Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Der ungehörte Zeuge

 

Mit Informationen des V-Manns „Tarif“ hätte sich womöglich die NSU-Serie verhindern lassen. Seine Akte wurde geschreddert. Nun verzichtet das Gericht auf die Möglichkeit, den Mann selbst zu befragen.

Er hat Deutschland hinter sich gelassen, endgültig, wie er sagt. In Schweden, da hatte Michael von Dolsperg alles gefunden, was man für ein Leben als Selbstversorger aus Überzeugung braucht: Natur. Ruhe. Ein kleines Gehöft im Nirgendwo. Doch das stellte er zum Verkauf – weil ihn die deutsche Vergangenheit doch noch eingeholt hatte.

Dolsperg, ein 41-jähriger gebürtiger Thüringer, hat seine früheren Kameraden aus der rechten Szene verraten. Von 1994 bis 2001 war er Spitzel für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), sein Tarnname lautete „Tarif“. Er verkehrte nicht nur mit Anführern der Rechtsextremen, sondern erhielt aus ihren Kreisen auch eine wichtige Information betreffend dreier geflohener Neonazis namens Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Auf Grundlage der Meldung hätte das Trio eventuell gefasst werden können – bevor es unter der Firmierung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zehn Morde an eingewanderten Kleinunternehmern und einer deutschen Polizistin beging.

Am 11. November 2011, eine Woche nach dem Auffliegen des NSU, ließ ein Abteilungsleiter Dolspergs Akte mit 171 Meldungen schreddern. Zwar existiert eine ungenannte Anzahl von Kopien seiner Berichte – doch diese sind bislang beim Verfassungsschutz unter Verschluss.

Der Mann ist also eine brisante Figur – deshalb hatten mehrere Anwälte der Nebenklage im Münchner NSU-Prozess beantragt, Dolsperg als Zeugen zu laden. Nun, am ersten Tag nach der Weihnachtspause im Verfahren, lehnte Richter Manfred Götzl das Ansinnen ab: Von ihm sei „eine weiterführende und bessere Aufklärung nicht zu erwarten.“ Zudem verschob Götzl die Fortsetzung der Aussage von Zschäpe auf die kommende Woche – bei der Hauptangeklagten besteht offenbar noch Beratungsbedarf. Am nächsten Dienstag soll sie Fragen des Gerichts beantworten.

Bereitwillig ausgesagt hätte wohl auch Dolsperg, wenn man ihn gelassen hätte. Seit seine Tätigkeit als V-Mann im Jahr 2012 aufgeflogen war, erhielt er Drohanrufe. Seine damalige Frau wurde im Portugalurlaub von Männern überfallen, die versuchten, in ihr Wohnmobil einzudringen. Dolsperg sagt, sowohl die rechte als auch die linke Szene würden auf Rache sinnen. Seine Verteidigungsstrategie lautet seitdem auf konsequente Offenheit: Der frühere Neonazi ließ einen Reporter auf sein Gehöft, zudem arbeitet er an einem Buch über seine Geschichte.

66.000 Mark Spitzellohn erhielt „Tarif“ nach einer Recherche des Spiegels für seine Dienste, er war damit ein gut bezahlter V-Mann. Verwunderlich nur, dass die Verfassungsschützer seine wohl wichtigste Mitteilung faktisch ignorierten.

Es gebe da diese drei, die würden „gesucht wegen Sprengstoffgeschichten“

Im Frühjahr 1998 erhielt Dolsperg, im Geiste damals nach eigenen Angaben bereits ausgestiegen und seit vier Jahren Spitzel, einen Anruf. Es war der Thüringer Neonazi André K., der selbst als Zeuge im Prozess ausgesagt hatte. Es gebe da diese drei, sagte K., die würden „gesucht wegen Sprengstoffgeschichten“. Ob er nicht einen Platz für sie wüsste. „Und es musste schnell gehen“, erinnerte sich Dolsperg bei einer Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft im März 2014. Für die war er eigens nach Karlsruhe gereist.

Nach dem Telefonat rief der Informant sofort bei „Alex“ an – seinem Kontaktbeamten, dem er in regelmäßigen Abständen die Neuigkeiten aus rechten Kreisen diktierte. Der wusste sofort, um wen es ging. Doch er blieb reserviert. Versprach zurückzurufen. Und erteilte schließlich die Order, nichts weiter zu unternehmen und den dreien keinen Schlafplatz anzubieten.

Der spätere NSU fand andernorts einen Unterschlupf und baute sich unbehelligt ein Leben im Untergrund auf – bis er für die Ermittlungsbehörden völlig unerreichbar geworden war. Dolsperg jedenfalls ließ die Ermittler der Bundesanwaltschaft seine Überzeugung wissen: „Hätte das BfV damals auf meinen Bericht über die (…) Anfrage richtig reagiert, dann gäbe es heute zwölf Tote weniger“, wobei er Mundlos und Böhnhardt mitzählte, die sich am 4. November 2011 in einem Wohnmobil erschossen hatten.

Die Beamten, die ihn 2014 befragten, deuteten an, dass sie seine Entscheidung, über diese Geschehnisse mit der Presse zu reden, für kontraproduktiv hielten. Dolsperg gab zurück, die Verfassungsschützer hätten ihm das Gleiche vorgeworfen – er habe geantwortet: „Weil ihr euch wie Arschlöcher verhalten habt.“ Denn durch eine undichte Stelle war nicht nur seine Spitzeltätigkeit bekannt geworden, das Amt verweigerte ihm auch eine Tarnidentität, mit der er sich vor Racheakten schützen wollte. Als loyaler V-Mann fühlte er verprellt – „ich habe mich an alle Regeln gehalten, und dann lässt mich der Staat im Regen stehen“, sagte er.

Als Rache will er seine Aktionen dennoch nicht verstanden wissen. Es gebe einfach Informationen, die raus müssten, sagte er – in Bezug auf die staatliche Arbeit gegen Rechtsextremismus wohl eine berechtigte Meinung. Im NSU-Prozess ist dafür jedoch offensichtlich kein Platz.