Lesezeichen
 

„Sie wurden gelobbyt“

Ein Jahr als Korrespondent in Brüssel. Eine Bilanz

Auf einem sektschwangeren Atem reitet mir ein abfälliges Lachen entgegen. „Ha! So wenige?“ Die deutsche Diplomatin hält die Zahl, die ich ihr, nach einem zu kurzen Moment des Zögerns, doch verraten habe, für einigermaßen armselig. Nur knapp dreißig Visitenkarten eingesackt in der ersten Woche als Korrespondent in Brüssel? Am Rand ihres hochstieligen Glases zeichnet sich der Lippenstiftabdruck eines milden Lächelns ab.

Ein Jahr später weiß ich dreierlei. Erstens, auf die Anzahl kommt’s nicht an. Zweitens, dass der zwanghafte Austausch von Kärtchen auf Brüsseler Abendempfängen bisweilen der Geisteshaltung beim Ausfüllen eines Lottoscheins ähnelt: Wer weiß, vielleicht bringt es ja doch was, wenn schon nicht beruflich, dann womöglich privat. Aber drittens ist mir auch klar geworden, dass wenn einmal das große Los auf Europa fällt, Brüssel der Ort ist, der sich wie kein anderer als Kollektiv darauf stürzt, ein Ereignis zu kanalisieren, analysieren und parieren. Als Netzwerk dürfte sich die Stadt zu einem der dichtesten der Welt gemausert haben. Brüssel ist Google in der Echt-Welt. Man findet alles und jeden. Aber auch vieles, was man nie gesucht hat.


Meiden Sie zuviel Champagner, er ruiniert Ihre Magenschleimhaut

Während der ersten Wochen fühlt sich das Arbeiten in der „EU-Hauptstadt“ (ein etwas bemühtes Reiseführersynonym) so psychedelisch an, als säße man inmitten eines beständig implodierenden Sternenhaufens. Brüssel stürzt sich auf den Neuankömmling wie ein Heuschreckenschwarm auf ein unberührtes Weizenfeld; sanfte Korruption und plötzliche Duz-Attacken eingeschlossen. Das EU-Viertel vermittelt seinen Bewohnern das wärmende Gefühl, sie seien unter sich, unbeobachtet von der wahren Welt sozusagen.

Rund um den Place Schuman mit seinen klobigen Bürogebäuden und ausgedehnten Fressmeilen herrscht die Betriebsamkeit eines Großflughafens und die Mentalität eines Dorfes. „Neenee! Lassen Sie mal. Sie wurden gelobbyt!“, flötet der Gesprächspartner am Ende eines hervorragenden, nicht ganz günstigen Mittagsessens, und zückt die eigene Geldbörse. Aufgeschlossen und gelöst wie nie begegnet einem hier auch der BND-Mann, den man noch aus anderen Zeiten kennt. Und da ist die Kommissionsbeamtin, die mit ernster Miene über die viele Arbeit klagt, aber noch viel schamloser über all den Champagner, der ihr, „echt jetzt!“, die Magenschleimhaut ruiniert habe.

Pling!, jubelt der Computer, als der Korrespondent wieder ins Büro zurückkehrt. E-Mail vom Deutschen Tierschutzbund. Freude darüber, dass die EU ein Handelsverbot für Hunde- und Katzenfelle beschlossen hat. Pling! Die Sozialisten im Europaparlament planen eine Pressekonferenz über die Mehrwertsteuerstreichung für Kondome. Pling! Die bayerische Landesvertretung lädt zur „Wurstverkostung“.

Ring! Das Telefon klingt. Der Herr am anderen Ende macht sich nicht die Mühe, sich vorzustellen. Er sagt nur auf Englisch: „Guten Tag. Wir hätten gerne ihre Adresse für unsere Datenbank.“ Ich sage „eher nein“, aber noch während ich den Hörer auflege, beschleicht mich das Gefühl, gerade ein wichtiges Brüsseler Grundgesetz verletzt zu haben. Werde ich nun die alles entscheidende E-Mail nicht bekommen? Die, über die morgen die ganze Stadt spricht? Ja, schlimmer: Bin ich jetzt ein Anti-Europäer?

Kurze Zeit später treffe ich glücklicher Weise einen alten Studienfreund, den es mittlerweile ebenfalls „in die EU“ verschlagen hat. Oh ja, sagt er, er kenne diese Angst. Dann fragt er, ob ich mich an die Star Trek-Filme mit den Maschinenmenschen erinnere, diese „Borg“. Ich nicke. Sie werden assimiliert!, tönte deren blecherner Kampfruf. Der Freund lächelt und nickt. Und hat Recht. Widerstand gegen die Rundum-Verdrahtung, merke ich bald, ist ohnehin zwecklos.

Wer länger in Brüssel lebt, hat keine Wahl. Eine Hälfte seines Gehirns gehört schnell der EU. Es vergehen keine drei Monate, und man ertappt sich dabei, dass man beim Feierabendbier mit einer jungen Dame zwei Stunden lang heißblütig über den Lissabon-Vertrag debattiert hat. Sowas gilt hier nicht als Fauxpas. Es ist total en vogue. Als nächstes beginnt man, unmerklich französische Floskeln in seinen Wortschatz einzuflechten und wildfremde Menschen mit zwei Küsschen auf die Wange zu begrüßen.

Vermutlich ist es auch kein gutes Zeichen, dass ich schon überlegt habe, meinen Kühlschrank zu verkaufen. Aber Brüssel nährt seine zugereisten Töchter und Söhne einfach zu gut.

„Frieden!“, ruft Ministerpräsident Kurt Beck ins Mikrofon. Er ist zu Besuch in die rheinland-pfälzische Landesvertretung gekommen und muss europäisch klingen. „Wohlstand!“ Das Publikum beginnt zu rumoren. „Grenzenlosigkeit!“ „Wir!“ „Alle!“ „Menschen!“ Die Menschen verteilen sich. „Nachbarn!“ Aus, vorbei. Wenn Politiker bei Ansprachen die Karlspreis-Vokabeln auspacken, wendet sich das Publikum freundlich ab; es weiß, jetzt dauert es nicht mehr lange, bis das Buffet eröffnet wird. Die Beschwörung der EU als Kriegsverhinderungsbündnis taugt noch als Brüsseler Tischgebet. Keiner glaubt mehr recht daran, aber etwas Besseres, nach vorn Weisende, will auch niemandem einfallen. Bis es soweit ist, tröstet man sich mit Rindercarpaccio und Lachshäppchen. Brüssel mag ein Wartesaal der Geschichte sein – aber einer mit exzellentem Catering.


