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Der Obama vom Bayerischen Hof

Wolfgang Ischinger ist der neue Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, die morgen beginnt.
Hohe Erwartung heften sich an seine diplomatische Kunst

Es gab einmal statischere Zeiten auf Erden, da hieß das jährliche informelle Weltgipfeltreffen in München »Wehrkundetagung«. Die „Wehrkunde“ hat sich als Kosename bei den ausländischen Gästen gehalten, nicht minder die Bezeichnung als “Nato-Kriegstagung” bei den Gegnern der Veranstaltung. Recht eigentlich und immer mehr aber verdiente die Sicherheitskonferenz im Hotel Bayerischer Hof den Namen Terrarium.

Denn ganz wie auf dem echten Planeten geht es dort eng, heiß und überbevölkert zu. Und es riecht nach Streit. Über dreihundert Teilnehmer werden sich von Freitag bis Sonntag im Saal des Hotels Bayerischer Hof drängen, unter ihnen mehr als ein Dutzend Staats- und Regierungschefs, rund fünfzig Minister und etwa siebzig offizielle Delegationen aus über 50 Ländern.

Drei Tage lang also sitzen die Spitzen der Weltpolitik gleichsam wie auf einer Herdplatte beieinander – was Annäherungen ebenso zwangsläufig wie unvorhersehbar macht. Entsprechend hoch sind in diesem Jahr die Erwartungen an den neuen Zeremonienmeister von München, dem für diesen Job vom Auswärtigen Amt freigestellten deutschen Spitzendiplomaten Wolfgang Ischinger. Der ehemalige Botschafter in Washington und London, ein Mann von ausgesuchter angelsächsischer Manierlichkeit, hat dieses Ehrenamt von Horst Teltschik übernommen, dem ehemaligen außenpolitischen Berater von Helmut Kohl. Teltschnik verstand es, als Moderator in München die Weltunordnung mit selbstbewusster Hilfe seines Oberstufenenglisch ebenso polternd wie kumpelhaft zu sortierten. Man wird, das sei gesagt, sein ranschmeißerisches Sag-Du-zu-mir an die Großen der Welt vermissen, denn es lag ein Restschein von Übersichtlichkeit darin.

In den Teltschik-Jahren immerhin war die Welt noch insoweit in Ordnung, als das amerikanische Zeitalter als unbeendet galt. Das änderte sich schlagartig am 9.Februar 2007. Da betrat Wladimir Putin das Münchner Podium, um kontrolliert zu detonieren. »Eine unipolare Welt (…) ist vernichtend, am Ende auch für den Hegemon selbst!«, rief er in die versteinerten Gesichter im Saal. Es war eine intellektuelle Kriegserklärung an das Überlegenheitsgefühl des Westens, und seitdem hat Russland mit Taten (Krieg mit Georgien) nachgelegt und bewiesen, »dass es sich seine Sicherheit nicht stehlen lässt wie Äpfel aus Nachbars Garten« (so der russische Nato-Botschafter Dimitri Rogosin).

Mittlerweile sind die Kriegsherren aus Washington von der Weltbühne abgetreten. Deshalb lautet die große Frage, ob es Ischinger gelingt, die Versöhnungschance, die womöglich zwischen Ost und West liegt, zu nutzen – als Obama vom Bayerischen Hof, gewissermaßen. So wird etwa der Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer am Rande der Konferenz das Gespräch mit dem russischen Vizepremier Sergej Iwanov suchen – ein bedeutender Schritt für das Bündnis, das sich nach der Georgien-Krise bis auf Weiteres vorgenommen hatte, die Beziehungen zu Russland einzufrieren. Nach und nach tauen sie auf, Russland darf beispielsweise auf Arbeitsebene wieder im Nato-Rat mitreden – aber von einem soliden, konstruktiven Verhältnis, das sich beide Seiten unter anderem wegen Afghanistan wünschen, ist man noch weit entfernt.

»Natürlich kann die Konferenz als Katalysator dienen«, gibt Ischinger bescheiden Auskunft. »Und ich überlege mir schon, was sinnvoller Weise bewerkstelligt werden kann.« Er könne »objektive Voraussetzungen« schaffen für Kontaktanbahnung hinter den Kulissen, sagt der Botschafter a.D. Immerhin habe Barack Obama soeben das 30 Jahre alte Tabu durchbrochen, auf keinen Fall mit dem Iran in einen Dialog zu treten. Es trifft sich, dass nun nicht nur der amerikanische Vizepräsident Joe Biden, sondern auch der iranische Parlamentspräsident Ali Laridschani nach München reisen. »Sicher kann ich«, sagt Ischinger, »falls das gewünscht ist, Hand- und Spanndienste leisten – etwa durch das Placement bei Tisch.« Nicht ausgeschlossen also, dass die ersten politischen Gespräche zwischen Washington und Teheran nach drei Jahrzehnten bei einem Abendessen stattfinden, das (sic!) Horst Seehofer als gastgebender bayerischer Ministerpräsident für die Staatsmänner ausrichtet. Ischinger will nichts versprechen, er hält’s mit Beckerbauer. »Schaun mer mal!«, sagt er frohgelaunt.

