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Rüttgers, der Tiger und die Folgen

Man vergisst das so schnell: Erst zwei Jahre ist es her, da wurde in NRW ein Wahlkampf geführt, gegen den der diesjährige ein Kindergeburtstag ist. Jürgen Rüttgers war damals noch Ministerpräsident einer schwarz-gelben Regierung und möglicherweise wäre er das auch geblieben, hätte er sich nicht in allerlei unschöne Affären verstrickt. Beispielsweise wurden Interessierten Gespräche mit dem CDU-Mann angeboten – gegen Geld. Dass dieser „Rent a Rüttgers“-Skandal und andere ans Licht kamen (und dort blieben), dafür sorgte damals unter anderem das Weblog Wir in NRW. Die Autoren dort schrieben fast durchweg unter Pseudonymen, und sie hatten exzellente Quellen: Immer wieder gelangten „Gabriele Gans“, „Leo Loewe“ oder „Theobald Tiger“ an brisante interne CDU-Dokumente – und stellten sie flugs ins Blog.

Wir in NRW, das für seine kritische Berichterstattung mit dem Otto-Brenner-Preis () ausgezeichnet wurde, gibt es noch immer. Im aktuellen Wahlkampf spielte es bislang indes keine Rolle. Nun aber ist das Projekt plötzlich wieder im Gespräch, denn der Stern berichtet, dass einer der Autoren, „Theobald Tiger“, nach der Wahl 2010 von der rot-grünen Minderheitsregierung „lukrative PR-Aufträge“ erhalten hätte. Wurde der Tiger für seine Rüttgers-kritische Berichterstattung also nachträglich belohnt?

Fakt ist: Der Mensch hinter dem Pseudonym „Theobald Tiger“ hat nach der Wahl 2010 eine PR-Firma namens steinkuehler-com gegründet, sich um Aufträge bei der NRW-Landesregierung beworben – und auch welche bekommen. Die Folge: Der Frontmann des „Wir in NRW“-Blogs, Alfons Pieper, und der Tiger trennten sich. Pieper sagt im Gespräch mit ZEIT ONLINE: PR und ein journalistisches Blog passen nicht zusammen. Also verstummte der Tiger, auf Wir in NRW erschienen seit Ende 2010 keine Texte mehr von ihm.

Die stern-Geschichte hält Pieper denn auch für „lächerlich“. Das Blog habe nie von irgendwem Geld bekommen, man sei nicht käuflich. Den Vorwurf, dass der Tiger für seine kritische Rüttgers-Berichterstattung nachträglich von der Kraft-Regierung belohnt worden sei, hält er für eine böse Kampagne. So einfach kriege man keine Aufträge von der Landesregierung, da seien doch Dutzende Stellen beteiligt.

Auch die Regierung selbst hat inzwischen auf den Stern-Bericht reagiert. Staatssekretär Thomas Breustedt, bestätigte Aufträge an steinkuehler-com, dementierte aber parteipolitische Motive. Demnach sind an den Inhaber von steinkuehler-com – den Tiger, also – seit 2010 Aufträge für Broschüren und andere Öffentlichkeitsinitiativen des Familienministeriums im Gesamtwert von rund 300.000 Euro erteilt worden. „Für alle Publikationen hat es ordnungsgemäße Vergabeverfahren beziehungsweise öffentliche Aufträge gegeben“, sagt Breustedt.

Ein Geschmäckle hat die Sache dennoch: Das Blog bezeichnet sich zwar stets als neutral, dennoch ging und geht es mit Rot-Grün deutlich netter um als mit Schwarz-Gelb. Pieper sagt dazu: Damals, im 2010er-Wahlkampf sei man eben fortlaufend von CDU-Insidern mit neuen Dokumenten gefüttert worden. Ein solcher Maulwurf fehlt offenbar in der SPD. Was er zutage fördern würde? Wir wissen es nicht. Ob sich aber Hannelore Kraft vermieten lassen würde, darf bezweifelt werden.

 

Das rot-grüne Koalitionsabkommen in NRW: wirklich ein Angebot nur an die Linke?

