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Mashia M. hat nicht verloren

 

Der erste Sprengstoffanschlag des NSU von 2001 sollte ein Fanal gegen Migranten in Deutschland sein. Doch Mashia M., das Opfer, hat sich ihr Leben zurückerobert.

Erst kam die Bombe. Dann kam der Kampf. Dann kamen die Fragen.

Die Bombe explodiert am 19. Januar 2001, als die 19-jährige Mashia M. im Lebensmittelgeschäft ihres Vaters eine Christstollendose öffnet. Ein Unbekannter hatte sie in einem Weidenkorb im Laden hinterlassen, etwa einen Monat zuvor. In der Dose ist Schwarzpulver, verbunden mit einem Zündmechanismus am Deckel. Die Explosion in der Kölner Probsteigasse verletzt Mashia M. schwer und bringt sie in Lebensgefahr.

Die Narben, die ihr geblieben sind, sind überschminkt, von Weitem kaum zu erkennen. M., gekleidet in einen cremefarbenen Hosenanzug und mit langen, braunen Haaren, nimmt mit ihrer Anwältin Edith Lunnebach am Zeugentisch des Oberlandesgerichts in München Platz. Sie ist heute 32, überlebendes Opfer des ersten Sprengstoffanschlags, der dem NSU zugeschrieben wird. Der Mann, der den Korb mit der Bombe bei ihrem nichtsahnenden Vater abgab, war mutmaßlich Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt.

Nur: Ein Opfer, wie ein Opfer zu sein hat, das will Mashia M. nicht sein. Vor Richter Manfred Götzl präsentiert sich eine selbstbewusste junge Frau, von Beruf Ärztin in Köln. Tochter einer aus dem Iran eingewanderten Familie, die sich selbst als „Muster an Integration“ bezeichnet. Eine Frau, die gerade sitzt, nicht weint, den Blicken der Verteidigung nicht ausweicht. „Mit der Verletzung muss ich leben, kann ich leben, habe ich integriert in mein Leben“, sagt sie. Sie will nicht, dass die rechte Szene den Anschlag als Triumph eines Exempels gegen Einwanderer verbucht.

Ein Knall, ein Licht, dann Dunkel

Mit größter Sachlichkeit erzählt sie von dem Tag, als sie morgens im hinteren Bereich des Ladens einen Spiegel suchte, um sich für die Schule fertigzumachen. Die Stollendose liegt im Korb, der auf einem Schreibtisch steht. Die Eltern hatten ihr verboten, dort hineinzuschauen.

Da überwältigt sie ihre Neugier. Sie öffnet die Dose, sie sieht eine blaue Kartusche. Darin ist ein gutes Kilo Schwarzpulver. Sie schließt den Deckel wieder und bückt sich nach einer Schublade. Da detoniert der Sprengsatz. „Es gab einen lauten Knall, ein helles Licht, dann wurde alles dunkel“, schildert sie den Augenblick. Sie kann ihre Augen nicht öffnen, nicht einmal um Hilfe rufen. Ihre Eltern und ihre Schwester eilen aus dem vorderen Teil des Ladens herbei. Sie zerren die Tochter auf die Straße. Der Rettungswagen kommt und bringt M. in eine Klinik für Schwerstverbrannte. Etwa fünf Prozent ihrer Hautoberfläche sind verbrannt. Die Ärzte versetzen sie für anderthalb Monate in ein künstliches Koma.

Darauf folgt der Kampf. Als sie sich das erste Mal im Spiegel sieht, „habe ich mich einfach nur erschrocken“. Sie sieht sich selbst ohne Haare, das Gesicht übersäht mit Schnittwunden, blau-grün verfärbt von den Verletzungen. Ein Vierteljahr nach dem Anschlag verlässt sie das Krankenhaus entgegen der Ratschläge der Ärzte. Zu Hause ist sie mit ihrer Hilflosigkeit konfrontiert: „Ich konnte nicht alleine essen, keine großen Strecken laufen und mich nicht waschen“, erzählt M. Das Haus will sie aus Angst ohnehin nicht verlassen. Doch sie hat viele Freunde, die vorbeikommen. Auch die Familie ist ständig bei ihr, den Lebensmittelladen geben sie auf.

Kein Anwalt, keine Akteneinsicht

Als sie sich wieder auf die Straße traut, will sie sich auch das Leben zurückerobern, das der Attentäter ihr oder einem anderen Menschen nehmen wollte: Im November desselben Jahres holt sie das Abitur nach. Ein knappes Jahr später schreibt sie sich in Aachen zum Studium der Physik und Chemie ein, im Wintersemester darauf zieht sie nach Bayern und studiert Medizin. Ärzte operieren in den folgenden Jahren die Holzsplitter aus ihrem Körper, entfernen Partikel des Schwarzpulvers aus ihrer Gesichtshaut und rekonstruieren ihre zerfetzten Trommelfelle.

Das Tempo, mit dem ihr Leben wieder Fahrt aufnimmt, ist geradezu erschreckend. Mit allem, was sie tut, setzt Mashia M. ein Signal. Mit ihrem Durchhaltewillen bietet sie den Rechten stärker die Stirn, als es den Ermittlungsbehörden möglich war.

Doch da sind die Fragen, die bis heute bleiben. Zum Beispiel, warum die Polizisten der Familie ziemlich rasch sagten, dass ein rechtsradikaler Hintergrund sicher auszuschließen sei. Einen Anwalt, der Akteneinsicht beantragte, hatten die M.s damals nicht. „Wenn ich das im Nachhinein lese, bin ich geschockt und entsetzt. Da wird ein Beschuldigter vernommen, sagt nur ‚Ich war es nicht‘ und die Sache ist erledigt.“

„Ich habe mir gedacht: Jetzt. Erst. Recht.“

Irgendwann akzeptiert M. die Theorie, dass der Angreifer nicht sie persönlich treffen wollte. Damit kann sie leben. Doch alles kommt durcheinander, als nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 das Bekennervideo publik wird, in dem die Macher sich mit dem Anschlag brüsten. „Mashia M. ist nun klar, wie ernst uns der Erhalt der deutschen Nation ist“, heißt es in dem Film. Nur an dieser Stelle wird die Stimme der Zeugin weich: „Das ist traurig. Traurig für mich. Traurig für meine Familie. Schade.“

Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler will wissen, ob sie erwogen hatte, Deutschland zu verlassen. „Wenn du mitbekommst, du wirst wegen deiner Herkunft so angegriffen, ist natürlich der erste Gedanke: Was soll ich dann noch hier?“, antwortet M. Sie und ihre drei Geschwister, die in Deutschland aufgewachsen sind und studiert haben – sollten sie aus Angst den Absichten der Rechtsextremen nachgeben? „Ich habe mir gedacht: Jetzt. Erst. Recht.“ Sie betont jedes Wort einzeln. Sie wolle ihr Leben fortführen und weiterkämpfen.

Es scheint, als werde Mashia M. den Kampf gewinnen.