Wohl hat er sonst einiges anders organisiert als bisher: Die Panels sind größer, die Redezeiten für manche Diven der Weltpolitik kürzer als je zuvor. Nicht jedem gefällt das. Als ein »desaster in the making«, bezeichnen Ischinger-Kritiker die Vorbereitung der Konferenz. Aber im Grunde schwingt darin die übliche Hoffnung mit – auf großes politisches Kino.

Apropos Staatsmänner. Es gehörte bisher zu den – vor allem von Frauen ernsthaft beklagten – Münchner Gewissheiten, »dass man da immer nur auf alte Männer trifft« (O-Ton einer Nato-Diplomatin). Diese Tatsache trägt entscheidend zum Mief des 20. Jahrhunderts bei, der München noch immer umweht. Seither hat sich schließlich nicht nur Russland emanzipiert. Wolfgang Ischinger weiß um das Problem. Und bemüht sich um »Zustrom frischen Blutes«, vor allem weiblicher Provenienz. »Daran bin ich bisher kläglich gescheitert«, gesteht er. »Der Frauenanteil ist weiterhin beklagenswert niedrig.« Testosteron, wer will’s bestreiten, regiert die Welt.

 

Tatohr

In der Diplomaten- und Journalistenszene gilt Brüssel als einer der brutalsten Auslandsposten überhaupt. Kaum eine Woche vergeht, in dem nicht Kollegen erzählen, einer von uns sei wieder auf dem Nachhauseweg zusammengeschlagen, an der Ampel ausgeraubt oder am hellichten Tage zuhause um den Familienschmuck erleichtert worden. Botschaftspersonal, qua Beruf um Sympathie für das Gastland bemüht, rät einem, des Nachts das EU-Viertel zu meiden. Der belgische Staat habe nicht genug Geld, ausreichend Streifenwagen zu entsenden, heißt es.

Erst kürzlich musste ich am frühen Abend mitansehen, wie ein jugendlicher Krimineller einer Dame auf dem gegenüberliegen U-Bahnsteig die Handtasche entriss. Die Frau erging sich, versteinert, in einem Schreianfall.

Immerhin scheint die belgische Kriminalpolizei in den feineren Wohnvierteln jetzt zu innovativen Ermittlungsmethoden zu greifen. Eine zypriotische Diplomatin erzählte mir, nachdem vergangene Woche bei ihr eingebrochen worden sei, hätten die Beamten die Wohnungstür nach Ohrabdrücken abgesucht. “Die Täter horchen erst einmal eine Weile, ob jemand zuhause ist”, erfuhr die Geschädigte. Als Ergebnis der Spurensicherung habe ihr der Polizist mitgeteilt, es handele sich um die Ohren von “Gipsies”. Er könne das erkennen, sagte er, er habe Erfahrung.

Ohne mich je intensiver mit Tatohr-Ermittlungen (angeblich sind Ohrabdrücke genauso individuell wie Fingerabdrücke) beschäftigt zu haben, würde ich behaupten, die Polizisten müssen noch andere Anhaltspunkte für ihre Vermutung gehabt habe.

Andererseits achte ich seitdem im internationalen Bekanntenkreis sehr genau auf womöglich bislang unentdeckte, verräterische Ohrbesonderheiten. Man lernt ja nie aus.

 

„Man arbeitet wie unter einer Glocke“

Nach fünf Jahren im Europaparlament verlässt
Sahra Wagenknecht von der Linkspartei Brüssel.
Ein Resüme

Frau Wagenknecht, nach fast fünf Jahren im Europäischen Parlament zieht es Sie wieder in den Bundestag. Warum? Lässt sich als Abgeordneten in Brüssel und Straßburg nicht genug bewegen?

Offen gesagt, es lässt sich vergleichsweise wenig bewegen. Im Bundestag haben wir als Fraktion immerhin die Möglichkeit, Themen in die Öffentlichkeit zu ziehen und dadurch die anderen Parteien unter Druck zu setzen. Hier hingegen arbeitet man wie unter einer Glocke. Es ist deutlich schwieriger, Öffentlichkeit zu erzeugen und mit kritischen Positionen wahrgenommen zu werden.

Sie sind nicht die einzige Europapolitikerin, die von einer gefühlten Ohnmacht berichtet, und das, obwohl die Abgeordneten alles andere als unterbeschäftigt sind. Wie kommt das?

Nehmen wir die Berichte, die im Europäischen Parlament behandelt werden. Ein Teil davon wird nur für die Parlamentsakten geschrieben, da das EP bei vielen Fragen gar kein Mitentscheidungsrecht hat. Ich frage mich schon, ob das die anderen Parlamentarier nicht auch frustriert. Ich habe immer versucht, Transparenz für meine Arbeit im Wirtschaftsausschuss herzustellen, öffentlich zu informieren, was da läuft. Aber das ist furchtbar schwierig.

Klingt so, als hätten Sie die fünf Jahre in Brüssel auch gleich sein lassen können.

Nein, so nicht. Im Gegenteil, es ist enorm wichtig, dass es hier eine starke linke Fraktion gibt, die dem neoliberalen Mainstream konsequent widerspricht und in der Gewerkschaften und NGOs einen Ansprechpartner haben. Ich möchte die fünf Jahre EU-Parlament nicht missen. Aber für die Zukunft glaube ich, dass ich persönlich mich im Bundestag besser einbringen kann. Die Linke als Partei muss in Brüssel natürlich genauso präsent sein wie in Deutschland.

