der in der Probsteigasse die Schäden aufnahm. Später fuhr er ins Krankenhaus, um dort Mashia M. zu vernehmen. „Sie sah schon ziemlich schlimm aus“, erinnert sich der Polizist, habe leise und langsam gesprochen. Es sei offensichtlich gewesen, dass das Opfer „nach der langen Zeit noch sehr geschockt“ war.

Experten des Landeskriminalamts bestätigten schließlich die Theorie einer Bombe. Das Kölner Polizeipräsidium rekonstruiert die Tat. Demnach kommt zwei bis drei Tage vor Weihnachten im Jahr 2000 ein Mann in den Laden, daran erinnerte sich Mashias Vater Djavad. Es handelt sich mutmaßlich um Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt. Der Kunde kommt mit dem weißen Flechtkorb, in dem eine Tüte Erdnussflips und eine Christstollendose liegen. Er nimmt eine Flasche Whiskey und eine Packung Kekse aus dem Regal. Als er bezahlen will, sagt er, er habe sein Geld zu Hause vergessen. Er wolle schnell sein Portemonnaie holen. Den Korb lässt er auf dem Tresen stehen.

Der Mann kommt nie wieder. Am Tag darauf stellt Mashias Mutter Soheila A. den Korb nach hinten – ohne zu ahnen, was darin liegt. Die Bombe ist verbaut in der roten Christstollendose mit den weißen Sternen, etwa 40 Zentimeter lang und 15 Zentimeter breit. Die Täter hatten eine Gaskartusche mit Schwarzpulver gefüllt und hineingelegt. Gezündet werden sollte der Sprengstoff mit sechs Batterien, die über eine Art Schalter mit der Kartusche verbunden waren. Der Schalter löste aus, wenn der Deckel der Stollendose geöffnet wurde.

Bis das passiert, dauert es einen Monat. Vielleicht hatten die Täter gehofft, noch in der Weihnachtszeit mit einem Anschlag Furcht zu stiften. Doch erst am 19. Januar entschließt sich Mashia M., den Inhalt des zurückgelassenen Korbs zu untersuchen. Sie hebt den Deckel der Dose an, sieht darin die Gaskartusche und schließt ihn wieder. Da zündet das Schwarzpulver.

Im Anschluss beginnt das Raten der Ermittler: Wer hatte etwas gegen den Laden, in dem morgens Schüler ihre Brötchen kauften? Welche Feinde hatte die Familie mit vier Kindern, die zehn Jahre vor dem Anschlag aus Teheran nach Deutschland gekommen war? „Wir konnten uns nicht erklären, wo das Motiv für diese Tat ist“, sagt der damalige Leiter der Ermittlungsgruppe, Edgar Mittler. Der 65-Jährige ist mittlerweile im Ruhestand.

Seine Aussage erweckt allerdings den Anschein, dass die Kölner durchaus Theorien hatten – aber keine große Lust, sie mit Nachdruck zu verfolgen. Alle Möglichkeiten einer politisch motivierten Tat ließen sie vom Staatsschutzdezernat der Polizei prüfen, das sich mit dem Verfassungsschutz in Verbindung setzen sollte. Eine Antwort von dort kam offenbar nicht. Damit gaben sich die Polizisten zufrieden. Als alle Recherchen im Sand verliefen, wurden 2006 die Asservate aus der Probsteigasse vernichtet.

Die Nebenklageanwältinnen Edith Lunnebach und Christina Clemm wollen ergründen, welche Gedanken sich Mittler und seine Leute gemacht hatten. „Der Mann war Ausländer, das hätte von rechts kommen können. In Köln sind aber auch die Linken sehr aktiv, das hätte von links kommen können“, sagt er. „Links gegen Ausländer ist für mich ein bisschen merkwürdig“, antwortet Lunnebach. Mittler entgegnet, dass schließlich die meisten Sprengstoffanschläge in Köln von Linken verübt worden seien.

Dass die Nationalität der Familie eine Rolle spielte, zogen die Ermittler jedenfalls in Betracht – auch eine „iranische Organisation“ oder das organisierte Verbrechen standen auf der Liste der Motive.

Zudem prüften sie, ob die Täter möglicherweise einen griechischen Kulturverein treffen wollten, der dieselbe Adresse wie das Geschäft hatte. „An welches Täterprofil haben Sie da gedacht?“, fragt Lunnebach noch einmal. Mittler antwortet: „Ich glaube, wir haben da gar nicht gedacht.“