Die Bildung der rot-grünen Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen hat in den letzten Tagen die Debatte entfacht, ob solche Bündnisse künftige Optionen für die Bundesebene darstellen. Die Diskussion darüber basiert auch auf der Beobachtung, dass Minderheitsregierungen im internationalen Vergleich durchaus erfolgreiche Modelle darstellen, die in ihrer Stabilität solchen Koalitionsregierungen, die sich auf eine Mehrheit im Parlament stützen können, in nichts nach stehen. Auch die Minderheitsregierungen, die bereits auf Ebene der deutschen Bundesländer wie etwa in Sachsen-Anhalt von 1994 bis 2002 bestanden, wurden nicht vorzeitig durch Koalitionen abgelöst, die über eine Mehrheit im entsprechenden Landtag verfügt hätten.

Minderheitsregierungen benötigen aber nichtsdestotrotz die Unterstützung von Abgeordneten der Opposition, so dass die inhaltlichen Vorschläge der Regierung von einer Mehrheit im Parlament verabschiedet werden können. Um dieses Ziel zu erlangen kann eine Minderheitsregierung sich entweder von Gesetzesinitiative zu Gesetzesinitiative wechselnde Partner im Parlament suchen, die das jeweilige Vorhaben unterstützen. Oder die entsprechende Minderheitsregierung konzentriert sich auf eine bestimmte Oppositionspartei und vereinbart eine fixe Unterstützung für die gesamte Legislaturperiode.

Die neu gewählte nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) scheint die erstgenannte Strategie vorzuziehen und nicht nur auf die Stimmen der Linken, sondern auch auf partielle Unterstützung von CDU und FDP im Landtag von NRW zu setzen. Ist diese Hoffnung von Frau Kraft begründet? Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, liegt in der Analyse der im Koalitionsabkommen von Rot-Grün festgelegten inhaltlichen Ziele, die in der kommenden Legislaturperiode umgesetzt werden sollen. Mit Hilfe inhaltsanalytischer Verfahren lassen sich die Positionen der Parteien in Nordrhein-Westfalen auf Grundlage der Wahlprogramme sowie der Landesregierung auf Basis des Koalitionsabkommens für die Politikbereiche Wirtschaft und Soziales einerseits sowie Gesellschaft andererseits bestimmen. Die folgende Abbildung zeigt die Positionen der nordrhein-westfälischen Parteien zur Wahl 2010 sowie der Landesregierungen 2005 und 2010 (die Balken um die ermittelten Positionen geben den statistischen Schwankungsbereich an).

Es wird zum einen deutlich, dass sich – wie erwartet – die in den Koalitionsabkommen von Schwarz-Gelb und Rot-Grün formulierten Politikziele deutlich unterscheiden: so umfasste das Koalitionsabkommen von CDU und FDP aus dem Jahr 2005 wirtschaftsliberalere und gesellschaftspolitisch konservativere Positionen als das Regierungsprogramm von SPD und Bündnisgrünen vom Juli 2010. Dieser von Rot-Grün beabsichtigte Politikwandel in Richtung einer stärker auf sozialen Ausgleich setzenden Wirtschaftspolitik sowie einer progressiveren Gesellschaftspolitik – sichtbar etwa an den schulpolitischen Vorhaben der Regierung Kraft/Löhrmann – sollte der Fraktion der Linken deutlich lieber sein als die vom Kabinett Rüttgers/Pinkwart betriebenen Politik.