Nun sind Sie – trotz Brüssel – eines der bekanntesten Talk-Show-Gesichter der Linkspartei in Deutschland. Gleichwohl sprechen Sie bei diesen Gelegenheit eher über Bundespolitisches statt über Europäisches.

Das hat natürlich auch mit den Themen zu tun, zu denen ich eingeladen werde. Europa ist in deutschen Medien viel zu wenig präsent. Deshalb muss man in der Regel erst einmal wahnsinnig viel erläutern, bevor man zum Punkt kommen kann. Was sind „Richtlinien“? Welche Brüsseler Institution hat wo mitzureden? Erschwerend wirkt sicher auch diese Meta-Sprache, mit der man hier in Brüssel hantiert, diese vielen Abkürzungen, das ist normalen Bürgern kaum nahezubringen. Das muss man immer erst mal übersetzen.

Ist es Ihnen in Deutschland passiert, dass Leute nicht mitbekommen hatten, dass es Sie nach Brüssel verschlagen hat?

Leute, die mich auf der Straße ansprechen, gehen oft davon aus, ich sei im Bundestag.

Können Politiker dann überhaupt – ohne karrieresuizidal zu sein – reine Europapolitiker sein?

Das kommt darauf an, was man erreichen will. Als reiner Europapolitiker wird man sicher in Deutschland weniger öffentlich bewegen können. Fest steht für mich aber auch, dass ein qualifizierter Bundespolitiker zugleich europäische Kompetenz haben muss. Immerhin gibt die EU den Rahmen für einen Großteil der deutschen Gesetze vor. Es gehört also beides zusammen.

Es gibt Auguren, die prophezeien, die nichtbürgerlichen Parteien werden bei den Europawahlen am 7. Juni kräftig zulegen, sowohl am linken wie am rechten Rand. Zählen Sie auf ein paar Sitze mehr für die Linken in Europa?

Ich lasse den Nonsensbegriff der „nichtbürgerlichen Parteien“ jetzt mal unkommentiert. Was uns anbetrifft, so stehen wir mittlerweile natürlich bei ganz anderen Ergebnissen als 2004, als noch die PDS angetreten war. Ich rechne damit, dass wir in der nächsten Legislaturperiode mit annähernd doppelt so vielen Abgeordneten im Europaparlament vertreten sein werden.

Sie haben schon angekündigt, dass Sie die Wahl auch zu einem Referendum gegen den Lissabon-Vertrag machen wollen…

In Deutschland haben die Menschen nie eine Chance gehabt, über diesen Vertrag abzustimmen. In Frankreich gab es immerhin ein Referendum über den Verfassungsvertrag, den Vorgänger von Lissabon. Deswegen herrschen dort, wie auch in Irland, vergleichsweise gute Kenntnisse. Wir werden verdeutlichen, dass Neoliberalismus und Aufrüstung in Europa mit diesem Vertrag weiter verankert werden. Jede Stimme für die Linke ist auch eine Stimme gegen diesen Vertrag.

Kann das ernsthaft eine Botschaft für Wahlplakate sein?

Darüber werden sich die Fachleute Gedanken machen müssen, die unsere Plakate gestalten. In Frankreich könnte das gut sein. Für Deutschland muss man da mehr erläutern. Jeder weiss, was Hartz IV bedeutet. Bei dem Lissabon-Vertrag ist das für viele bei weitem nicht so klar.

Wie kommt es, dass es in Deutschland nicht einmal im Parlament eine echte Diskussion über den Lissabon-Vertrag gegeben hat?

Das müssen Sie die Parteien fragen, die den Vertrag so bedingungslos durchgenickt haben. Für die SPD kann ich mir das insoweit erklären, dass der Marktradikalismus im Lissabon-Vertrag – die Verankerung von unbegrenztem Wettbewerb und Kapitalfreiheiten – dem entspricht, was sie auch mit der Agenda 2010 verfolgt. Für den Normalbürger ist er so fatal wie diese.

 

Stolz vor Freiheit

Siehe an. Die EU hat einen Kunst-Skandal

Vielleicht ist dem Künstler David Cerny noch gar nicht klar, welch grandioses Werk er vollbracht hat.

Seit Anfang Januar hängt eine gigantische Installation des Tschechen im Brüsseler EU-Ratsgebäude. Sie zeigt die 27 Mitgliedsländer als eigenwillige Skulpturen in einem Ausstanzrahmen. Die meisten der Allegorien sind zwar ausgesprochen unoriginell (Holland ist eine Flut, aus der nur noch Minarette herausschauen, Polen ein Kartoffelacker, Schweden ein Ikea-Karton und Deutschland ein Autobahnnetz, in dem stereotyp denkende Menschen ein Hakenkreuz erkennen können), aber wer vor dem Gesamtwerk steht, ist dann doch beeindruckt vom handwerklichen Können, dem Mut und der Komik, die Cerny sich erlaubt hat.

Denn nicht nur hat er die tschechische Ratspräsidentschaft genarrt, indem er einfach alle Skulpturen selbst anfertigte, statt sie (Vielfalt, wichtig in der EU!) auf 27 europäische Künstlerateliers zu verteilen. Er hat auch die Liberalität und Toleranz des angeblich so liberalen und toleranten Staatenbundes herausgefordert. Ergebnis: Die EU fällt erbärmlich durch.