Ich war noch nie im Atomium. Und auch noch nie beim Manneken Pis

Eines Tages fällt mir auf, dass ich noch nie draußen beim Atomium war, einem, so sagt man, beliebtem Ausflugsziel vieler Belgier. Ich war auch noch nie beim Manneken Pis und auch noch nie im Comic-Museum. Offen gesagt hat das damit zu tun, dass ich ungern daran erinnert werde in einer Stadt zu leben, die einen erheblichen Teil ihrer internationalen Bekanntheit auf ein urinierendes Kleinkind und auf die Abenteuer von Tim und Struppi stützt. Dann jedoch erzählt mir eine deutsche Bekannte, irgendwelche Belgier hätten dem Manneken Pis kürzlich ein schwarzes Lacklederkostüm übergezogen. Wir finden das putzig. Und beschließen, sie einmal zu suchen, diese Belgier. Ein Freund meiner Bekannten, sagt, er kenne in der Nähe der Oper ein Lokal, wo man welche finde. Belgier.

Am nächsten Samstag sitzen wir an einem rauen Holztisch in der wunderschönen mittelalterlichen Innenstadt, nippen am Starkbier und blicken neugierig in den Thekenraum. Es dauert nicht lang, und unsere Bekannte wird zum Tanzen aufgefordert – von einem italienischen Journalisten. Der Freund und ich unterhalten uns den Rest des Abends über die bildungspolitischen Auswirkungen des Lissabon-Vertrages. – Sollte mich irgendwann mal jemand fragen, ob ich einmal in Belgien gelebt habe, werde ich antworten Nein. Ich habe an den Mauern einer Institution campiert.

Brüssel, seien wir ehrlich, ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine Parallelgesellschaft wunderbar funktionieren kann, wenn Einwanderer und Ureinwohner aus demselben Kulturkreis kommen und schon zwei Weltkriege gegeneinander ausgefochten haben.

Wahrscheinlich hat auch Angela Merkel auch noch nie einen Belgier zu Gesicht gekriegt und empfindet das nicht als störend. Wenn die Staatschefs oder ihre Minister in Brüssel zusammenkommen, dann tagen sie im hermetischen Ratsgebäude „Justus Lipsius“. Der Granit-Kubus besitzt die Anziehungskraft eines Grabsteins, und seine Innenarchitektur changiert je nach Stockwerk zwischen der Spröde einer Kleinstadteisdiele und der Hermetik von Gefängnisfluren. Nach jeder Ratspräsidentschaft hinterlässt das entsprechende Land ein Andenken im Interieur; Stühle, Sessel, Lampen, Beistelltischchen. Das Ergebnis ist ein verwirrendes Sammelsurium edler, hochwertiger Kleinteiligkeit.

Zum Glück gibt es sie, die Politiker, die mit den Füßen scharren, die jetzt, endlich einmal, mehr mit diesem Brüssel anstellen wollen als eine Bauchnabelschau nach der anderen zu veranstalten. Lissabon, eine laue Nacht am Meer. Angela Merkel stellt sich den Journalisten, eine blaue Sternenwand und einen historischen EU-Gipfel hinter sich. Eigentlich möchte sie jetzt gar keine Fragen mehr zum neuen Reformvertrag, ehemals EU-Verfassung, beantworten. Nein, vielleicht, lässt die Kanzlerin durchblicken, könnte sich diese Union der 27 stattdessen endlich einmal darüber unterhalten, was sie eigentlich in der Welt erreichen wolle. Darüber zum Beispiel, „welche Interessen Europa in Bezug auf die Globalisierung hat“. Schweigen im Presserund. Dann eine kritische Frage zum Flugverhalten der EU-Politiker. Welch ein immenser CO2-Ausstoß! Sei das denn vorbildlich?

Womöglich, denkt der Neuling, hätte die Kanzlerin doch gerne andere Themen vertieft. Warum, zum Beispiel, sich Brüssel immer noch wie die Heimstatt einer gewaltigen NGO anfühlt. Warum die Gipfel seiner 27 Regierungschefs oft wie die Treffen einer Selbstfindungsgruppe wirken. Warum dieser unglaublich durchorganisierte Club unglaubliche 40 Milliarden Euro pro Jahr für seine Milchkühe, Olivenbäume und Schafherden ausgibt, während China in Universitäten und Containerhäfen investiert.

Ja weil, Herrgott, die EU eben ihre Fehler hat, wie alle komplexe Gebilde, sagen erfahrenere Beobachter. „Wissen Sie“, weiht mich ein deutscher Kollege ein, „ich bin jetzt seit elf Jahren hier. Und ich bin immer noch“ – er zögert – „überzeugter Europäer.“ Würde ein Berliner Korrespondent, fragte ich mich, allerdings auch sagen, er sei überzeugter Bundesrepublikaner? Brüssel entfaltet schon eine Sogwirkung eigener Art auf den Berichterstatter, vergleichbar vielleicht mit dem Lullen eines Folksingers. Hey, Mann, wir bauen hier an Größerem! Willst du da ein kleinlicher Kritiker sein? Auf diesen Geist verlassen sich oft auch Politiker. Er habe in Brüssel immer gewusst, sagt Cem Özdemir vor großem Publikum (sämtliche deutschen politischen Stiftungen laden einmal im Jahr zu einem gemeinsamen Empfang an, dann drängeln sich 2000 Gäste vor Grillzelten), dass die Journalisten in Brüssel „unsere Verbündeten“ seien, anders als in Berlin. Dafür bekam er sogar noch Beifall von den versammelten Stiftungsmitarbeitern.

Es gibt Politiker, die diesem politischen Stockholm-Syndrom erliegen, sobald sie auch nur wenige Minuten von Brüsseler Publikum umzingelt sind. Markus Söder von der CSU, zum Beispiel. Er ist zur Wurstverkostung in die Bayern-Vertretung gekommen. Ein kühles Glas Bier in der Hand, sagt er mit tiefer Stimme in eine Runde von Journalisten: „Brüssel ist eine der Hauptstädte der Welt. Neben Washington, Peking und London ist Brüssel eine der Hauptstädte der Welt.“

Ich schreibe das sehr sorgfältig mit und denke, Brüssel ist wirklich spannend und lehrreich. Aber wenn ich das irgendwann glaube, dann ist es Zeit zurückzukehren, in die Welthauptstadt Hamburg.

 

Europa buckelt

Dass Europa so schnell einknicken würde, hätte man dann doch nicht gedacht. Nun wissen wir: Die Prinzipien der Europäischen Union gegenüber Russland haben eine Verfallszeit von genau 71 Tagen. Am vergangenen Monat beschlossen die Außenminister der EU in Brüssel, die Verhandlungen über ein neues Partnerschaftsabkommen mit Moskau wieder aufzunehmen.

Noch am 1. September hatten die Staatschefs Europas dafür eine klare Bedingung festgelegt: Russlands müsse seine Truppen in Georgien auf die Positionen vor Ausbruch der Feindseligkeiten am 7. August zurückverlegen.