Dennoch ist die Distanz zwischen der ermittelten Position des Wahlprogramms der Linken und dem rot-grünen Koalitionsabkommen nicht unbeträchtlich. Dies gilt insbesondere für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen. Vielmehr kann die rot-grüne Regierung in NRW auf die Unterstützung der CDU im letztgenannten Politikbereich hoffen, da sich das Wahlprogramm der Christdemokraten kaum von der wirtschaftspolitischen Position des Koalitionsabkommens unterscheidet. In gesellschaftspolitischen Fragen könnte Rot-Grün auf die Unterstützung der FDP hoffen, da es hier deutliche Schnittmengen zwischen Liberalen und dem Programm der neuen Landesregierung gibt. Sollten sich also CDU und FDP von Inhalten und weniger von Parteipolitik in ihrem Verhalten im Landtag leiten lassen, dann kann die Regierung Kraft/Löhrmann in der Tat darauf hoffen, von Fall zu Fall Mehrheiten für Gesetzesvorlagen zustande zu bekommen. Dabei wäre nicht unbedingt die Linke die Fraktion, auf die Rot-Grün Rücksicht nehmen sollte, sondern vielmehr Christ- und Freidemokraten aufgrund der – sich nach Politikfeld unterscheidenden – vorhandenen inhaltlichen Schnittmengen. Von daher gibt es große Chancen, dass die rot-grüne Minderheitsregierung die komplette Legislaturperiode überdauert, wenn Frau Kraft geschickt agiert und alle Oppositionsfraktionen in den Prozess der Politikgestaltung mit einbezieht.

 

Patchwork-Koalitionen – ein Zukunftsmodell "made in NRW"?

von Andrea Römmele und Henrik Schober

Andrea„Entdecke die Möglichkeiten“ – mit diesem Slogan wirbt eine allseits bekannte schwedische Möbelhauskette für ihre Produkte, die in schier unendlich vielen verschiedenen Kombinationen angeordnet werden können. Dieser Abschied von festgelegten Mustern hat sich mittlerweile in vielen Bereichen des täglichen Lebens niedergeschlagen. Egal ob Essen oder Kleidung, Autos oder eben Möbel: Überall wird munter individuell drauflos kombiniert. Wird es also nicht Zeit, dass sich auch die Politik diesem Trend öffnet?

„Entdecke die Möglichkeiten“ könnte auch zum Credo der Minderheitsregierung um Hannelore Kraft werden. Sie muss wechselnde Partner aus der Opposition für Ihre Vorhaben gewinnen und könnte in dieser auf den ersten Blick äußerst unbequemen Situation schon bald Vorteile erkennen. Denn diese Art des Regierens in wechselnden, themenspezifischen „Patchwork-Koalitionen“ mag in Deutschland ungewöhnlich sein, sie trifft aber den politischen Zeitgeist. Wir sind auf dem Weg zu einem Vielparteiensystem (die Linke muss nicht die letzte Neugründung bleiben) und die altbekannten Lager brechen zusehends auf. So gilt mehr denn je die Forderung, dass alle demokratischen Parteien in der Lage sein müssen, miteinander zu kooperieren – und zwar auch und gerade außerhalb formeller Koalitionsvereinbarungen.

Ist die Minderheitsregierung also ein Zukunftsmodell? Die spezifischen Anforderungen, die das Regieren aus einer Minderheitsposition mit sich bringt, geben zumindest Anlass für Optimismus:

• Die führenden Politiker sind darauf angewiesen, integrativ und überparteilich zu wirken. Der zentrale Mechanismus des Regierens kann nicht pure, an den Parteiinteressen ausgerichtete Machtausübung sein, sondern muss argumentatives Überzeugen im Sinne aller Beteiligten beinhalten.

• Für die Bürger kommt hinzu, dass die Öffentlichkeit an Bedeutung gewinnt. Gerade bei kontroversen Themen kann die Unterstützung durch die Medien und die Bevölkerung ein wichtiger strategischer Faktor sein. Die Parteien müssen die Bürger somit für konkrete Projekte gewinnen und können sich nicht darauf beschränken, sie alle fünf Jahre um ihre Stimmen zu bitten.

Für NRW hat die Entscheidung für eine Minderheitsregierung zunächst einen ganz konkreten positiven Effekt: Neuwahlen bleiben uns vorerst erspart. Wenn man das allgegenwärtige Wort vom „Wählerwillen“ ernst nimmt, ist nicht zu bestreiten, dass dies tatsächlich nicht im Sinne derer wäre, die im Mai ihre Stimme abgegeben haben.

