Im NSU-Prozess werfen die Vertreter der Opfer den Ermittlern Vertuschungen und Fehler vor. Ihre Botschaft ist eine Mahnung: Die Rolle des Staats im NSU-Komplex ist noch lange nicht aufgeklärt.
Gut eine Stunde läuft der Prozesstag im Münchner Oberlandesgericht, dann hält es Wolfgang Heer nicht mehr aus. Der Verteidiger von Beate Zschäpe drückt einen Knopf auf dem Tisch vor ihm und reißt das Mikrofon vor seinen Mund, um sich zu beschweren: „Es geht hier nicht um eine Anklage gegen die Bundesrepublik Deutschland!“, sagt er.
Heer will die Anwältin Antonia von der Behrens in ihre Schranken weisen. Sie spricht bereits seit vergangener Woche über Heimlichtuerei beim Verfassungsschutz und falsche Methoden bei den Ermittlungen – über Dinge also, von denen im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex unbedingt geredet werden muss. Aber nicht in einem Strafprozess, meint Heer.
Seit gut zwei Wochen halten die Anwälte der Nebenklage, zu denen auch von der Behrens gehört, ihre Plädoyers, nachdem die Bundesanwaltschaft lebenslange Haft für Zschäpe und weitere hohe Strafen für die anderen vier Angeklagten gefordert hatte. Immer wieder unterbricht die Verteidigung, doch Richter Manfred Götzl lässt die Anwälte fortfahren. Sie vertreten die Hinterbliebenen der NSU-Mordopfer und die Verletzten der Anschläge.
95 Nebenkläger nehmen an dem Verfahren teil, vertreten werden sie von 60 Anwälten. Weil sich nur die wenigsten Angehörigen selbst äußern, sind die Anwälte so etwas wie eine Stimme der Opfer. Vor allem aber treten sie als Korrektiv auf. Ihre Mission: zu verhindern, dass die Verantwortung des Staats im NSU-Komplex hinter der Schuld der Angeklagten verblasst.
Darum sind ihre Plädoyers, die noch bis weit in den Januar hinein dauern dürften, ein Kampf. Der richtet sich vor allem gegen eine These, die nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 von der Bundesanwaltschaft als Tatsache behandelt wurde und im Zentrum aller Ermittlungen stand. Sie besagt: Die Terrorgruppe habe aus nur drei Menschen bestanden – Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt.
Wie groß war der NSU?
Als gesichert darf gelten, dass die drei Nukleus aller Straftaten waren. Sie lebten zusammen im Geheimen. Mundlos und Böhnhardt wagten sich wiederholt aus der Deckung, um zu morden, Bomben zu zünden und Banken auszurauben. Ebenso gesichert ist, dass Kameraden aus der rechten Szene mindestens als Unterstützer tätig waren. Sie halfen mit Geld, Ausweisen oder Wohnungen.
Was also war der NSU wirklich? Eine Dreierzelle mit Anhang oder eine große Terrororganisation mit komplexer Arbeitsteilung?
Plädoyer für Plädoyer zeichnen die Nebenklageanwälte ein Bild, das in dieser Form eher selten Thema der öffentlichen Diskussion war: Demnach ist der NSU eine Fortentwicklung des Thüringer Heimatschutzes (THS) – einem rechtsradikalen Netzwerk, das in den 1990er-Jahren in Thüringen zum Sammelbecken der Szene wurde. Im Laufe des NSU-Prozesses ist deutlich geworden, wie sich Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt während ihrer Mitgliedschaft im THS radikalisierten. Der Nebenklageanwalt Peer Stolle legte dar, dass bei den Stammtischen der Organisation auch über den bewaffneten Kampf debattiert wurde.
Kopf der Vereinigung war der Neonazi und V-Mann Tino Brandt. Er muss in Sachen NSU keine juristischen Konsequenzen befürchten. Auch der Zeuge André K., ein bekannter Rechtsextremer aus Jena, war Teil der Gruppe. Gegen ihn läuft kein Ermittlungsverfahren. Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben mischte ebenfalls im THS mit. Er steht jedoch nicht wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vor Gericht, sondern wegen Beihilfe zum Mord.
Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass der NSU erst Ende der 1990er-Jahre entstand, als Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt in den Untergrund gingen. Doch wenn man den THS als Vorläufer betrachtet und annimmt, dass der NSU in diesem Umfeld schon Mitte der 1990er-Jahr gegründet wurde, dann kommen plötzlich viele mögliche Mittäter in Frage. Aus einem unscharfen Kreis von Unterstützern würden potenzielle Mitglieder der Terrorgruppe.
Auf der Anklagebank sitzen aber nur fünf Menschen. Neun Ermittlungsverfahren führt die Bundesanwaltschaft wegen minder schwerer Delikte. Die Folge eines extremen Tunnelblicks?
Missachtung der Angehörigen und Opfer
Folgt man den Plädoyers der Anwälte der Nebenklage, so legte die Anklagebehörde nicht nur ein falsches Ermittlungsergebnis vor, sondern arbeitete von Anfang an so, dass nichts anderes als die These einer Dreiergruppe herauskommen konnte. Anwältin von der Behrens etwa wies darauf hin, dass schon kurz nach dem Auffliegen des NSU eine Ermittlungsgruppe beim Bundeskriminalamt gegründet und mit dem Namen „Trio“ versehen wurde – womit das Ergebnis von Anfang an festgestanden habe. Gleichzeitig sollte der Beitrag des Verfassungsschutzes und seiner V-Männer „aus dem Verfahren herausgehalten werden“, sagte von der Behrens.
Bundesanwalt Herbert Diemer kanzelte die Behauptungen der Opfervertreter noch vor Beginn ihrer Plädoyers vorsorglich als „Fliegengesumme“ und „Irrlichter“ ab. Angesichts der feingliedrigen Argumentationskette der Anwälte ist das eine grobe Beleidigung ihrer Arbeit.
Es beleidigt auch die Angehörigen der Mordopfer. Die nämlich hatten schon vor der Aufdeckung des NSU erfahren, wie es ist, nicht ernst genommen zu werden. Ein Mann, der beim Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße von 2004 verletzt wurde, hielt selbst ein Plädoyer. Er erzählte, wie er einen Polizisten bei einer Vernehmung auf Neonazis als mögliche Täter hingewiesen habe. Der habe den Finger auf die Lippen gelegt und „Pssst“ gemacht. Von ähnlichen Erlebnissen berichten fast alle Opfer und Hinterbliebenen.
Das ist die Tragik des Falls NSU: dass sich dasselbe Denken, dieselben Muster durch die Ermittlungen vor und nach dem Auffliegen der Gruppe ziehen. Dass die Sicherheitsbehörden den Opfern nicht einmal den Gefallen getan haben, an ihren Fehlern zu wachsen.
Weil diese Fehler eben keine Versehen waren, sondern bewusste Akte von Staatsräson, wie die Nebenklageanwälte immer wieder betonen? Fragen wie diese müssen aufgearbeitet werden, meinen die Opfervertreter. Auch Antonia von der Behrens, die ihr Plädoyer mit den Worten schließt: „Die Forderung nach Aufklärung darf mit dem Ende dieses Verfahrens nicht verstummen.“