Sicher, man mag es anstößig finden, dass Cerny Bulgarien als Stehtoilette darstellt. Aber es ist nicht so, als gäbe es dafür keine Gründe. Erstens: Stehtoiletten werden in der lingua franca der Sanitärindustrie als Turkish Toilets bezeichnet und Bulgarien war Jahrhunderte lang Teil des osmanischen Reiches, was mancher dort bis heute einfach echt schl…echt findet. Zweitens sind nach Auskunft des Künstlers die archaischen Keramiken in Bulgariens Badezimmern weithin verbreitet. Und drittens versickern in Bulgarien jedes Jahr viele Millionen Euro Brüsseler Fördermittel in privaten Kanälen. Regelrecht weggespültes Geld, sozusagen.

Der bulgarische Botschafter freilich fordert, das Klo müsse verschwinden, und die Tschechen wollen ihr Geld zurück. Mittlerweile ist die Skulptur mit einem Tschador-artigen schwarzen Tuch überhängt. Schade. Bisher hatten wir gedacht, das europäische Imperium unterscheide sich vom Osmanenreich gerade dadurch, dass die Kunstfreiheit der Nationalheiligkeit vorgeht.

 

„Bürgerbefragungen wären gut“

Der CSU-Europapolitiker Manfred Weber widerspricht seinem Parteikollegen und EU-Kritiker Peter Gauweiler – aber auch er fordert mehr Legitimität für europäische Entscheidungen

Am 10. und 11. Februar verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die Vereinbarkeit des EU-Lissabon-Vertrag es mit dem Grundgesetz. Einer der Beschwerdeführer ist der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler. Er macht geltend, mit dem Reformvertrag erhalte die Europäische Union eine Staatlichkeit, die ihr wegen ihrer tiefgreifenden Demokratiedefizite nicht zustehe.

Die Tatsache, dass die Richter in Karlsruhe zwei Tage für die mündliche Verhandlung anberaumt haben, spricht dafür, dass sie erheblichen Fragebedarf sehen.

Tatsächlich würden mit dem Lissabon-Vertrag solche Politikbereiche einer supranationalen Gesetzgebungsinstanz unterworfen, die traditionell zu den vornehmsten Souveränitätsreserven der Nationalstaaten gehören, etwa die Justiz- und Innenpolitik.

Aber genau das muss auch passieren, kontert jetzt Gauweilers Parteikollege Manfred Weber. Die staatsrechtlichen Diskussionen, die manche Gemüter in Karlsruhe bewegten, sagt er, seien von gestern.

Weber, 36, ist der innenpolitische Sprecher der konservativen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. Der Ausschuss des Brüsseler Plenums, vor dessen Türen ich ihn treffe, diskutiert gerade über die Modalitäten der In- und Ausreise in den Schengenraum.

Wie, frage ich Manfred Weber, ist es seiner Ansicht nach mit dem Demokratieprinzip zu vereinbaren, dass Brüssel künftig Gesetze von bürgerrechtlicher Bedeutung erlassen können soll, die unter Umständen niemals vom Bundestag noch von der Bundesregierung gewollt waren?

Also, da muss man jetzt einen Schritt zurückgehen, antwortet Weber. Der Bundestag hat den Lissabon-Vertrag schließlich ratifiziert. Damit hat er sich entschieden, bestimmte Entscheidungen nach Brüssel abzugeben. Und das ist auch richtig so. Viele Herausforderungen, die wir heute haben, sind – gerade in der Verbrechens- und Terrorbekämpfung – nicht mehr auf nationaler Ebene lösbar.

Aber führt diese Verlagerung nicht dazu, dass immer mehr wichtige Angelegenheiten von der deutschen Öffentlichkeit gar nicht mehr diskutiert werden? Vom biometrischen Pass zum Beispiel, der als Richtlinie in Brüssel verabschiedet wurde, fühlte sich sowohl die Bevölkerung wie auch der Bundestag überrumpelt.

Das ist leider Realität. Zugestimmt hat jedoch die Bundesregierung. Deren Verhalten im Ministerrat muss unbedingt in der deutschen Öffentlichkeit und im Bundestag diskutiert werden. Aber es gibt auch positive Beispiele für europäische Initiativen. Wie zum Beispiel wollen Sie grenzüberschreitende Kinderpornographie bekämpfen? Wie wollen Sie den Datenmissbrauch bei Google beenden, wo ohne Ihr Wissen Datenprofile von Ihnen erstellt werden? Anderes Beispiel: Wie sollen Verbrecher bei offenen Grenzen wirksam verfolgt werden, wenn wir nicht europäisch handeln und mit anderen Polizei-Behörden Daten austauschen? Außerdem: Der Bundestag könnte jederzeit Debatten über europäische Themen führen. Dass das bisher viel zu selten passiert, liegt nicht in der Verantwortung von Brüsseler Politikern.

Weber ist ein Pragmatiker. Was europäisch ist, muss europäisch gestaltet werden, lautet seine Leitformel während unseres Gespräches. Und seine Hauptsorge: Wie lösen wir Probleme? Verbrechensbekämpfung, Nahrungsmittelsicherheit, Konjunkturprogramme – das seien doch alles supranationale, keine nationalen Angelegenheiten.