Dennoch ist natürlich auch Kritik berechtigt: Niemand weiß, ob Rot-Grün in NRW die Hoffnungen, die hier generell an das Modell Minderheitsregierung geknüpft werden, erfüllen wird – ebenso gut kann eine Phase unerträglicher taktischer Spielchen auf uns zukommen. Und natürlich hat sich Hannelore Kraft durch ihren abrupten Umschwung gewissermaßen selbst überholt und steht nun unter Erklärungsdruck. All das ist aber Teil eines Lernprozesses, den die deutsche Politik durchlaufen muss. Denn mittelfristig gibt es nur eine Alternative zu immer größeren Koalitionen unter Beteiligung von immer mehr Parteien, die sich gegenseitig blockieren: eine an Inhalten orientierte Minderheitsregierung. In Schweden hat man diese Möglichkeit übrigens schon längst entdeckt…

 

Quo vadis NRW?

Die Ampel blinkt offenbar nicht mehr. Sind nun Neuwahlen unausweichlich? Ich sehe fünf weitere Optionen in NRW.

1) Rot-Grün. Rot-Grün? Ja, Rot-Grün. Eine Stimme braucht Rot-Grün, um eine Mehrheit im Parlament zu haben. Also muss die SPD an einem möglichen Überläufer der Linken zur SPD arbeiten, um sich eine Mehrheit im Landtag zu sichern. Solch ein parlamentarischer Überläufer würde wohl am ehesten aus dem gewerkschaftlichen Lager der Linken kommen und müsste wohl auch zukünftig mit einem sicheren Landtagsmandat versorgt werden.

2) CDU-FDP Minderheitsregierung: Die NRW-Landesverfassung stellt klar, dass bis zur Amtsübernahme der Nachfolgerregierung die bisherige CDU-FDP-Landesregierung geschäftsführend im Amt bleibt (Art. 61 Abs. 2). Hessische Verhältnisse also. Ohne SPD-Unterstützung kann kein CDU-Parlamentarier zum Ministerpräsidenten gewählt werden. So könnte Rüttgers höchstens für den Moment durchschnaufen und auf bessere Stimmung nach der Fußballweltmeisterschaft und dem Sommerurlaub hoffen, um bei möglichen Neuwahlen im Herbst bessere Chancen zu haben.

3) Rot-Grüne Minderheitsregierung: Hannelore Kraft hätte, solange die SPD nicht doch noch einen CDU Kandidaten unterstützt, zumindest in einer Stichwahl (Art. 52 Abs. 2) die größten Chancen zur Ministerpräsidentin gewählt zu werden. Über Minderheitsregierungen habe ich bereits hier gebloggt. Obwohl auf den ersten Blick stabile Verhältnisse anders aussehen, würde eine Rot-Grüne Minderheitsregierung sicherlich effizienter regieren können als eine CDU-FDP-Minderheitsregierung. Denn die Wahrscheinlichkeit, Gesetzesvorlagen mit Hilfe der Linken durchs Parlament zu bringen, ist höher als die, dass Vorlagen einer geschäftsführenden CDU-FDP-Landesregierung eine Mehrheit erhalten. Diese Option ist sicher nicht nur „rein theoretisch“ möglich.

4) Große Koalition unter SPD-Führung. Es steht nirgendwo geschrieben, daß die größte Partei den Ministerpräsidenten stellen muss? Darauf hatte ich auch schon vor den ersten Sondierungsgesprächen von CDU und SPD in einem anderen Blog-Beitrag hingewiesen.

5) Große Koalition unter CDU-Führung: Diese Option schien ja bereits vom Tisch. Gemäß der NRW-Landesverfassung (Art. 52 Abs. 1) kann nur ein Mitglied des Landtags zum Ministerpräsidenten gewählt werden. Statt Rüttgers wären daher als Kompromisskandidaten Landespolitiker wie Krautscheid, Laschet oder Laumann denkbar, aber eben keine Bundespolitiker (wie etwa NRW CDU-Granden Pofalla, Röttgen oder gar Lammert).

