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Der Mann mit der Fahrradbombe

 

Zeugen haben den mutmaßlichen NSU-Täter Uwe Böhnhardt vor dem Kölner Anschlag gesehen. Doch die Polizei machte Fehler bei der Beweissicherung.

Gerlinde B. musste zweimal hinschauen, so auffällig war der Mann, der ihr entgegenkam und ein Fahrrad schob. Ein fabrikneues Gefährt mit einem schwarzen Koffer auf dem Gepäckträger. Der Mann wäre ihr wohl nicht aufgefallen, wenn er das Rad nicht behandelt hätte wie ein rohes Ei: „Er hat es fast getragen“, erinnert sich die Rentnerin. Er schaute angespannt. Als sie sich passiert hatten, warf sie einen Blick zurück.

Eine Stunde später explodierte in der nahegelegenen Kölner Keupstraße ein Sprengsatz vor einem Friseurgeschäft. 700 Nägel schossen, von Schwarzpulver beschleunigt, durch die Luft. 22 Menschen wurden verletzt. Der Bombenanschlag vom 9. Juni 2004 wird dem NSU zugeschrieben. Am Tatort entdeckten Polizisten, dass die Bombe in einem schwarzen Koffer auf dem Gepäckträger eine Fahrrads gelagert war.

Der Anschlag ist am 178. Verhandlungstag erneut Thema im NSU-Prozess. Es ist ein Tag mit Zeugenvernehmungen am laufenden Band. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hat erstmals einen neuen Verteidiger neben sich sitzen – der Anwalt Florian Schulz vertritt seinen Kanzleikollegen Wolfgang Stahl, ihren festen Rechtsbeistand. Was in dieser Sitzung verhandelt wird, ist ein entscheidender Baustein der Anklage: Der Mann, den Zeugin B. gesehen hatte, war sehr wahrscheinlich Uwe Böhnhardt.

Gemeinsam mit Uwe Mundlos soll er das Rad mit der Bombe in die Keupstraße gebracht haben, zudem zwei weitere Fahrräder, auf denen beide flüchteten, nachdem Böhnhardt den Sprengsatz mit einer Fernbedienung gezündet hatte.

Gerlinde B. hat sich das Gesicht des Mannes genau eingeprägt. Vom Aussehen her ähnelte er ihrem Sohn. „Kein unansehnlicher Mann“, sagt die Rentnerin vor Gericht. Die Beschreibung, die sie bei der Polizei und vor Gericht abgegeben hat, passt zu dem NSU-Mitglied.

Hinzu kommt: Die Täter gingen mehrmals an Überwachungskameras des Fernsehsenders Viva vorbei. Ein Gutachten, das demnächst präsentiert wird, könnte Mundlos und Böhnhardt als die Männer auf dem Videoband identifizieren.

Damit ist die Indizienlage im Fall Keupstraße ungewöhnlich komfortabel für die Anklage. Beobachtungen, die zu den mutmaßlichen Terroristen passen, machten Zeugen nur bei den drei NSU-Morden in Nürnberg zwischen 2000 und 2005 und beim Dortmunder Mord 2006. In anderen Fällen, wie beim Sprengstoffattentat von 2001 in der Kölner Probsteigasse und beim Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn 2007, beschreiben Zeugen Menschen, die Mundlos und Böhnhardt nicht ähnlich sehen.

In welchen Aussagen haben sich Erinnerung und Fantasie vermischt? Welche Angaben sind präzise? Das ist häufig kaum festzustellen. Umso entscheidender ist, dass Ermittler die frischen Erinnerungen der Zeugen nach der Tat dokumentieren – doch dabei unterlief der Polizei im Fall im Keupstraße offenbar mindestens ein gravierender Fehler.

Alexander P. stand in der Halle einer Werkstatt, in der er sein Motorrad reparieren ließ. Plötzlich hörte er einen Knall, der den Boden vibrieren ließ. Als er draußen mit seiner Maschine losfahren wollte, schoss ein Fahrradfahrer auf der Straße vorbei, „wie von der Tarantel gestochen“. P. beschimpfte den Raser, der ihn fast überfahren hätte – und prägte sich das Gesicht ein. Am Abend sagte er auf dem Polizeirevier aus.

War den Polizisten klar, dass hier jemand den mutmaßlichen Täter gesehen hatte? In der Folgezeit häuften sich bei den Ermittlern die Indizien. Und schon am nächsten Tag erschienen Standbilder aus den Viva-Kameras in den Kölner Zeitungen. Alexander P. kamen die Fotos bekannt vor – er war sich sicher, den Radfahrer wiedererkannt zu haben und stellte sich darauf ein, erneut aussagen zu müssen. Doch die Polizei meldete sich nicht mehr bei ihm.

Unerklärlich scheint, warum die Ermittler das Material nicht systematisch allen Zeugen vorlegten, sie fragten, ob sie Gesichter oder Statur der Fahrradfahrer identifizieren konnten. In den zehn Jahren seit dem Anschlag erschienen die Bilder immer wieder in Zeitung und Fernsehen, sie liefen praktisch in Dauerschleife, nachdem der NSU im November 2011 aufgeflogen war. Solch mediale Berieselung ist wie geschaffen dafür, Zeugen Erinnerungen einzuimpfen, die sie eigentlich nie hatten.

Welchen Wert haben vor diesem Hintergrund Aussagen von Augenzeugen? Zschäpes Verteidiger könnten genau dieses Argument nutzen, um die Vernehmung im Nachhinein anzugreifen – wenn das Gericht sich daran macht, die Beweise zu bewerten.