Diese Bedingung hat Russland nicht nur nicht erfüllt. Die russische Armee hat ihre Stellungen in Abchasien und Südossetien seither drastisch ausgebaut. Die wenigen Hundert „Friedenssoldaten“ in den Provinzen sollen auf letztlich 7600 Mann aufgestockt werden. Zudem ziehen russische und ossetische Truppen laut Presseberichten immer wieder überraschend neue Grenzlinien in „Kerngeorgien“.

Ebenfalls noch im September wollten die EU-Außenminister ihr weiteres Vorgehen gegenüber Russland von der Antwort auf die Frage abhängig machen, wer den Krieg in Georgien eigentlich verschuldet hatte. Erst jetzt allerdings setzt die EU eine Kommission zur Untersuchung der Kriegsursachen ein; sie soll von der schweizerischen Diplomatin Heidi Tagliavini geleitet werden. Die Ergebnisse ihrer Arbeit dürften leider eher für Historiker als für Politiker interessant werden.

Einzig Litauen protestierte in Brüssel gegen die Entscheidung der übrigen EU-Länder. In Europa, sagte der Vertreter eines südosteuropäischen Landes, herrschten im wesentlichen drei Haltungen gegenüber Russland vor: Angst (in den ehemaligen Ostblockstaaten), Ausgleich (in Großbritannien und Italien) und Geschäftsinteressen (in Deutschland und Frankreich). „Das in Einklang zu bringen, ist natürlich schwierig“, so der Diplomat. Durchgesetzt haben sich am Ende die Großen.

Sicher, Europa braucht Russland, vor allem im Winter. Die EU bezieht über 42 Prozent ihrer Erdgas-Importe aus Russland, außerdem ein Drittel seiner Öl- und ein Viertel seiner Kohle-Importe. Die Tendenz beim Gas ist stark steigend, die EU-Kommission rechnet bis 2020 mit einem Anteil von 73 aus Russland.

Aber Russland braucht auch Europa. Zwei Drittel seiner Gasexporte strömen in die EU – ohne diesen Großkunden würde Moskaus Staatshaushalt in Nöte geraten.

Angesichts dieser Zahlen hat längst ein Röhren-Rennen begonnen. Die EU plant, eine Pipeline am Bauch von Russland vorbei aus dem Kaspischen Becken über Aserbaidschan, Georgien und die Türkei bis nach Österreich zu verlegen. Russlands Gasprom-Planer richtet den Blick derweil nach Osten, auf den potenziellen Großabnehmer China.

Bis diesen Alternativen gelegt sind, können allerdings noch gut zehn Jahre vergehen. Bis dahin wäre Europa gut beraten, die Alternativen zur russischen Gasabhängigkeit zu nutzen, die es heute schon gäbe: Strom und Heizwärme sparen, regenerative Energien fördern, nationale Energiekartelle zerschlagen und – jedenfalls bis auf Weiteres – Atomkraftwerke am Netz lassen. Aber das wären zum Teil eben höchst unpopuläre und zähe Vorhaben.

Am Freitag wird der EU-Ratspräsident in Nizza dem russischen Präsidenten Dimitri Medwedew in Nizza treffen. Bei dem Gipfel wird es vor allem darum gehen, die Russen zur Garantien über künftige Gaslieferungen in Europa zu bewegen. Gut, wenn der Franzose aus diesem Anlass ein Auge zudrücken kann gegenüber jenen Völkerrechtsgrundsätzen, für die er noch im August leidenschaftlich eingetreten ist.

 

Antwerpener Moment

Die unsichtbaren Regisseure von Samstag Nachmittagen setzen bisweilen unerhört gute Szenen. In einem Café am mittelalterlichen Marktplatz von Antwerpen strecken wir einen Moment lang die Beine aus und versuchen zu rekapitulieren, wann dieses so nordisch wirkende Städtchen eigentlich katholisch wurde.

Klar – die spanischen Habsburger waren es, die zu Zeiten ihres Imperiums im 16. Jahrhunderten die protestantischen Erhebungen in ihrer damals spanisch-niederländischen Provinz niederschlugen.

Während wir uns noch über genaue Jahreszahlen streiten, trippeln, wie aus dem Nichts, zwei seltsame Männer an unserem Tisch vorbei.

Der eine trägt einen Plastik-Ritterhelm auf dem Kopf und einen Besenstiel in der Hand. Von seiner Hüfte baumeln Zotteln mit angeklebten Pferdehufen herunter. Staunend zieht ein Teleskop aus seinem Umhang, richtet es auf die imposanten Fassaden der Antwerpener Gildehäuser und hält im nächsten Moment seinen dicklichen Begleiter zur Flucht an. Sancho Pansa gibt seinen Stoff-Eselsbeinen die Sporen – und beide galoppieren davon.

Wir stutzen. Irgendwie war das gerade eine geniale Performance.

Aber warum?

Nun ja, wie breitete sich noch die Neuzeit über Europa aus? Von Norden her erfasste zu Zeiten des Don-Quijote-Schöpfers Cervantes die Reformation den Kontinent. Sie zwang, in einer Ära tiefer Verunsicherung, als Handelssegler (viele von ihnen von Antwerpen aus) in neue Welten aufbrachen, den Menschen zum Nachdenken über sein Selbst.

Cervantes schickte zur selben Zeit seinen Quijote von Süden aus ebenfalls auf eine Existenz-Entdeckungsreise. Der Ritter von der traurigen Gestalt, er wandelt sich im Roman durch seine Irrungen vom Narren zum Weisen, wird schließlich zur Gestalt seiner Erfahrungen. Zum ersten Mal in der Literaturgeschichte schaffte Cervantes so eine Figur, die nicht der Autor, sondern die den Autoren beherrschte.

Hier in Antwerpen, wo germanischer Protestantismus und spanische Romantik aufeinander prallten, einen Wiedergänger dieses Apostels über den Marktplatz hoppeln zu lassen, staunend inmitten chinesischer Touristen und handyflötender Belgier, das ist schon eine Idee von beinah kosmischer Qualität.

Wir rühren, seltsam berührt, in unserem Milchkaffee. Jungejunge. So viel europäische Volksseele war selten in fünf Sekunden.

 

Brüssel hilf!

Mal eine Wette: In ein paar Jahren wird es handyfreie Zonen geben, genauso wie es heute raucherfreie Zonen gibt. Die EU wird Gutachten über den Stressfaktor Mobilfunkbimmelei in Auftrag geben, einheitliche Schutzstandards definieren und bürgerfreundliche Regulierungen vorschlagen. Es dauert eben eine Weile, so die Lehren des Nikotins, bis gewisse Kulturpraktiken als gesundheitsschädlich anerkannt und abgestellt werden.

Schulen, das zeigt sich währenddessen auch in Sachen Handysucht, verdeutlichen uns gesamtgesellschaftliche Fehlentwicklungen wie unterm Brennglas.