Habe ich etwas vergessen? Hat jemand ein Vorhersagemodell bzw. kann man die Bräuninger-Debus-Modelle kalibrieren? Spannende Tage – nicht nur wegen der WM…

 

Hannelore Rüttgers – oder was?

Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen sind als Folge der schnellen Absage von Gesprächen mit der Linkspartei die Weichen nun erst einmal auf „Große Koalition“ gestellt. Die Frage, wer denn in einer solchen Regierungskonstellation den Ministerpräsidenten zu stellen hat, scheint offenbar ganz klar zu sein. Die CDU „natürlich“, wie immer wieder argumentiert wird. Zur Begründung wird das Kriterium der Stimmenanzahl bemüht. Weil die CDU laut amtlichem Endergebnis exakt 5982 Stimmen mehr erhalten hat als die SPD, sei es doch wohl klar, dass sie den Ministerpräsidenten auch stellen müsse – so oder so ähnlich war es dieser Tage der Presse zu entnehmen.

Mal ganz abgesehen von der Frage, ob ein solches Kriterium in einem parlamentarischen System auch tatsächlich viel Sinn ergibt, zeigt die Empirie jedenfalls keine reflexartige Beziehung in Koalitionsregierungen, der zu Folge immer die nach Stimmen stärkste Partei den Regierungschef stellen muss.

Ein paar Beispiele gefällig? Unser Nachbarland Österreich hat das auf der Bundesebene schon drei Mal erlebt. Zuletzt nach der Nationalratswahl 1999. Die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) unter der Führung von Wolfgang Schüssel ist nach Stimmen nur drittstärkste Kraft geworden, nach der sozialdemokratischen SPÖ und der FPÖ von Jörg Haider. Nach dem Scheitern von Koalitionsverhandlungen mit der SPÖ führte Wolfgang Schüssel als Bundeskanzler ab dem 4. Februar 2000 eine ÖVP-FPÖ-Koalition an, obwohl wohlgemerkt die FPÖ nach der Wahl die „stärkere“ Partei war. 1953 und 1959 ist der ÖVP Kandidat ebenfalls Bundeskanzler geworden, obwohl die mitregierenden Sozialdemokraten mehr Stimmen bei der Wahl bekommen hatten.

Aber auch in anderen Ländern, die an Koalitionsregierungen gewöhnt sind, finden sich solche Beispiele. Der schwedische Zentrumspolitiker Fälldin etwa wurde nach der Wahl 1979 zum Ministerpräsidenten gewählt, obwohl damals die bürgerlich-konservative Moderata samlingspartiet und nicht mehr die Zentrumspartei die nach Stimmen größte bürgerliche Partei wurde. Ähnlich gelagerte Fälle finden sich auch in Dänemark in der Koalition zwischen Liberalen und Konservativen in den 80er Jahren. Wenn man systematisch sucht, findet man wahrscheinlich noch mehr. Hat jemand noch weitere Beispiele parat?

Langer Rede kurzer Sinn: Es ist mitnichten in Stein gemeißelt, dass die stärkste Partei auch den Ministerpräsidenten stellen muss. Die Beispiele zeigen, dass von einem derartigen Automatismus keine Rede sein kann. Welche Partei den Regierungschef stellt, liegt genauso auf dem Verhandlungstisch und ist daher Bestandteil von Koalitionsverhandlungen, wie viele andere Dinge auch.

 

Der Teufel steckt im (Wahlrechts-)Detail

Zur Mehrheit fehlt Rot-Grün in NRW ein einziger Sitz. Rot-Grün-Rot wird es nicht geben. Also bleibt den Sozialdemokratinnen dort wohl nur der (schwere) Gang in die Große Koalition. Wie die Kollegen von wahlrecht.de zeigen, hängt die Sitzverteilung dabei nicht vom gewählten Zuteilungsverfahren ab. Ob Sainte-Laguë, Hare/Niemeyer oder D’Hondt – das Ergebnis ist identisch. Zumindest solange man die Sitzzahl bei 181 belässt.
Gleichwohl könnte man sich bei Rot und Grün mit Blick auf das Wahlsystem die Haare raufen – kleine Veränderungen der Regeln hätten mitunter große Wirkung gehabt: So hätte es für Rot-Grün etwa gereicht, wenn der nordrhein-westfälische Landtag nur aus 159 Sitzen bestehen würde (und die Sitze nach Hare/Niemeyer zugeteilt worden wären): Die SPD hätte dann nämlich 59 Sitze erhalten (wie die Union auch), die Grünen 21 – und 80 rot-grüne Sitze wären eine Mehrheit gewesen. Analog wäre es bei Sitzzahlen von 3, 5, 7, 19, 21, 35, 59, 73, 75, 87, 89, 91 und 105 gewesen… aber bei 181 eben nicht.