Webers Argumente leuchten ein. Aber sie werfen auch eine größere Frage auf. Nämlich: Entfernt sich die Politik mit diesem Steigflug in die internationale Sphäre nicht in einer Weise vom Bürger, die dieser als Entmachtung empfindet? Wen, mit anderen Worten, kann der Wähler im multilateralen Institutionengefüge von Brüssel denn für bestimmte Entscheidungen verantwortlich machen? Wen kann er mit seiner Stimme belohnen, wen bestrafen?

Sicher, sagt Weber, das Problem ist: Wir haben in Brüssel kaum Gesichter. Und Politik lebt von Gesichtern. Wenn wir die europäischen Themen transparent machen wollen, müssen wir sie vor allem in Deutschland diskutieren, in Berlin. Und das Europäische Parlament braucht mehr Gewicht.

Aber was nützt eine Debatte im Bundestag letztlich dem Bürger, wenn die deutsche Position im Brüsseler Ratsgebäude von anderen Regierungen überstimmt werden kann?

Aber das ist doch im deutschen Föderalismus auch so. Der bayerische Wähler muss doch auch damit leben, dass sein Wunsch im Bundesrat von NRW oder anderen Ländern überstimmt wird. Nichts anderes passiert auf europäischer Ebene. Der eigentliche Kompetenz-Verlierer der europäischen Integration ist der Bund.

Aber wie steht es um die Legitimität europäischer Entscheidungen? In Deutschland entscheiden immerhin noch von Deutschen gewählte Volksvertreter über Gesetze für die Wähler. In der EU entscheiden Abgeordnete aus Malta und Bulgarien und Vertreter von 26 fremden Regierungen über Gesetze für Deutschland. Im Falle von Gesetzen, die in Bürgerrechte eingreifen, ist das eine deutliche Schwächung ihrer Legitimation.

Ja. Deswegen bin ich auch der Meinung, dass wir eine neue Legitimität für die EU brauchen. Die Distanz zwischen der Elite und den Bürgern wächst, und zwar auch deshalb, weil die Elite den Bürgern das europäische Projekt nicht gut genug erklärt.

Wie ließe sich das ändern?

Ich glaube, Volksabstimmungen zu EU-Themen, wie sie unser Parteivorsitzender Horst Seehofer in Wildbad Kreuth vorgeschlagen hat, sind beispielsweise eine gute Idee. Denn sie würden bei den Eliten und Politikern den Zwang auslösen, sich gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen.

 

„Der Lissabon-Vertrag höhlt das Grundgesetz aus“

Immer mehr Gegner des EU-Reformwerks formieren sich in Europa. In Deutschland streitet der CSU-Mann Peter Gauweiler gegen den Vertrag. Er rechnet seiner Klage vorm Bundesverfassungsgericht gute Chancen aus

Die Reiter gegen den Lissabon-Vertrag sammeln ihre Truppen. In Brüssel eröffnete kurz vor Weihnachten die irische Gruppe „Libertas“ ihr Europa-Büro. Von hier aus will der Multimillionär Declan Ganley Fäden spinnen, um bei den Europawahlen am 7. Juni mit einer eigenen Partei anzutreten. Das einzige Ziel der neuen Formation ist es, das Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages zu verhindern.

In Irland hatte Ganley damit bereits Erfolg. Im vergangenen Juni lehnte eine knappe Mehrheit der Iren – auch infolge von Ganleys finanzkräftiger Kampagne – den Reformvertrag für die EU ab.

In Großbritannien versprach der Tory-Vorsitzende David Cameron unterdessen, den Lissabon-Vertrag einer Volksbefragung zu unterwerfen, sollte er an die Macht kommen. In der tschechischen Republik gründete ein Berater von Präsident Vaclac Klaus, der 32 Jahre alte Petr Mach, soeben die „Partei freier Bürger“, die sich ebenfalls zum Ziel gesetzt hat, das Aufwachsen der Europäischen Union zu einem Superstaat zu verhindern.

Und in Deutschland? Dort wagt es bisher nur ein einziger prominenter Politiker, gegen den Lissabon-Vertrag zu streiten. Peter Gauweiler, CSU-Bundestagsabgeordneter, hat gegen den Vertrag Verfassungsbeschwerde eingelegt. Seiner Ansicht nach würde bei einem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages die Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt ausgehebelt.

Am 11. und 12. Februar wird das Bundesverfassungsgericht über den Lissabon-Vertrag verhandeln.

Vor dem Verband der Deutscher Zeitschriftenverleger hielt der Beschwerdeführer Gauweiler kürzlich einen flammenden Vortrag über den seiner Ansicht nach falschen Integrationskurs Europas.