In einer ruhigen Stunde an einem Ort im nördlichen Norddeutschland, wo man glückerlicher Weise nur die Wildgänse rauschen hört, erzählte mir ein Freund – er ist seit kurzem Lehrer an einer Gesamtschule – folgende Geschichte: Er habe neulich in einer Unterrichtsstunde innerhalb von drei Minuten “die fünf möglichen Störungen durch Mobiltelefone” erlebt.

Als erstes, berichtet er, klingelte beim einem Schüler das Handy. Als der Freund den jungen Mann bat, das sich anschließende Gespräch (!) zu beenden, bemerkte er, wie unter der Nebentischplatte ein Nachbar damit beschäftigt war, eine sms zu verfassen. Zwei andere Schüler sahen sich ein Pornofilmchen auf dem Display an.

Noch bevor der Freund mit all seiner Autorität durchgreifen konnte, vernahm er hinter sich eine seltsam blechernen Türkpopp-Melodie. Er stammte – Sie ahnen es – aus einem Handy, dessen Besitzer mit demselben auf den Tisch gestiegen war, um einen geschmeidigen Hüfttanz vorzuführen. Den Versuch des Freundes, den jungen Mann zum Herunterkommen zu bewegen, dokumentierte ein fünfter Beteiligter mit seiner Handykamera.

“Was soll ich machen?”, fragt der Freund. “Wenn ich in so einer Situation ausflippe, landet das Video nachher bei YouTube.” Er gebe schon Kollegen, denen das passiert sei.

Ich redete dem Freund zu: Mach es öffentlich! Prangere es an! Erzähl den Menschen von deinem Schicksal! Die Risiken und Nebenwirkungen des Handymissbrauchs, die gehen schließlich uns alle an.

 

Ein kleiner neuer Weltenbund

Warum es Vertrauen schaffen kann, wenn die politische Macht vom Bürger wegrückt


Im Brüsseler Ratsgebäude

Große Worte rauschen diese Tage durch Brüssel. Was die Welt jetzt brauche, sei eine „neue Finanzmarktverfassung“ heißt es während des Treffens der 27 Staatschefs und ihrer Außenminister. Sprich: Die EU allein ist zu klein für die Aufgabe, in Zukunft eine ähnliche Finanzkrise wie die derzeitige zu verhindern.

Nicht nur die G8-Staaten, da sind sich die EU-Chefs einig, müssen jetzt zusammenkommen, um sich neue Verkehrsregeln für die Kapitalflüsse um den Globus zu überlegen, sondern auch die Schwellenländer China, Indien und Brasilien. Der „internationale Finanzgipfel“, so Außenminister Frank-Walter Steinmeier, solle außerdem die Golfstaaten und Singapur einschließen.

Steinmeier im O-Ton bei der Abschlusspressekonferenz (gut 7 Minuten)

Am besten noch im November, so der Wunsch der Europäer (die Schlussfolgerungen ihrer Sitzung hier), sollen die mächtigsten Repräsentanten der Menschheit zusammenkommen, um neue Weltfinanzgesetze zu beschließen. Sie könnten beispielsweise regeln, welche Liquiditätsreserven Banken aufweisen müssen, um besser vor Insolvenz geschützt zu sein. Sie könnten regeln, dass Steueroasen, vor allem in der Karibik, geschlossen werden. Sie könnten beschließen, dass ein Teil des Verfallsrisikos von Derivaten bei den Banken bleibt, die sie verkaufen.

Ähnlich wie die Welthandelsorganisation (WTO) könnte der Internationale Währungsfonds (IWF) diese Verkehrsleitaufgabe übernehmen – vorausgesetzt, die Mitgliedsstaaten übertragen der Organisation dafür die Kompetenzen.

Das, was sich hier entwickelt, ist bemerkenswert. Denn es ist ein Beispiel dafür, dass Subsidiarität (der Vorrang der unteren Ebene) unter den Bedingungen der Globalisiertheit auch bedeuten kann, Souveränität an die nächsthöhere supranationale Instanz zu übertragen. Was wir da beobachten, ist, mit anderen Worten, nichts anders als ein neues Stückchen Weltföderalismus.

Vielleicht lohnt es sich, daran zu erinnern, woher das Wort „Föderalismus“ stammt. Es leitet sich vom Lateinischen „fidere“, vertrauen, ab und ist verwandt mit „foedus“, Vertrag. Der wohl erste Vertrauensvertrag, den die Menschen als solchen benannten, war der „Bund“, den das Volk Israel mit Jehova schloss: sie erkannten ihn als einzigen Gott an, er im Gegenzug machte seine Anhänger zu Auserwählten.

In der Neuzeit säkularisierte vor allem der schottische Philosoph David Hume die Föderalismusidee. Ist es nicht ganz natürlich, fragte er, wenn der Mensch sich wünscht, dass die Entscheidungen, die über ihn gefällt werden, von Autoritäten getroffen werden, die ihm nahe stehen, die er kennt? Also am besten auf lokaler Ebene? Gleichzeitig, so Hume, weiß der Mensch natürlich auch, dass es Probleme gibt, die nur von einer höheren, mächtigeren Autorität gelöst werden können.

Kleine Republiken, schreibt Hume schon im 18. Jahrhundert, sind „schwach und unsicher“, während „eine große Regierung, die meisterlich aufgestellt ist, Bewegungsspielraum und Kompass besitzt, um die Demokratie zu verbessern, indem sie sie von unteren Leuten auf höhere Schiedsmänner überträgt, die alle Bewegungen steuern.“ (Hume, The Idea of a Perfect Commonwealth, in: Selected Essays, 1996, S. 314)

Föderalismus bedeutet, kurz gesagt, Vertrauen notwendigenfalls auf eine mächtigere, wenn auch entferntere Stufe zu übertragen.

Ist es nicht interessant, wie Humes Prinzip heute auf einer Dimension funktioniert, die er selber sich wohl nie hätte vorstellen können? Da überträgt die ohnehin schon bürgerferne und schwach demokratisch legitimierte EU Souveränität an eine noch distanziertere, noch expertenhaftere Weltorganisation – und der Bürger? Er fasst tatsächlich neues Vertrauen.

 

Am Limit

Warum die EU in der Finanzkrise kaum mehr etwas ausrichten kann

Europa wuchs bisher mit jeder Katastrophe.

Nach dem 11. September erkannte es die Risiken unzureichenden Informationsaustausches zwischen seinen Polizeien und Geheimdiensten. Die Folge war eine Vertiefung der gemeinsamen Rechts- und Innenpolitik, mit dem prominentesten Produkt des Europäischen Haftbefehls.

Nach dem Irakkrieg erkannte es die Risiken der Abhängigkeit von einem fremden GPS-System. Die Folge war Galileo, ein eigener europäischer Satelliten-Ortungsverbund.