 

Nach der Wahl: Große Koalition oder Rot-Rot-Grün in NRW?

Das Ergebnis der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen stellt die Parteien – insbesondere SPD, FDP und Grüne – vor schwierige Entscheidungen. Dies rührt daher, dass – wie in Hessen nach der Landtagswahl 2008 – nur solche Koalitionen über eine Mehrheit im Parlament verfügen, die von mindestens einer beteiligten Partei entweder vorab ausgeschlossen wurden oder nicht besonders gewünscht werden. Ersteres trifft auf die Ampelkoalition und ein Jamaika-Bündnis zu, die beide in einem Parteitagsbeschluss der Liberalen kurz vor der Landtagswahl abgelehnt wurden. Eine Koalition der beiden großen Parteien CDU und SPD sowie eine Linkskoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und der ‚Linken’ entspricht wiederum nicht den Wunschvorstellungen der jeweiligen Parteien.

Kurz vor der Wahl sind wir bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen Koalitionen aufgrund der Umfrageergebnisse von zwei Szenarien ausgegangen, bei denen jeweils – im Gegensatz zum Ergebnis der Landtagswahl – von der CDU als der stärksten Partei im Düsseldorfer Landtag ausgegangen wurde. Im ersten Szenario hatte eine Koalition aus CDU und Grünen, nicht jedoch ein rot-grünes Bündnis eine Mehrheit im Parlament. Den Ergebnissen zufolge wäre die Bildung einer ‚schwarz-grünen’ Koalition das wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses gewesen. In Szenario 2 verfügten CDU und Grüne hingegen über keine Mehrheit im Parlament. Auf Basis dieser Sitzverteilung sowie aufgrund der programmatischen Positionen der Parteien und der Koalitionsaussagen ergab sich die höchste Wahrscheinlichkeit für eine große Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten.

Was ist unter den gegebenen Bedingungen nun das wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses in Nordrhein-Westfalen? Offenbar bleibt es dabei, dass SPD und Grüne eine Koalition mit der ‚Linken’ nicht ausschließen und damit die FDP ihre Absage an ein Bündnis, dass SPD und/oder Grüne mit einschließt, aufrechterhält. In diesem Fall ist ein Bündnis der beiden großen Parteien wahrscheinlicher als eine rot-rot-grüne Koalition. Jedoch ist der Unterschied zwischen den ermittelten Wahrscheinlichkeiten für beide Koalitionen nicht allzu groß: während die Bildung einer CDU/SPD-Koalition eine Chance von 54% erhält, so liegt die Wahrscheinlichkeit für die Formierung einer Linkskoalition bei knapp 40%. Hätten SPD und Grüne doch ein Bündnis mit der ‚Linken’ ausgeschlossen und damit Verhandlungen über eine Ampelkoalition den Weg geebnet, dann wäre die Situation zwar deutlich offener, jedoch wäre noch immer eine große Koalition das wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses mit einer Chance von gut 47%. An zweiter Stelle würde mit einer Wahrscheinlichkeit von rund einem Drittel die ‚Jamaika’-Koalition aus CDU, Liberalen und Grünen anstelle einer ‚Ampel’ landen. Ein rot-gelb-grünes Bündnis folgt erst auf Platz 3 mit einer Wahrscheinlichkeit von 15,6%.

