Im NSU-Verfahren haben die Plädoyers der Opfervertreter begonnen. Für die Anwälte dienen sie vor allem als Bühne, um mit Ermittlern und Bundesanwaltschaft abzurechnen.
Seit zwei Monaten ist der NSU-Prozess wie ein Wecker, bei dem man immer wieder auf die Schlummertaste drückt. Nachdem die Bundesanwaltschaft harte Strafen für die fünf Angeklagten gefordert hatte, sollten auch die Angehörigen der Terroropfer, die Nebenkläger, eigene Plädoyers in dem Verfahren halten.
Der Angeklagte André E. und seine Verteidiger verhinderten das zuverlässig. Immer wieder forderten sie, die fünf Richter wegen Befangenheit abzusetzen. Als andere Richter des Münchner Oberlandesgerichts diese Anträge ablehnten, folgte der nächste Befangenheitsantrag, die nächste Unterbrechung. Ein Spiel, das sich theoretisch endlos wiederholen lässt.
Doch jetzt hat der Wecker geklingelt. Die Plädoyers haben begonnen. Nur: Von den Angehörigen und den Verletzten der Bombenanschläge ist niemand im Gerichtssaal. Warum auch, nach der zermürbenden Serie juristischer Scharmützel.
17 Jahre nach dem ersten Mord und viereinhalb Jahre nach Prozessbeginn hat sich viel Frust aufgestaut, bei den Nebenklägern wie bei ihren Anwälten. Das zeigt sich bereits im ersten der geplanten 55 Vorträge.
Die Kölner Anwältin Edith Lunnebach tritt an ein Holzpult, das in der Mitte des Saals aufgebaut ist. Und schon nach kurzer Zeit wird klar, was in den kommenden Wochen, sicher bis ins neue Jahr hinein, zu hören sein wird: eine politische Abrechnung mit den Ermittlern und dem Staat. Lunnebach spricht von der „leichtfertigen Borniertheit“ der Ermittler, die rechtsextreme Motive ausgeblendet und den Opfern die Schuld gegeben hätten. „Kann ernsthaft jemand diese Anzahl von Fehlleistungen als zufallsbedingt ansehen?“, raunt sie, ohne den Gedanken weiter auszuführen.
Lunnebach ist die Anwältin von Mashia M., die als 2001 als 19-Jährige Opfer des ersten NSU-Bombenanschlags wurde. Laut Anklage fuhren Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Dezember 2000 nach Köln, um im Lebensmittelgeschäft einer deutsch-iranischen Familie eine Bombe zu platzieren. Der Sprengsatz explodierte im Januar 2001 und verletzte Mashia M. lebensgefährlich.
Anwältin beschuldigt Verfassungsschutz
Von der Tat an sich, von der Schuld, die die Hauptangeklagte Beate Zschäpe trifft, spricht Lunnebach nur am Rande – bis auf einen gewichtigen Punkt: Sie ist überzeugt, dass nicht Mundlos oder Böhnhardt die Bombe in das Geschäft brachten, sondern ein Kölner Neonazi, der auch als V-Mann für den Verfassungsschutz tätig war. Als Indiz führt sie an, dass die Familie des Opfers einen Überbringer beschrieben hatte, der den beiden NSU-Mitgliedern überhaupt nicht ähnlich sah. Beweise, räumt sie ein, gebe es dafür nicht.
Und dafür gebe es auch einen Grund: Der Verfassungsschutz halte „seine schützende Hand“ über den Mann. Ihre Argumentation mündet in die Forderung, das V-Mann-Wesen gänzlich abzuschaffen. Eine konkrete Strafe für Zschäpe und die anderen Angeklagten fordert Lunnebach nicht.
Das ist durchaus konsequent. Noch vor Beginn des Verfahrens 2013 hatten die Nebenklageanwälte unisono betont, dass es ihnen um Aufklärung gehe, nicht um eine harte Strafe. Welche Art von Aufklärung in einen Strafprozess gehört und welche in einen Untersuchungsausschuss, war in den bald 400 Verhandlungstagen immer wieder ein Streitthema. Dass der NSU-Prozess aber als politisches Forum dient, hatte nie jemand bejaht.
Nun passiert genau das. Die Äußerungen sind Ausweis eines Gefühls tiefer Ungerechtigkeit und der – berechtigten – Angst, dass nie alle Hintergründe des NSU-Komplexes aufgeklärt werden. Auch, weil die Bundesanwaltschaft viele Ermittlungsanträge der Opfervertreter barsch abgelehnt hatte. Wenn die Anwälte schon nicht recht bekommen haben, dann wollen sie doch zumindest Gehör.
Auf Lunnebach folgt Mehmet Daimagüler. Der ehemalige FDP-Politiker hat für seinen Vortrag vier Stunden veranschlagt. Ob das reichen wird, ist unsicher. Daimagüler vertritt insgesamt fünf Angehörige der Nürnberger Mordopfer İsmail Yaşar und Abdurrahim Özüdoğru.
Wie Lunnebach stört sich Daimagüler an einer Formulierung, die Bundesanwalt Herbert Diemer zu Beginn des Anklageplädoyers gebraucht hatte: Alle Vermutungen über Helfer vor Ort und über besondere Methoden bei der Auswahl der Opfer seien „Fliegengesumme“, sagte Diemer damals. „Ich hätte mir gewünscht, dass sie diesen Menschen mit Respekt und nicht mit Hochmut begegnen“, sagt der Anwalt. Es ist der Auftakt eines mehrstündigen Levitenlesens für die Bundesanwaltschaft.
Kritik an Bundesanwaltschaft
Daimagüler kritisiert, dass die Bundesanwaltschaft nach wie vor nur Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt für die Mitglieder des NSU hält. Bundesanwalt Diemer wirft er vor, Hinweise wegzuwischen. Dass die Anklagebehörde noch neun Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Helfer des NSU führt, erwähnt er nicht. Dennoch stellt er eine Frage, die sich die Bundesanwaltschaft in der Tat selbst stellen sollte: „Haben Sie wirklich alles getan?“ Darauf eine Antwort zu finden wäre sicherlich sinnvoller, als die Bemühungen der Nebenklage verächtlich zu machen.
Daimagüler allerdings spannt den Bogen weiter, er schließt vom NSU-Komplex auf die ganz großen Fragen: „Der Staat nimmt in Kauf, dass sein moralisches Fundament Risse bekommt und schließlich ganz in sich zusammenbricht.“ An den Ermittlungen liest er „das ungeheuerliche Versagen dieses Staates ab.“ Und für die angeblich zu sparsamen Ermittlungen der Bundesanwaltschaft findet er auch einen Grund: „Das Ziel ist Staatsräson. Das Ansehen Deutschlands soll in der Welt keine Kratzer bekommen.“
Politische Kräfte im Hintergrund und eine ferngesteuerte Anklage – das Bild, das Daimagüler zeichnet, ist schaurig und unbewiesen. Kommt die immer wieder geforderte Aufklärung voran, wenn die Anwälte der Nebenklage Spekulationen als Tatsachen darstellen?
Beate Zschäpes Verteidiger Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl fordern schließlich, Daimagüler solle sich an den Prozessstoff halten. Schützenhilfe bekommt der Opfervertreter in der anschließenden Diskussion ausgerechnet vom gescholtenen Bundesanwalt Herbert Diemer. Seinen Vortrag setzt er am Donnerstag fort.