Nach der Finanzkrise erkannte Europa die Risiken von… ja, was eigentlich? Einem ungefesselten amerikanischen oder europäischen Finanzmarkt? Die Folge ist… ja, was eigentlich?

Sowohl mit der Diagnose wie auch mit möglichen Reaktionsformen auf den Zusammenbruch der Kreditspekulationen werden sich die europäischen Staatschefs am Mittwoch und Donnerstag beim ihrem Ratsgipfel in Brüssel beschäftigen.

Was bisher geschah: Die EU-Finanzminister einigten sich darauf, notfalls in einer konzertierten Aktion Banken zu retten, die „systemrelevant“ für Europa sind. Im übrigen hilft sich erst einmal jeder Mitgliedsstaat selbst. Insgesamt stehen die wichtigsten Euro-Staaten ihren Banken mit rund 2000 Milliarden Euro als Bürgen zur Seite.

Für eine gemeinsame Stützungsaktion fehlt der EU derweil erstens die Kompetenz und zweitens der Wille. Einen gesamteuropäischen Hilffonds, wie von Nicolas Sarkozy vorgeschlagen, für trudelnde Kreditinstitute aufzulegen, halten insbesondere die Deutschen für keine gute Idee. Damit würde die EU „falsche Anreize“ schaffen, heißt es aus Kreisen der Bundesregierung. Immerhin könnte ein Sack Geld Begehrlichkeiten bei den falschen Leuten auslösen, wenn er erst einmal auf dem Tisch stehe.

Was also können die EU-Staatschefs in Brüssel eigentlich noch tun?

Nun, sie können sich zunächst einmal anhören, was ihnen der Chef der EU-Kommission, José Manuel Barroso, zu sagen hat. Der Mann war in den vergangenen heftig dafür kritisiert worden, dass es seine Mannschaft angeblich trotz besseren Wissens unterlassen habe, Vorschläge für eine striktere Regelung der europäischen Finanzmärkte vorzulegen.

„Die Politik der Kommission war es, weniger zu regeln, weniger zu intervenieren“, ärgert sich der Fraktionschef der europäischen Sozialisten im Europaparlament, der Deutsche Martin Schulz (SPD). Den Binnenmarktkommissar Charlie McGreevy (Irland) nennt Schulz einen „Apologeten einer irregeleiteten Marktradikalität.“ Der Mann sei „nicht mehr tragbar“, so Schulz. Der SPD-Mann hat Barroso nach eigenen Angaben aufgefordert, McCreevy von seinem Posten zu entfernen.

Barroso und McGreevy ihrerseits schieben das Ausbleiben von strikteren Regelungen den EU-Mitgliedsstaaten zu. Allen voran Deutschland und Großbritannien hätten sich gegen eine genauere Aufsicht auf Finanzprodukte gestemmt. Gleichwohl verspricht nun der Kommissionschef: „Die Kommission wird noch in dieser Woche einen Gesetzesvorschlag für eine europaweite Vereinbarung über Kreditgarantien vorlegen.“

Aber würde das helfen, eine nächste Krise zu verhindern? Und selbst wenn sich Europa schon heute die besten Finanzmarktregeln der Welt gehebt hätte: Hätte uns das vor den Sogeffekten des Crashs in Amerika geschützt? Europa kann sich zwar regulieren. Abschotten von den globalen Kapitalflüssen kann es sich nicht.

Frage also an Martin Schulz: Stößt Europa in der gegenwärtigen Krise nicht an die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit? Müsste nicht die amerikanische Regierung mit am Tisch sitzen, wenn die EU-Staatschefs über die Folgen des Crashs beraten.

„Das geschieht ja im Rahmen der G8“, antwortet Schulz.

Das stimmt zwar. Aber ob die G8 das passende Gremium für dieses Thema sind, das ist die nächste Frage. Denn was passiert eigentlich, wenn die nächste Finanzkrise von China oder Indien ausgeht? Mehr als ein Drittel der 6,5 Milliarden Weltbewohner werden von zwei Hauptstädten, Peking und Neu-Delhi, aus regiert. Und keines der beiden Länder ist Mitglied der G8.

„Außergwöhnliche Ereignisse rufen nach außergewöhnlichen Maßnahmen“, sagt José Manuel Barroso mit Blick auf den anstehenden Ratsgipfel.

Da hat er Recht. In diesem Fall hieße das aber, über den europäischen Tellerrand hinaus zu schauen.

 

Weltordnung der Wohnzimmer

Der Freund in Kopenhagen ist einigermaßen pikiert. Ikea? Da kauft ihr noch ein? Ob wir denn noch nicht mitbekommen hätten, was für Chauvinisten diese schwedischen Möbeldesigner seien?

Ikea trampelt auf dem Dänentum herum!, zürnt er. Alle möglichen Teppiche und Toilettenartikel im ach so freundlichen Möbelhaus seien nach dänischen Orten benannt – eine Ungeheuerlichkeit. Will sich Ikea mit Dänemark anlegen?, fragen schon die Zeitungen im Inselreich.

Tatsächlich glaubt, wer den Ikea-Katalog geografisch liest, bald nicht mehr an einen Zufall.

BORNHOLM zum Beispiel, eigentlich bekannt als idyllische Ostseeinsel, ist bei Ikea ein ziemlich spackiger Billigteppich (naturbraun, 4,99 Euro).

SKAGEN, das sympathische Hafenstädtchen an der Nordspitze Jütlands, STRIB, ein freundlicher Ort auf Fünen, und HELSINGÖR, das Hafentor nach Schweden, teilen in der Weltordnung der Wohnzimmer allesamt dasselbe Unterlingenschicksal: Teppiche.

Von NIVÅ erst, der Stadt auf Seeland, die sich als Trittschalldämmung zum Verlegen unterm Laminatfußboden wiederfindet,
reden wir aus nachbarschaftlicher Rücksicht lieber gar nicht erst.

Ebenso wenig wie von ÖRESUND (eigentlich: die Meerenge zwischen Dänemark und Schweden), der sich im kleinteiligeren Sortiment als Toilettensitz (Antikbeize oder Birke, 16,99 Euro) wiederfindet.

Nicht unerwähnt bleiben sollte derweil, dass eines der stylishsten und teuersten Sofas im Katalog den stolzen Namen STOCKHOLM trägt.

Die gute Nachricht freilich lautet: Die Dänen nehmen die Affäre gelassen, als brüderlich skandinavische Kabbelei eben. Gerüchteweise heißt es bloß, die Geschäftswelt denke über einen mehr oder weniger subtilen Gegenschlag
nach. Die dänische Carlsberg-Brauerei, munkelt man in Kopenhagens Kneipen, werde sicher bald ein besonders leichtes Light-Bier auf den Markt werfen – unter dem Namen einer hübschen schwedischen Stadt.