Tabelle 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionsoptionen in Nordrhein-Westfalen auf Grundlage der endgültigen Sitzverteilung

Koalitionsoption Absage einer Ampel- und Jamaika-Koalition der FDP wird aufrechterhalten Absage einer Ampel- und Jamaika-Koalition der FDP wird aufgehoben; SPD und Grüne schließen Bündnis mit der ‚Linken’ aus
CDU und SPD 53,8% 47,1%
SPD, Grüne und Linke 39,9% 0%
SPD, Grüne und FDP 0% 15,6%
CDU, Grüne und FDP 0% 31,9%

Die schlechten Chancen für die Bildung einer Ampelkoalition resultieren vor allem aus den großen inhaltlichen Differenzen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zwischen der FDP auf der einen und SPD und Grünen auf der anderen Seite. Insofern wäre ohnehin fraglich gewesen, ob Verhandlungen von SPD, FDP und Grünen von Erfolg gekrönt gewesen wären. Die Modellberechnungen können allerdings nicht mit einbeziehen, dass es in einem Bündnis zweier beinahe gleich starker Parteien Konflikte um die Besetzung des Ministerpräsidentenamts geben wird. Ebenso werden innerparteiliche Konflikte zu den verschiedenen Koalitionsoptionen nicht berücksichtigt. Von daher sind die Chancen für eine große Koalition zwar besser als die eines rot-rot-grünen Bündnisses, allerdings spielen eine Reihe von Unwägbarkeiten eine Rolle, die die Bildung beider Koalitionsoptionen erschweren können. Von daher: alles offen in NRW.

 

Punktlandung?

AndreaNordrhein-Westfalen hat gewählt, eine klare Aussage getroffen hat es aber nicht. Mit Ausnahme einer großen Koalition ist kein Zwei-Parteien-Bündnis möglich und sämtliche Dreierkonstellationen wurden vor der Wahl entweder als nicht realisierbar befunden (Rot-Rot-Grün) oder definitiv ausgeschlossen (Ampel und Jamaika). Dies lässt die Parteien in einer Patt-Situation zurück und es scheint, als ob diejenige, die den ersten Zug wagt, das Spiel verlieren würde.

Doch was landespolitisch sehr kompliziert und nicht minder heikel daherkommt, könnte für Frau Merkel aus bundespolitischer Sicht ein Optimalzustand sein. Natürlich hat sie sich in den Wahlkampf einbringen müssen und natürlich wollte sie einen Absturz ihrer Partei in die Opposition verhindern. Eine Fortführung des schwarz-gelben Bündnisses jedoch hätte sie andererseits unter erheblichen Zugzwang gesetzt. Derzeit jedoch stehen viele Zeichen auf große Koalition, sodass sich der Erhalt der Regierungsverantwortung in NRW mit der stärkeren Einbindung der SPD in der Bundespolitik paaren könnte, womit die Grundlage für breite Konsense in unpopulären Fragen geschaffen wäre. Zudem legt das Wahlergebnis auch noch nahe, dass die CDU durch ihren denkbar knappen Vorsprung vor der SPD in einer solchen Koalition weiterhin den Ministerpräsidenten stellen würde, dieser aber wohl nicht mehr Jürgen Rüttgers heißen würde, da sich die herben Verluste der Union auch mit seiner Person verbinden. Dem innerparteilichen Kontrahenten wäre somit der Boden für bundespolitische Ansprüche entzogen, zugleich könnte sich aber auch mit Hannelore Kraft keine Persönlichkeit der SPD als starke Ministerpräsidentin etablieren und ihrer Partei inmitten der schwierigen Identitätssuche ein prägendes Gesicht geben.

Eine große Koalition in NRW würde Deutschland bereits ein gutes halbes Jahr nach Antritt der schwarz-gelben Bundesregierung wieder zu dem machen, was es nach Ansicht der Wissenschaft schon immer war: ein Staat der großen Koalitionen. Nur selten konnten Regierungen auf Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat bauen, zumeist waren also Kompromisslösungen und Abstimmungen über die Parteigrenzen hinweg sowie zwischen Bundes- und Länderebene nötig. Gerade in Krisenzeiten könnte dies nicht nur gut für die Bundeskanzlerin sein, der die moderierende Rolle liegt und die dafür zu Zeiten der Großen Koalition im Bund auch sehr geschätzt wurde. Sondern auch gut für Deutschland, das auf diese Weise Parteienstreits, symbolischer Politik etc. entgehen könnte. So gesehen hätte das Wählervotum in NRW in all seiner Unklarheit doch den politischen Willen vieler auf den Punkt gebracht.

