Dass beim Bombenanschlag von Köln 2004 niemand ums Leben kam, war offenbar reiner Zufall. Ein Gutachten stützt die Vorwürfe gegen Beate Zschäpe.
Der Inhalt des Fahrradkoffers war nicht nur hochgefährlich, er war auch kenntnisreich konstruiert: rund fünfeinhalb Kilo Schwarzpulver in einer Campinggas-Flasche, drumherum drapiert mehr als 700 zehn Zentimeter lange Nägel. Der Zünder war an ein technisches Bauteil angeschlossen, das eine Auslösung per Fernbedienung möglich machte. Für eine Garagenbastelei war die Bombe ein High-Tech-Produkt.
Wer den Sprengsatz gebaut hatte, der hatte es auf eine maximale Wirkung abgesehen – und die bedeutete: tote Menschen, möglichst viele. Am 9. Juni 2004 detonierte der Koffer in der Kölner Keupstraße. Die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt schoben ihn auf den Gepäckträger eines Fahrrads montiert vor einen Friseursalon, in dem sich etliche Kunden aufhielten. So hat es die Bundesanwaltschaft als Ankläger im Münchner Terrorprozess rekonstruiert.
22 Menschen sind bei dem Nagelbombenanschlag verletzt worden. Für diese und die kommende Woche hat sich das Oberlandesgericht vorgenommen, sie alle zu hören. Am Donnerstag sagte zudem ein Sprengstoffsachverständiger des Bundeskriminalamts aus.
Gilt der Bombenanschlag als Mordversuch?
Die Tat ist, wie die zehn Morde, die der Terrorzelle zugeschrieben werden, Thema im Bekennervideo des NSU. Ordnet das Gericht die Hauptangeklagte Beate Zschäpe als dessen Mitglied ein, kann sie als Mittäterin beim versuchten Mord in 22 Fällen verurteilt werden – als solcher ist die Tat in der Anklageschrift aufgeführt, neben zehn vollendeten Morden und einem weiteren Bombenanschlag mit einer Verletzten in Köln.
Die Sprengkraft der Bombe war weithin sichtbar: Die Nägel schossen 150 Meter weit, sie wurden über die Häuserzeile in Gärten geschleudert. Wer ihnen im Weg stand, dem bohrten sie sich in Muskeln und Knochen. Eine Druckwelle ließ noch in weiter Entfernung Fensterscheiben zerspringen, bei den Opfern brachte sie die Trommelfelle zum Platzen.
Doch war die Bombe stark genug, Menschen zu töten? Von dieser Frage hängt ab, ob der Vorwurf des Mordversuchs haltbar ist. Um eine Antwort zu finden, beauftragte das Bundeskriminalamt den Sprengstoffgutachter Ehrenfried Ibisch mit einem aufwendigen Versuch. Auf einem Truppenübungsplatz im Norden von Bayern zündete der Experte mehrfach einen Nachbau der Bombe von Köln.
Spekulation über NSU-Helfer vor Ort
Der Sachverständige war auf der Suche nach dem sogenannten wirksamen Splitter – so heißt in der Militärsprache ein Geschoss, dass mit so viel Energie durch die Gegend fliegt, dass es einen Menschen töten kann. Um die Bombe herum ließ er Stahlbleche in drei und fünf Metern Entfernung aufstellen. Als der Sprengstoff zündete, verbogen sich die Bleche unter dem Druck, ein riesiger Rauchpilz stieg auf, die Nägel schossen durch die Stahlplatten beinahe wie durch Papier. Sie flogen mit 215 Metern pro Sekunde.
Damit war klar: Die Nägel aus der Bombe waren potenziell todbringende Geschosse. In einem Umkreis von mindestens fünf Metern war zu erwarten, dass Menschen sterben. Es müssen also glückliche Umstände gewesen sein, die vielen Umstehenden das Leben retteten – ein geparktes Auto an der richtigen Stelle, eine Säule im Raum.
Deutlich wird durch die Expertise erneut auch, wie sorgfältig die ganze Tat geplant gewesen sein muss: Sicherlich kein Zufall war, dass die mutmaßlichen Täter Mundlos und Böhnhardt sich ausgerechnet die Keupstraße als Anschlagsziel aussuchten – das Sammelbecken der türkischen Gemeinde Kölns, in der Region bekannt als orientalisch geprägte Einkaufsstraße mit Juwelieren, Bäckereien und Brautmodegeschäften. Gab es also einen Helfer vor Ort, der die beiden auf ein passendes Ziel aufmerksam machte?
Ein spätes Todesopfer?
Noch wahrscheinlicher scheint diese These angesichts des Tatorts Friseurgeschäft – mehrere Zeugen beschrieben den Salon als typischen Treffpunkt. Oft standen junge Leute vor dem Eingang und unterhielten sich. Gerade hier konnte der Fünf-Meter-Radius seine volle Wirkung entfalten, hier waren die meisten Opfer zu erwarten. Wer den Sprengsatz so platzierte, der muss die Keupstraße zuvor erschöpfend ausgekundschaftet haben.
Mit einer solchen Vorbereitung dürften die Täter den Anschlag als Misserfolg verbucht haben. Doch deutete die Aussage eines Zeugen am Nachmittag an, dass die Bombe durchaus ein Menschenleben genommen haben könnte. Der junge Mann war Mitarbeiter in einem Handyladen gegenüber vom Friseurgeschäft, mit im Laden stand ein Bekannter. Ein Anwalt der Nebenklage fragte, wie es dem Freund nach der Explosion ergangen war. Er habe die Erlebnisse nicht verkraftet, antwortete der Zeuge, schließlich habe er begonnen zu trinken. Acht Jahre nach dem Anschlag erhängte er sich.