Darin sagte er unter anderem:

„Der Vertrag von Lissabon steht gegen das Demokratiegebot für alle deutsche Staatsgewalt, weil durch diesen Vertrag die Gesetzgebungskompetenz der deutschen Volksvertretung ausgehöhlt wird.“

Wie auch schon in diesem Blog geschehen, warnt Gauweiler davor, dass durch den Grundsatz der Doppelten Mehrheit im Europäischen Rat künftig einzelne Regierungen von anderen überstimmt werden können:

„Dabei kann es in Zukunft vorkommen, dass das deutsche Volk Rechtsakten unterworfen wird, denen die Volksvertretung vorher nicht nur nicht zugestimmt hat, sondern die gegen den erklärten Willen des Bundestags beschlossen worden sind.“

Als Beispiel führt Gauweiler in seiner Klage das – mittlerweile tatsächlich erlassene – Glühbirnen-Verbot durch die EU an:

„Der Bundesumweltminister scheitert im Bundestag mit seinem Wunsch, Glühbirnen in Deutschland als umweltschädlich verbieten zu lassen. Als nächstes bringt er diese Initiative im europäischen Rat ein, wo sie von seinen Ministerkollegen unterstützt und beschlossen und von der Kommission als Richtlinie erlassen wird. Dies führt nunmehr dazu, dass die deutsche Staatsgewalt eine solche Regelung vollziehen muss, obwohl sie zuvor vom Bundestag ausdrücklich abgelehnt worden war.“

Aber trägt daran nicht der Bundestag eine Mitschuld? Warum, möchte ich von Gauweiler wissen, haben die deutschen Volksvertreter beispielsweise ihrem Umweltminister nicht vor seiner Reise nach Brüssel Zügel angelegt? Sie könnten den Regierungsvertretern doch Auflagen und Begrenzungen mit auf den Weg geben. An die müssten die sich bei den Verhandlungen mit den 26 europäischen Kollegen halten.

Gauweiler gibt darauf die Antwort, die ich schon von anderen Bundestagsabgeordneten gehört habe:

„Allein die Masse an EU-Dokumenten macht es fast unmöglich, sich vernünftig mit dem Material, das aus Brüssel kommt, auseinanderzusetzen. Oft ist es auch noch fremdsprachig, so dass die Neigung, sich damit zu beschäftigen, bei vielen Abgeordneten, sagen wir mal, gering ist. Außerdem gibt es Beißhemmungen bei EU-Themen. Man hat den Eindruck, es mit einer Instanz zu tun zu haben, die wegen ihrer Komplexität beinahe unangreifbar ist.“

Galt diese Beißhemmung vielleicht auch für den Lissabon-Vertrag selbst?

„Natürlich. Ich kann mich erinnern, dass ich den konsolidierten Text des Vertrages erst fünf Tage vor der Abstimmung im Bundestag bekommen habe. Sicher, im Europa-Ausschuss war eine Anhörung durchgeführt worden. Aber die war einseitig besetzt mit kritiklosen Anhängern des EU-Apparates. Das war eine völlig einstimmige Veranstaltung. Beispielsweise durfte nicht einmal der ehemalige Bundespräsident, Präsident der Verfassungsgerichts und führende Grundgesetz-Kommentator Roman Herzog, der vor der Aufweichung deutscher Grundrechtestandards warnte, gehört werden. Das galt auch für andere kritische Verfassungsrechtler.“

Wie erklären Sie sich, dass es über den Lissabon-Vertrag in Deutschland insgesamt keine öffentliche Debatte gab? Bei jedem anderen Bürgerrechtsthema sind Parlamentarier und Medien extrem sensibel und wachsam. Über einen Vertrag, der in struktureller Weise in die Reichweite der Bürgerrechte eingreift, gab es dagegen keine Diskussion. Warum nicht?

„Nun ja, zunächst mal wurde das Parlament ja vor vollendete Tatsachen gestellt…“

…über den Lissabon-Vertrag, beziehungsweise die Europäische Verfassung, ist jahrelang diskutiert worden.

„Wo denn? An der Diskussion beteiligt waren europaweit vielleicht 10.000 Berufspolitiker und Experten. Eine Bürgerdiskussion gab es gerade nicht. Und dann kam hinzu, dass in der Schlussphase der Vertragsverhandlungen nicht über Juristisches, sondern nur über Politisches diskutiert wurde. Welche Opt-outs bekommen die Briten? Kann Angela Merkel den polnischen Kaczynski-Brüdern doch nur Zugeständnisse abringen? – Mit den eigentlichen Regelungsinhalten hat sich doch niemand mehr beschäftigt.“

Sie sagen, der Lissabon-Vertrag mache Europa nicht mehr, sondern weniger demokratisch. Warum?

„Der Lissabon-Vertrag installiert ein System über den Kontinent, das mit den Prinzipien der Gewaltenteilung nicht vereinbar ist. Selbst ‚ausbrechende‘ Rechtsakte der EU-Exekutive gegen jedermann werden nach Inkrafttreten des Vertrages nicht mehr durch das Bundesverfassungsgericht überprüft werden können…“

… aber schon heute überlasst das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Prüfung von EU-Recht – weil Karlsruhe davon ausgeht, dass die EU einen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet wie die Bundesrepublik Deutschland.