 

Noch eine Zahl…

Viele Zahlen standen gestern und heute in Nordrhein-Westfalen im Raum – aber eine habe zumindest ich nicht gehört. Und dass, obwohl sie wiederum etwas zum Ausdruck bringt, was wir bei fast allen Wahlen der jüngeren Vergangenheit haben beobachten können und was meines Earchtens sehr bemerkenswert (vulgo: merkwürdig) ist. Es ist der gemeinsame Stimmenanteil von Union und SPD. Die folgende Abbildung zeigt, wie dieser Anteil sich über alle NRW-Wahlen hinweg entwickelt hat.

Mit 69,1 Prozent hat dieser Anteil – wieder einmal – ein historisches Tief erreicht. Selbst bei der ersten nordrhein-westfälischen Landtagswahl 1950 (in der Phase der Konsolidierung des deutschen Parteiensystems) lag er minimal höher.

Die Gründe für diese Entwicklung sind sicherlich vielfältiger Natur (man könnte das gestern so oft zitierte „Ursachenbündel“ heranziehen), Fakt aber ist: Zumindest aktuell ist es um die Integrationskraft der beiden „Volksparteien“ nicht gut bestellt.

 

Wolkige Ansichten – Das Vokabular der Wahlprogramme in NRW

„Die Parteien haben den Bezug zu den Menschen da draußen verloren.“ Solche oder ähnliche Zitate liest man immer wieder. Allerdings nicht in den Wahlprogrammen der Parteien in NRW. Denn: Allen fünf Parteien, die sich in Nordrhein-Westfalen Hoffnung auf den Einzug in den Landtag machen können, liegen die „Menschen“ – gleich nach „NRW“ – besonders am Herzen. Zumindest, wenn man die Häufigkeit der darin verwendeten Begriffe als Maßstab heranzieht. Das ist eines der wichtigsten Ergebnisse aus der Wortwolken-Analyse im „Wahlprogramm-Check“ der Universität Hohenheim und des CommunicationLabs Ulm.

Besonders wichtig sind die „Menschen“ allerdings den beiden roten Parteien Linke und SPD. Es gibt also – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – durchaus gewisse Übereinstimmungen, auf denen man bei Koalitionsverhandlungen aufbauen könnte. Und da man für solch eine Koalition auch die Grünen mit ins Boot holen müsste, dürfte es die Beteiligten freuen, dass sich mit der Betonung der Bedeutung der „Kommunen“ auch zwischen Linken und Grünen eine wichtige Gemeinsamkeit zeigt.

Die gibt es allerdings auch zwischen Grünen und Schwarzen: Beide fordern in ihren Wahlprogrammen konsequenter als alle anderen Parteien „mehr“. Selbst bei FDP und Linkspartei sind Übereinstimmungen feststellbar: Beide Parteien haben eine Vorliebe für die Nennung des eigenen Parteinamens in ihren Programmen. Die drei anderen Parteien, insbesondere CDU und SPD, sind da im Vergleich deutlich zurückhaltender.

Also doch eher Schwarz-Grün oder sogar Schwarz-Gelb-Tiefrot? Wohl kaum, zumindest, wenn man das Vokabular der Wahlprogramme als Prognoseinstrument heranzieht. Denn insgesamt überwiegen trotz allem die begrifflichen Gemeinsamkeiten bei den drei Oppositionsparteien. So ist man sich hier ebenfalls einig, dass nach der Wahl viele wichtige Dinge angepackt werden „müssen“. Der 9. Mai wird zeigen, ob man dies in einer gemeinsamen Regierungskoalition tun können wird.

CDU
SPD
Grüne
FDP
Linke