 

Die Entführung Europas

Die EU ist brennend attraktiv für ihre Nachbarn. Aber welchem Liebhaber soll sie sich hingeben?

Ein Date mit der Ukraine

Vasyl Filipchuk reicht die Hand und sagt: „Ich spreche noch ein bisschen Deutsch, ein kleines bisschen. Meine Großmutter sprach es als Muttersprache. Sie hat mir als Kind immer deutsche Märchen vorgelesen. Welche, weiß ich aber nicht mehr.“ Filipchuk stammt aus Tschernowitz in der Ukraine. Heute wohnt er in Brüssel, als Abgesandter seiner Regierung bei der Europäischen Union. Die Ukraine drängt nach Westen, und Vasyl Filipchuk ist einer der Diplomaten, die dieses Ziel mit Herzblut verfolgen. Auch wenn er nicht mit allem einverstanden ist, was die Brüsseler EU-Zentrale beständig an Regelungen und Bürokratie ausspuckt. „Aber welche andere Option haben wir?“, fragt Filipchuk. Russland doch bitte nicht! „Und die Schweiz sind wir auch nicht.“

amkiew-aug08-026.JPG
EU-reif? Die Europaflagge jedenfalls trägt das ukrainische Außenministerium schon

Filipchuk Heimatstadt Tschernowitz ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie hin- und hergerissen die Ukraine seit jeher zwischen europäischen und eurasischen Machtsphären war. Tschernowitz lag schon immer an der Grenze mehrerer Imperien, und sie tut es bis heute. Im Mittelalter war sie Teil des mächtigen Fürstentums Moldau, als dessen Nachfolger sich heute Rumänien und Moldawien sehen. Im 16. Jahrhundert fiel díe Stadt, nach mehreren Anstürmen türkischer Truppen, unter das Vasallentum des osmanischen Reiches. Am Reibepunkt der Großmächte der Osmanen, Österreich und Russland gelegen, fiel Tschernowitz 1775 unter österreichische Herrschaft. Hundert Jahre später gründete Kaiser Franz-Joseph I. eine deutsche Universität in der Stadt, die Franz-Josephs-Universität Czernowitz.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Tschernowitz mit dem Vertrag von St. Germain Rumänien eingegliedert. 1940 besetzten die Sowjets die Stadt, und nach einem nochmaligen rumänischen Herrschaftsintermezzo von 1941 bis 1944 wurde Tschernowitz schließlich Teil der Sowjetunion – bis sich die Ukraine 1991, dem Fall der Kreml-Herrschaft, unabhängig erklärte.

Es ist ein heißer Sommer in der EU-Hauptstadt, als ich Filipchuk treffe. Rund um die Villa der Ukrainischen Mission sind die Behörden in den Sommerschlaf gefallen. Filipchuk hingegen, der stellvertretende Leiter der Mission, ist eingeklemmt zwischen dringenden Telefonaten. Er entschuldigt sich zu Beginn des Gesprächs fürs Zuspätkommen, und am Ende klingelt ihn sein Handy aus dem gemütlichen Kaminzimmer.

Filipchuk liegt vor allem eines am Herzen: Europa muss aufhören, die Ukraine wie einen Nachbarn zweiter Klasse zu behandeln. „Macht keinen Fehler mit uns!“, sagt er. Aus dem Mann spricht Verbitterung. Warum, fragt er, wird es seinen ukrainischen Landsleuten immer noch so schwer gemacht, Visa für die EU zu bekommen? Warum ist es einfacher, eine Einreisegenehmigung für Amerika zu bekommen als für das Nachbarland Polen?

„Zehn Jahre sind vergangen seit dem ersten Partnerschaftsabkommen mit der Europäischen Union. Und was ist seither passiert? Nichts. Gar nichts. Die Reisebedingungen haben sich noch verschlechtert.“

In umgekehrter Richtung gilt das nicht. EU-Bürger brauchen bloß einen Reisepass, um in die Ukraine zu gelangen. Und hat man mit dem erst einmal die unfreundlichen Grenzbeamten hinter sich gelassen (ihre Mentalität sei ein Relikt aus Sowjetzeiten, entschuldigen sich zivile Ukrainer) , öffnet sich ein Land, dass sich mit Macht nach Westen stemmt.

ubahnkiew-aug08-032.JPG
Imperiale Pracht in der U-Bahn von Kiew

Der Mann an der Bahnsteigkante spricht kein Englisch, aber als er hört, wo der Besucher aus dem Westen hinmöchte, stellt er seine Aktentasche auf den Boden. Jetzt kann er besser mit den Fingern auf dem Kiewer Stadtplan hin- und herfahren. Sie nehmen die nächste U-Bahn auf der anderen Seite, macht er klar, dann zwei Stationen, dann umsteigen, bei der nächsten raus – und schon sind Sie da, Madain Nezalezhnosti. Independence Square, yes!, sagt er strahlend, während sein eigener Zug davonfährt.

Wahrscheinlich gehörte der Mann zu den Tausenden von Ukrainern, die im eisigen Winter 2004 so lange auf dem Zentralplatz der Stadt campierten, bis der Autokrat Leonid Kutschma aufgab. Die Menschen hatten die Selbstherrlichkeit und die offenkundigen Wahlfälschungen des moskautreuen Regierungschefs satt, ihr neuer Präsident sollte, machten die Orangenen Revolutionäre der Welt klar, Viktor Juschtschenko heißen, ein Beinah-Märtyrer der Demokratie. Noch gezeichnet von einer Dioxin-Vergiftung, die ihm mutmaßlich ein russischer Hintermännern Kutschmas beigebracht hatte, stellte Juschtschenko nach seiner Vereidigung fest: „Wir haben Europa nicht nur in geografischer Hinsicht gewählt, sondern auch wegen seiner geistigen und moralischen Werte.“

Vier Jahre später könnte ein hastiger Besucher glauben, Juschtschenko habe Recht gehabt. In der Innenstadt von Kiew funkeln nicht nur wieder die goldenen Kuppel der orthodoxen Kirchen, die die Ukrainer nach der anti-religiösen Sowjetzeit zurück in ihre alte Pracht versetzt haben. Es glitzern auch die Auslagen und Leuchtreklamen der großen westlichen Handelsketten. Zara ist da, Heiniken und BMW, und an der repräsentativen Stirnseite des Unabhängigkeitsplatzes prangt, fast als hätten die Wende-Stadtplaner das Klischee inszenieren wollen, McDonald’s gelber Doppelbogen.

maidankiew-aug08-010.JPG
Der Unabhängigkeitsplatz der Orangenen Revolutionäre heute

Doch wer hinter die Fassaden tritt, merkt schnell, das Kiew noch längst keine europäische Metropole ist – sondern bloß ein Potemkinsches Dorf des Westens. In den Wohnsilos am Rande der Stadt leben die Menschen in schlimmster postsowjetischer Tristesse, apathische Hausmeister wachen über Hochhauseingänge, die an Bunkerschächte erinnern, und vor den Türen lassen Jugendliche die Wodkaflaschen kreisen. Viele von ihnen hat das Vertrauen, das sie der neuen Führung nach der Orangen Revolution entgegen gebracht haben, enttäuscht. Das Dreamteam Viktor Jutschenko und Julia Timenschenko (Markenzeichen blonder Erntedank-Haarkranz) hat in der Wendezeit andere als kameradschaftliche Eintracht bewiesen.

