Hat ein hessischer Verfassungsschützer vom Kasseler NSU-Mord gewusst und wurde er von der Behörde gedeckt? Anwälte fordern eine Untersuchung. Doch die Bundesanwaltschaft sträubt sich.
Die Sensation war so perfekt, dass sie nur noch Makel bekommen konnte: In Hessen hatte ein Schweigekartell aus Politik und Ämtern Informationen über einen rassistischen Mord zurückgehalten. Der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier steckte in dem Sumpf mit drin, genauso wie das ihm unterstellte Landesamt für Verfassungsschutz. Und natürlich dessen Mitarbeiter Andreas T., der von Plänen wusste, den Deutschtürken Halit Yozgat am 6. April 2006 in seinem Kasseler Internetcafé zu erschießen.
So lautet die Version, die die Anwälte der Hinterbliebenen von Yozgat aus mehreren Telefonmitschnitten der Polizei destillierten. Demnach war T. nicht nur zufällig anwesend, als der 21-Jährige mutmaßlich von den NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in einem Internetcafé niedergeschossen wurde. Noch unglaubwürdiger als schon zuvor wirkte T.s Beteuern, er habe die Schüsse nicht gehört und den blutenden Yozgat nicht hinter seinem Tresen liegen sehen. Die hessische Politik habe dann schließlich dafür gesorgt, dass T.s Wissen bei den Ermittlungen der Mordkommission nicht aufflog.
Anwälte organisieren mediales Vorspiel
Deshalb fordern die Opferanwälte Doris Dierbach, Thomas Bliwier, Alexander Kienzle und Bilsat Top nun, Ministerpräsident Bouffier in den Münchner NSU-Prozess zu laden; außerdem den früheren bayerischen Innenminister Günther Beckstein, der Bouffier damals zu mehr Offenheit gegenüber den Ermittlern riet. Am Donnerstag, gegen Ende des letzten Verhandlungstags dieser Woche, trugen die Juristen insgesamt fünf Anträge vor. Sie enthalten auch die Forderung, die bislang unter Verschluss gehaltenen Mitschnitte abzuspielen – darauf findet sich etwa der mysteriöse Ratschlag eines Geheimdschutzbeauftragten der Behörde an T.: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“
Bevor die Anträge offiziell an das Gericht gestellt wurden, hatten die Anwälte ein mediales Vorspiel organisiert: Nach einem Zeitungsbericht schien es wie eine unumstößliche Tatsache, dass der Verfassungsschutz in den neunten Mord der NSU-Serie eingeweiht war – und Bouffiers Ladung vor Gericht praktisch ausgemacht.
Doch dass es dazu kommt, scheint nun eher unwahrscheinlich. Denn alle Beteiligten am Prozess haben das Recht, Stellungnahmen zu einem Antrag abzugeben. Dazu gehören auch die Mitarbeiter des Generalbundesanwalts, die die Anklage vertreten.
Die Staatsanwaltschaft tobt
Und deren Reaktion auf das Ansinnen der Anwälte war ungewöhnlich drastisch: Die Karlsruher Beamten ließen kein gutes Haar an den Schriftstücken. „Die Beweise werden zusammengesucht und im gewünschten Licht bewertet – nicht, ohne die Medien vorher ausführlichst zu informieren“, schimpfte Bundesanwalt Herbert Diemer. Die Opfervertreter hätten sich somit nur das zusammengesucht, was in ein verschwörerisches Bild des Mordes passte.
Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten trug im Anschluss eine ausführliche Begründung vor. Demnach seien die Beweismittel, also die Aufzeichnungen der Telefonate, „völlig ungeeignet“, zur Aufklärung des Mordes etwas beizutragen. Sie enthielten außerdem ganz andere Informationen. So bittet der Geheimschutzbeauftragte T. in einem Gespräch darum, bei der Polizei die Wahrheit zu sagen. Dieser stimmt auch zu. In der Tat ist im größten Teil der Protokolle keine Rede von Vertuschung. „Wertungsgetränkt“ sei die Interpretation des Gesprächs, sagt Weingarten. Es belege „das genaue Gegenteil der behaupteten Beweistatsache“.
Die Chancen auf einen Auftritt Bouffiers vor Gericht stehen damit schlecht, und auch die Tonbänder werden wohl weiter im Geheimen lagern. In der Vergangenheit ist der Strafsenat unter Leitung von Richter Manfred Götzl meist den Forderungen der Bundesanwaltschaft gefolgt – auch in einem Fall, als Nebenkläger beantragt hatten, fehlende Ermittlungsakten über Verfassungsschützer T. nach München zu schaffen.
Einen gewichtigen Anteil daran, die Durchleuchtung von T.s Verstrickungen zu verlangsamen, hatte somit die Bundesanwaltschaft selbst.
Zeugin nennt Ralf Wohlleben „Leitperson“
Vor dem Disput hatten am Donnerstag noch zwei Zeugen ausgesagt. Christina H. ist eine Freundin des Mitangeklagten Carsten S.. S. soll dem NSU-Trio die Pistole überbracht haben, mit der neun Menschen erschossen wurden. H. war kurz nach der Jahrtausendwende gemeinsam mit S. aus der Szene ausgestiegen, sie selbst war nach eigenen Angaben bereits mit zwölf Jahren hineingeraten. Nach ihrem Eindruck waren der ebenfalls Angeklagte Ralf Wohlleben und der Zeuge André K. die „Leitpersonen“ der Szene, sie hätten S. zu Treffen geschickt und das Geschehen bestimmt. Zudem habe sie Gespräche über das untergetauchte NSU-Trio mitbekommen – diese galten unter Gesinnungsgenossen demnach als „Märtyrer“.
Zweiter Zeuge war Achim F., der Bruder von Gunter F., der am Vortag ausgesagt hatte. Er bestätigte, dass die beiden Geschwister 1998 durch Kontakte eine Wohnung für die gerade untergetauchten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt beschafft hatten. Zudem überließ Gunter F. Uwe Böhnhardt seinen Personalausweis. Auch besaß das Trio einen Zettel mit detaillierten persönlichen Daten über Gunter F. Wie die mutmaßlichen Terroristen an das Dokument gelangt waren, konnte sich Achim F. – wie sein Bruder – nicht erklären.