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Ein Spion mit schlechtem Gewissen

 

Erstmals hat ein Zeuge im NSU-Prozess maskiert ausgesagt. Carsten Sz. war erst brutaler Schläger, dann V-Mann mit Decknamen Piatto. Angeblich spitzelte er, weil er seine Tat bereute.

Immer wieder verstecken sich Zeugen im NSU-Prozess hinter Gedächtnisproblemen, hinter vagen Formulierungen, bisweilen hinter blanken Lügen. Carsten Sz. versteckt sich unter einer dunkelbraunen Perücke, hinter einer dicken Hornbrille und einem schwarzen Gesichtstuch, das er erst abzieht, als er mit dem Rücken zum Publikum am Tisch für die Zeugen sitzt. Der 44-Jährige wird flankiert von einer Anwältin und drei Personenschützern.

Sz. hat Feinde. Er war Neonazi und spionierte unter dem Tarnnamen Piatto als V-Mann für den Brandenburger Verfassungsschutz, sieben Jahre lang. Seine früheren Kameraden stammen aus dem mittlerweile verbotenen Netzwerk Blood & Honour (B&H), einer militanten Gruppe Rechtsextremer. Seit seine Spitzeltätigkeit im Jahr 2000 enttarnt wurde, lebt er in einem Zeugenschutzprogramm.

Deshalb muss Sz. weder seinen Beruf noch seine Adresse nennen. Er soll aussagen, weil er im Jahr 1998 Informationen weitergab, die zur Festnahme des kurz zuvor geflohenen Trios aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätten führen können. Das macht ihn zu einem der Schlüsselzeugen im Münchner Verfahren – und deutet einmal mehr auf die engen Bande zwischen B&H und dem NSU.

Sz. hat beim Brandenburger Verfassungsschutz eine Karriere hingelegt, die manche Beamtenlaufbahn in den Schatten stellt. 1992 hatte er mit anderen Neonazis einen Nigerianer in einer Diskothek fast zu Tode geprügelt. Das Amt warb ihn als Spitzel an, als er zwei Jahre später in Untersuchungshaft kam. Dass er 1995 zu acht Jahren Haft wegen versuchten Mordes verurteilt wurde, machte ihn für den Geheimdienst nicht uninteressant. Im Gegenteil: Piatto standen in der Szene alle Türen offen.

Dabei will er mit dieser schon damals gebrochen haben, wie er in seiner Aussage wissen lässt: Er habe 23 Stunden am Tag in der Zelle gesessen und über sein Leben nachgedacht. „In so einer Situation wollte ich nie wieder stecken. So kam der Entschluss, dass ich sagte: Feierabend“, schildert er mit seiner scheppernden Stimme, die für seine stämmige Statur zu hoch klingt. Nur Spesen habe er für seine Arbeit in Rechnung gestellt. Die langjährige Spionagetätigkeit habe er als Wiedergutmachung für seine Tat betrieben – praktischerweise half ihm die tätige Reue, schnell wieder aus dem Knast entlassen zu werden.

Er schrieb einen Brief an den Verfassungsschutz, kurz darauf besuchte ihn ein Behördenvertreter in der Haft. Die Vereinbarung war besiegelt.

In Rekordgeschwindigkeit wurde Piatto zum Freigänger, ließ sich von seinen Quellenführern aus dem Gefängnis abholen. 1998 informierte er sie schließlich über das Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt – demnach sollte das B&H-Mitglied Jan W. den dreien eine Waffe für einen Raubüberfall beschaffen, eine andere Zeugin sollte Zschäpe ihren Personalausweis überlassen. Es waren Tipps, die die Ermittler auf die Spur des späteren NSU-Trios hätten bringen können. Doch Piattos Hinweise wurden – bewusst oder unbewusst – nicht genutzt.

Der Zeuge sagt, er habe nie ein Mitglied des NSU-Trios kennengelernt, auch keinen der fünf Angeklagten im Prozess. Hervorragend war hingegen seine Vernetzung im damals gerade gegründeten B&H-Ableger in Sachsen. „Das war das bestorganisierte Netzwerk“, erzählt Sz., entstanden zwar als Zusammenschluss von Fans rechter Musik, doch „der absolute Hardliner-Verband“. Wer dort Mitglied war, habe keinen Hehl aus seiner Einstellung gemacht.

Vielleicht ist es das Protektorat des Geheimdienstes, das es dem Zeugen möglich macht, derart offen über die Gruppe zu sprechen – ein Ehepaar, das zu den Mitgründern des Netzwerks gehörte, hatte Blood & Honour im Prozess als harmlosen, bestenfalls rechts angehauchten Musikverein verbrämt.

Die beiden halfen Sz. schließlich auch, aus der Haft freizukommen: Er fand Arbeit in dem von ihnen betriebenen Szenegeschäft. Fünf Jahre nach seiner Verurteilung wurde er deshalb auf Bewährung entlassen und begann, einen eigenen Laden für rechte Musik im brandenburgischen Königs Wusterhausen zu betreiben – wie es sich für einen geläuterten Neonazi gehört. Sz. sagt, er habe nicht wirklich etwas verkauft.

An weite Teile seiner V-Mann-Tätigkeit kann sich Piatto allerdings kaum noch erinnern – vage wie bei etlichen anderen Zeugen ist etwa seine Erinnerung an den Hinweis auf die mögliche Waffenbeschaffung. Das Thema Waffen, sagt Sz., war in der Szene „tagesaktuell“ und omnipräsent: „Jeder wollte gerne Waffen haben. Das gehörte zum guten Ton.“ An die Tipps, die er im Einzelnen an die Behörde meldete, hat er gar keine Erinnerung mehr. Auch gibt er mehrmals an, bereits ab 1991 für das Amt gearbeitet zu haben – was nicht stimmen kann.

„Das ist für mich ein komplett anderes Leben gewesen“, sagt Sz. dazu – seine Zeit als Rechtsextremer undercover, die er als abgeschlossen betrachtet. Damals beschaffte er Szenemagazine und CDs und fertigte Gedankenprotokolle, die er seinen V-Mann-Führern in die Hand drückte. Noch während der Haft stellte ihm das Amt verschiedene Handys und wechselnde Rufnummern – die er abgab, bevor er aus dem Freigang zurückkehrte.

Für den reuigen Schläger, der angeblich nur sein Gewissen reinwaschen wollte, hatte der Verfassungsschutz aber offenbar noch größere Pläne: Nach der Entlassung aus dem Gefängnis 1999 trat er in die NPD ein, „um möglichst viele Informationen zu gewinnen“. Ob das seine eigene Idee war oder vom Geheimdienst befohlen, weiß er angeblich nicht mehr: „Es lag auf der Hand.“

Die Vernehmung wird am Nachmittag unterbrochen, Carsten Sz. wird erneut geladen.

Der Sitzungstag endet mit einem erneuten Antrag der Anwälte des Mitangeklagten Ralf Wohlleben. Sie fordern, ihren Mandanten aus der Untersuchungshaft zu entlassen, in der er mittlerweile seit drei Jahren sitzt. Verteidiger Olaf Klemke moniert, die Schmuggelroute der NSU-Mordpistole Ceska 83 sei „so ungeklärt wie zuvor“. Wohlleben ist angeklagt, weil er die Beschaffung der Pistole angeordnet haben soll. Zudem kritisiert Klemke, dass das Gericht sich zunehmend in „Nebenkriegsschauplätzen“ verheddere und Zeugen aus dem Umfeld des NSU höre, die nichts zur Schuld- und Straffrage der Anklage beizutragen hätten.