Über die Frage, wie viel Macht Präsident und Ministerpräsidentin und Parlament einander zugestehen sollten, zerbrach die hoffnungsvolle Allianz, und an der grassierenden Korruption im Staate hat sich ebenso wenig geändert wie an der Macht der Oligarchen. „Gemessen an europäischen Regierungsstandards, ähnelt die Ukraine eher Pakistan als Polen“, stellt der reisende US-Gelehrte Parag Khanna fest.

blumenkiew.jpg
Blumenverkäuferinnen vor der St.Michaels-Kathedrale

„Auch wenn im Lande immer wieder nach externen Gründen für die außenpolitischen Probleme gesucht wird, steht die Ukraine sich in diesen Fragen derzeit klar selbst im Weg“, glaubt der Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew, Nico Lange. Vor allem in der Bekämpfung der endemischen Korruption gehe es kaum voran. Die Ukraine steht auf dem Bestechlichkeitsindex von Transparency International auf Platz 118, noch hinter Mosambik, der Mongolei, Burkina Faso und Ruanda. Ein Universitätsdiplom, heißt es, sei derzeit für etwa 500 Dollar zu haben. Die Befreiung vom Militärdienst koste ungefähr das Dreifache.

Wie sollte sich die EU verhalten gegenüber diesem willigen, aber unreifen Aspiranten? Fragt man ukrainische Politiker, ist die Antwort klar: Wir brauchen die EU, um uns zu reformieren. Im Außenministerium, dessen Fassade eine gigantische Europaflagge ziert, sagt ein Diplomat: „Es geht nicht zuletzt um das Gefühl, dazuzugehören.“ Aber wer hindert die Ukraine, ihre Gesetze dem acquis communitaire, dem Europäischen Gemeinschaftsrecht anzupassen? „Wir wollen unser Recht ja anpassen“, antwortet der Mann, „besonders das Wirtschaftsrecht. Aber dafür brauchen wir substanzielle Hilfe aus Brüssel. Beratung und Überwachung, unter anderem.“

babuschkiew-aug08-058.JPG
Touristensouvenirs – Bush und Putin als Babuschkas

Mächtige Stimmen innerhalb der EU sehen es genau umgekehrt. Die Ukraine müsse sich erst einmal aus eigener Kraft zur modernen Demokratie entwickeln. Ein Gesprächspartner aus Berlins Regierungskreisen fasst die deutsche Haltung so zusammen: „Die Mitgliedschaft in der EU ist kein Hebel zur Demokratie. Sie ist die Krönung. Demokratien in unserer Nachbarschaft zu stabilisieren, ist die Aufgabe kluger Außenpolitik, von Nachbarschaftsprogramm und von politischen Stiftungen.“ Die EU sei schließlich keine Erziehungsanstalt. „Das Schlagwort Erweiterung löst bei den Regierungschefs rund um den Brüsseler Ratstisch derzeit eher negative Vibes aus“, sagt einer, der es weiß. Im Abschluss-Communiqué des jüngsten EU-Ukraine-Gipfel wurde mit Bedacht ein Wort ausgespart. Das von der „Mitgliedschafts-Perspektive“. Die Ukraine wird zunächst mit einem „Assoziationsabkommen“ zur Förderung des Freihandels Vorlieb nehmen müssen – ebenso wie Albanien, Mazedonien und Serbien.

Vielleicht hat Europa seinen Namen noch so verdient wie heute. Er kommt von der griechischen Abendgöttin, die so verführerisch am Strand von Sidon spielte, dass der Gottvater Zeus sich schon nach kurzem Zuschauen in sie verliebte. Doch die Schöne gab sich höflich desinteressiert. Zeus musste sich in einen Stier verwandeln, damit Europa seinem Werben nachgab. Damenhafte Reserviertheit gegenüber voreiliger Nähe – ist das nicht genau die Haltung, die Europa heute ausmacht?

Wenn der Vergleich stimmt, dann stimmt es auch, dass die EU genauer hinsehen sollte, mit wem sie Bande knüpft. Die Ukraine hat sicher das Zeug zum Stier. Aber was ist ihr wahres Wesen?

Im zehnten Jahrhundert ruderten Wikinger in ihren Drachenbooten den Dnjepr von Ostsee bis zum Schwarzen Meer hinunter und fassten dabei auch in Kiew Fuß. „Rus“, Ruderer, nannten die slawische Bevölkerung die Siedler aus Skandivien. In Allianz mit örtlichen Fürsten trugen die Nordmänner wesentlich zur der Entstehung des Kiewer Reiches, sprich: zur Geburt Russland bei.

dnjeprkiew-aug08-065.JPG
Der Dnjepr trennt Ost- und Westukraine

Bis heute fühlt sich eine Mehrheit der Bevölkerung östlich des Dnjepr kulturell Russland zugehörig. Die Menschen im Osten der Ukraine (der Landesname bedeutet übrigens „Grenzland“) sprechen Russisch, und die Erinnerung an Sowjet-Zeiten ist bisweilen wehmütig.

Wenn die Menschen dort von der EU träumen, träumen sie nicht von einer transatlantischen Wertegemeinschaft, sondern von einer eurasischen. Die Variaton, welche die Ukraine für das traditionelle Selbstbild der EU hätte, zeigt sich in der strikten Ablehnung jeder amerikanischen Vormachtstellung. Während eine Zugehörigkeit zur EU selbst von moskautreuen ukrainischen Politikern unterstützt wird, lehnt der russland-orientierte Bevölkerungsteil des Land eine Mitgliedschaft in der amerikanisch dominierten Nato strikt ab.

Wohin würde also der Stier Ukraine die holde Europa entführen? In Mythologie ritt sie mit ihm nach Kreta. In unserer Zeit würde der Kurs nach Osten weisen. Oder, in anderen Worten: hin zu einem neuem Westen. Einem mit immer weniger Amerika. Die Frage, über die sich vielleicht auch die Ukrainer Gedanken machen sollte, lautet: Wollen sie wirklich die EU als EU? Wollen sie das Europa der havarierten Verfassungsverträge, der Karlspreise und der Förderbürokratie? Oder wollen sie die EU bloß als Alternative zu Russland? Das wäre ein großer Unterschied.

 

Steinmeiers Solo

Steinmeierisieren darf nicht jeder, wo käme die deutsche (und europäische) Außenpolitik da hin?