„Ja. Aber bisher konnte das Verfassungsgericht Entscheidungen immer noch wieder an sich ziehen, wenn es bestimmte rechtsstaatliche Standards nicht mehr gewährleistet sah. Diese ‚Reservefunktion‘ wird das Bundesverfassungsgericht unter dem Lissabon-Vertrag verlieren. Der EuGH, der nicht dem Grundgesetz verpflichtet ist, wird zur Letztinstanz auch für die Bundesrepublik Deutschland. Daraus ergibt sich, dass das Grundgesetz und seine Grundrechte kein Maßstab mehr für die Überprüfung von EU-Recht sein werden. Dieser Vorrang besteht auch für die in Lissabon vereinbarte ‚dritte Säule‘, also die Bereiche, die in der Bundesrepublik Deutschland im StGB, im der StPO, in der ZPO und die Polizeigesetzen der Länder geregelt sind. – Im 60. Gründungsjahr des Grundgesetzes wird die Schutzfunktion des Grundgesetzes für unsere Bevölkerung so außer Kraft gesetzt. Tatsächlich müsste das Bundesverfassungsgericht auch in Zukunft zuständig bleiben, einen ausreichenden Grundrechtsschutz auch gegenüber der EU zu gewährleisten.“

Ein Einwand gegen diese Lesart lautet, dass die nationalen Länderparlamente gegen EU-Rechtsakte, die gegen die Subsidiarität verstoßen, klagen können. Voraussetzung ist, dass sie dazu innerhalb von acht Wochen ein Viertel ihrer Mitglieder mobilisieren.

„Angesichts der parlamentarischen Abläufe ist die Annahme, dass die Frist eingehalten werden kann, völlig illusorisch. Außerdem, wer entscheidet über eine solche Parlamentsklage? Nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern auch wieder der EuGH.“

Mittlerweile macht sich selbst bei manchem Berufseuropäer in Brüssel ein mulmiges Gefühl über einige der zitierten Bestimmungen des Lissabon-Vertrages breit. Warum gibt es trotzdem noch immer keine kritische öffentliche Debatte?

„Erstens, weil Wissen etwas Belastendes sein kann. Und nicht jeder will sich mit jedem Wissen belasten. Zweitens hat natürlich jeder, der das Thema anspricht, Angst, Beifall von der falschen Seite zu bekommen. Deshalb hat auch die demokratische Linke den Verfassungsvertrag lange schweigend hingenommen.
Es war keine wirklich rationale Diskussion möglich, weil die Debatte sofort in ein Freund-Feind-Schema über die europäische Idee als solche abglitt. Jetzt erst erkennen zum Beispiel die Gewerkschaften, dass der Lissabon-Vertrag und die Rechtsprechung des EuGH ein Wirtschafts- und Menschenbild befördern können, das sich nicht mit den Wertvorstellungen unseres Grundgesetzes deckt, jedenfalls nicht in allen Punkten. Ich freue mich, dass mich immer mehr wichtige Verbände, darunter auch DGB-Gerwerkschaften, einladen, um zu diesem Thema zu sprechen. Hinter vorgehaltener Hand sagten mir schon vorher viele: Gut, dass du die Sache nach Karlsruhe gebracht hast.“

Der Berichterstatter für Ihre Verfassungsbeschwerde dort ist Udo di Fabio, ein als konservativ und europakritisch geltender Richter. Bekommen Sie schon Signale vom Gericht?

„Was heißt Signale? Immerhin hat das Gericht den Bundespräsidenten angehalten, die Ratifizierung für den Lissabon-Vertrag auszusetzen, bis eine Entscheidung in der Sache gefallen.“

Das heißt?

„Namhafte Verfassungsrechtler stützen mich in der Überzeugung, dass wir gute Chancen haben.“

 

„Ein anderes Russland kann Nato-Mitglied werden“

Liebe Leser,

willkommen im planetarischen Fortschrittsjahr 2009.

Für manche heißt es in diesem Jahr Abschied nehmen. Für George Bush, zum Beispiel. Im Zuge der Regierungsübergabe in Amerika wird voraussichtlich auch der stellvertretende Außenminister für Europa, Daniel Fried, einen neuen Posten bekommen.

Fried ist seit 31 Jahren Diplomat, er arbeitete bereits unter Bill Clinton im State Department und genießt bei seinen europäischen Kollegen hohes Ansehen.

Bei einem Gespräch, das ich zusammen mit drei anderen Journalisten mit Fried in Brüssel führte, sprach der Vize-Außenminister beachtlichen Klartext über die transatlantischen Beziehungen, das Verhältnis zu Russland und über die geplante Raketenabwehrstellungen in Osteuropa. Darunter war auch einiges Überraschendes. So wiederholte Fried trotz den jüngsten Verhaltens Moskau in der Gaskrise, Russland könne eines Tages Mitglied der Nato werden.

Aber hören Sie selbst.

Hier sind die wichtigsten Auszüge des Gesprächs als Audios:


„Die nächste US-Regierung muss ersthaft mehr mit Europa zusammenarbeiten“

Der Nachlass der Bush-Regierung und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen (1 Min.)


„Das löst ernsthafte Sorgen aus!“
Frieds Antwort auf die Frage, ob Russland mit Gas Politik betreibt
(2 Min.)

„Europa braucht weitere Energiequellen. Get started!“
Wie die EU langfristig ihre Gasversorgung sichern sollte gegenüber einem Russland, das möglicherweise weiterhin „Einflusspolitik“ per Pipelines betreiben wird (4 Min.)


„Wir wollen gute Beziehungen zu Russland“
„Aber diese Beziehungen müssen auf den Prinzipien des 21. Jahrhundert gegründet sein, nicht auf denen von Machtpolitik“ (40 Sek.)


„Die Antwort kann nicht sein, Russland zu umarmen, egal, was es tut“
Fried über die deutsche Politik gegenüber Moskau (1:15 Min.)


„Wir haben dazugelernt“
In Sachen Raketenabwehr bleibe das Kooperationsangebot gegenüber Russland auf dem Tisch (3:40 Min.)