Ein schönes Sinnbild für die wenig einheitliche Außenpolitik der Europäischen Union gab am Montag die Seite 4 der Frankfurter Allgemeinen ab. Oben links im Blatt berichtete ein Artikel von einem Alleingang des Außenministers Frank-Walter Steinmeier. Er war am Rande der UN-Vollversammlung in New York für eine halbe Stunde mit dem kubanischen Außenminister Pérez Roque zusammengetroffen.
Damit durchbrach Steinmeier die Linie der EU, die sich zwar im Juni angekündigt hatte, die seit 2003 geltenden Sanktionen gegen das sozialistische Regime auf der Karibikinsel könnten aufgehoben werden. Position der EU ist es aber auch, dass es keine hochrangigen politischen Begegnungen geben soll, solange noch 230 politische Häftlinge in kubanischen Gefängnissen sitzen.

Aus dem Kanzleramt wurde Steinmeier deshalb für das Treffen gerüffelt.

Steinmeier selbst, das berichtet die FAZ auf derselben Seite unten links, habe derweil den deutschen Botschafter in Iran ins Auswärtige Amt einbestellt. Grund: Der deutsche Verteidigungsattaché sei bei einer Militärparade in Teheran zugegen gewesen, „obwohl die EU-Botschafter sich darauf verständigt hatten, der Veranstaltung fernzubleiben.“ Steinmeier, so die FAZ, sei über diesen Vorgang „sehr verärgert.“

Merke: Quod licet Jovi, non licet bovi. Was der Minister darf, ist dem Attaché noch lange nicht erlaubt.

Davon, dass Steinmeier für sein Solo beim Sachwalter der Europäischen Außenpolitik, Javier Solana, einbestellt worden wäre, ist übrigens nichts bekannt.

Hm. Wieso eigentlich nicht?

 

Niemand hat die Absicht…

mikko.png

… Weblogs zu regulieren!, stellt die Europaabgeordnete Marianne Mikko jetzt mal klar.

Die arme Estin. Hasstiraden von Bloggern aus ganz Europa sind ihr in den letzten Tagen entgegengeflogen. Denn die Sozialdemokratin hatte sich beklagt, dass in Weblogs oftmals „bösartig“ und mit „undurchschaubaren Motiven“ über die Europäische Union berichtet werde. „Lukaschenka!“, „Ceaucescu!“ habe der Cyberspace sie daraufhin getauft, berichtet sie. „Das war schon hart.“

Natürlich darf Frau Mikko (sie war zwanzig Jahre lang selbst Journalistin) die Inhalte von Wegblogs kritisieren. Wenn sie allerdings gleichzeitig einen Bericht für das Europaparlament verfasst, in dem davon die Rede ist, über den „Status“ von Weblogs müsse diskutiert werden, dann bekommt ihre Kritik gleich einen etwas anderen, nämlich doch regulatorischen Klang.

Nicht gerade beruhigend wirkt auch die Mitteilung der Grünen-Fraktion, das EU-Parlament sei gegen die „übermäßige“ Regulierung von Blogs.

Mit 307 zu 262 hat das Europäische Parlament gestern Mikkos Bericht über „Gemeinnützige Bürger- und Alternativmedien in Europa“ angenommen. Das Papier hält fest, dass Blogger einen Beitrag zur Meinungsvielfalt leisten. Die Abgeordneten fordern in der Resolution aber auch eine Diskussion darüber, was Blogger eigentlich sind (Journalisten oder nicht?) und welche Rechte und Pflichten für sie gelten sollten.

Nun könnte man meinen, diese Fragen seien durch die Wirklichkeit längst beantwortet.

Natürlich sind Blogger Journalisten, wenn sie regelmäßig und mit dem Anspruch auf Information über das Weltgeschehen berichten. Ebenso natürlich sagt das noch nichts über die journalistische Qualität ihrer Arbeit aus. In aller Regel wird die schlechter sein als die von professionellen Journalisten, weil viele Hobby-Blogger a) nicht gelernt haben zu recherchieren und zu schreiben und b) ihre Beiträge nicht von anderen Redakteuren gegengelesen und kritisch geprüft werden, bevor sie an die Öffentlichkeit gehen (mindestens Punkt b gilt übrigens auch für diesen Blog).
Andererseits gibt es Blogger, die in ihrem Spezialgebiet besser informiert sind und beeindruckender arbeiten als bezahlte Journalisten. Einen formalen Anspruch auf Anerkennung als Journalisten, sprich auf einen Presseausweis, haben sie freilich nur dann, wenn sie ihren regelmäßigen Lebensunterhalt aus der Bloggerei bestreiten.

Deshalb nichts wie rübergehuscht ins Parlament und Frau Mikko ein paar Fragen gestellt.

Also, Frau Mikko, was genau wollen Sie eigentlich regeln?

„Ich will darauf aufmerksam machen, dass Weblogs sehr trickreich sein können. Und dass sie bisweilen problematisch agieren, wenn es etwas darum geht, Quellen zu überprüfen oder Informanten geheim zu halten. Das beunruhigt mich ein bisschen. Sie wissen doch, wie viel Macht ein Wort haben kann. Worte können Menschen töten.“

Das stimmt. Aber damit das nicht passiert, gibt es doch längst Regeln in Europas Nationalstaaten, sogar solche, die die Freiheit des Wortes einschränken. Wer einen anderen beleidigt oder verleumdet, macht sich strafbar. Wer zur Gewalt aufruft, macht sich strafbar. Wer seine Informanten verrät, knippst sich als Journalist selber aus. Wer Unsinn berichtet, über den wird berichtet, dass er Unsinn berichtet.

Also, wo ist der Regelungsbedarf?

„Ich rufe dazu auf, dass Blogger wie menschliche Wesen handeln“, antwortet Mikko. „Ich rufe zum Humanismus auf!“

Das ist nie verkehrt. Gleichwohl provoziert es beim kritischen Blogger die Frage: Hat das Europaparlament eigentlich nichts Dringenderes zu tun? Zumal man dreimal raten darf, was aus Mikkos Bericht am Ende werden wird. Die Kommission wird ihn zur Kenntnis nehmen. Und der Rat (also die europäischen Regierungen) wird sich wahrscheinlich niemals mit dem Thema beschäftigen.

Zurück bleibt wieder einmal der Eindruck, dass sich das Europaparlament bisweilen benimmt wie eine NGO: Mit viel Tamtam „Bewusstsein schaffen“ für Probleme, und zwar im relativ sicheren Wissen, dass aus dem Tamtam nie Politik wird.

„Schreiben“, hat Mark Twain einmal gesagt, „ist gar nicht so schwer. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.“

Vielleicht sollte das Europaparlament diese journalistische Weisheit beherzigen, bevor es seine nächste Medieninitiative startet.