„Wir haben unser Bestes gegeben“
Doch trotzdem halte das offizielle Russland an einem feindlichen Amerikabild fest (1:45 Min.)


„Natürlich könnte Russland Nato-Mitglied werden“
„Aber glauben Sie, das will es?“ (40 Sek.)

 

WG Adé

Die Sache ist dramatisch, und sie passiert ausgerechnet in der Adventszeit, in der eigentlich auch Karrierepolitiker eine Extra-Portion Nestwärme brauchen. Eine der von ihren Bewohnern meistgeschätzte Brüsseler WG löst sich auf. Cem Özdemir, de jure noch immer Abgeordneter im Europäischen Parlament, von den Grünen (Yes, we Cem!) als neuer Parteichef in die Heimat berufen, lässt seinen Wohngenossen, den FDP-Mann Jorgo Chatzimarkakis sitzen.

Unter vier Augen macht Chatzimarkakis keinen Hehl aus seinem Leid. Das belgische Mietrecht ist streng, ein geeigneter Nachfolger schwer aufzutreiben, und die Finanzkrise macht das Leben auch nicht leichter. „Mitte Dezember“, antwortet Chatzimarkakis bitter auf die Frage, wann ihn der Cem ihn endgültig verlasse.

Ach, wie viel europäische Versöhnung wärmte diese WG. Nicht nur versprühten der Grüne und der Liberale einen Hauch von Jamaika in den tristen Behördenbeton, auch dass es – auf europäischer Etage – harmonisch türkisch-griechisch geht, bewiesen sie, kretischer Saarländer und anatolischer Schwabe.

Zwar, berichten sie, sei man sich meist erst nach Mitternacht zuhause begegnet, dann aber ging man zielorientiert Probleme an. Wie lassen sich Socken beim Waschen auseinander halten (Cem: „Du musst sie halt verknoten!“), welcher Monty-Python-Streifen lässt sich schon wieder anschauen, und: welche Ausschuss-Sitzung ist morgen wirklich wichtig? Ganz im Ernst: Brüssel verliert eine Bedarfsgemeinschaft der ermunternden Art. Doch Chatzimarkakis reckt das Kinn: „Von uns wird man noch hören!“

 

Madame Oui

Zum Abschluss des EU-Gipfels zur Wirtschaftskrise war Angela Merkel gut gelaunt. Sie habe mal wieder „Ja“ gesagt zu europäischen Lösungen. Na ja…

Richtig freuen dürfte sich heute abend EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Er hatte vor dem Beginn des Gipfels gefordert, die EU-Mitgliedsländer müssten 1,5 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes ausgeben, um die Konjunktur anzukurbeln, europaweit etwa 200 Milliarden Euro. Darauf haben sich die Staatschefs der 27 Länder in Brüssel nun auch geeinigt.

Zudem stellten sie klar, dass Europa trotz der Wirtschaftskrise am Klimagroßziel festhalten werde, den CO2-Ausstoß bis 2020 um 20 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken.

Wieder einmal alles gut also in Brüssel? Nun ja. Hinter der zur Schau gestellten Einigkeit verbergen sich in Wahrheit noch immer sehr verschiedene Wirtschaftspolitiken. Was etwa Deutschlands Haltung zu Konjunkturprogrammen betrifft, gibt es streng genommen keine Neuigkeit – und was den Klimaschutz betrifft, eine neue Lastenverteilung.

In der Konjunkturpolitik hatte sich Merkel schon früh von den etwas krisenplanwirtschaftlichen Ausgabenzielen des Kommissionspräsidenten distanziert. Warum, fragte man im Kanzleramt, solle sich Deutschland ohne Not an einer Art europäischen Ausgabenpauschale beteiligen? Gerade erst schließlich habe Deutschland seinen Haushalt ausgeglichen, und was hülfe es letztlich, kommenden Generationen neue Schulden und höheren Steuerlasten zu hinterlassen?

Gegenüber beispielsweise Großbritannien, dessen Inlandsprodukt sich zu einem wesentlichen Teil aus Gewinnen aus Finanzdienstleistungen zusammensetzt, steht Deutschland in der aufkommenden Wirtschaftskrise noch immer vergleichsweise stabil da. Klar, dass es dem sonst eher EU-reservierten Gordon Brown da plötzlich leicht fällt, höhere europäische Ausgaben zu fordern. Klar auch, die Kanzlerin skeptisch ist, ob finanzielle Injektionen in die Volkswirtschaft ähnlich heilende Effekte erzielen könnten. Deutschlands Wirtschaftsleistung hängt zu 40 Prozent vom Export ab. Da zeigen Investionen in die Binnenmarktnachfrage weniger Effekte als in anderen Ländern.

Deswegen hat Merkel in Brüssel nicht mehr versprochen als sie es schon in Berlin getan hatte. Konjunkturausgaben ja, aber nur solche, die ihr im Hinblick auf die nationale Volkswirtschaft sinnvoll erscheinen. Das könnten etwa sein: öffentliche Bauprojekte (auch mitfinanziert von den Bundesländern), die steuerliche Abschreibung von Krankenkassenbeiträgen, oder der Ausbau von High-Speed-Internetverbindungen. Schon vor dem Gipfel hatte die Bundesregierung für derlei Maßnahmen 31 Milliarden Euro eingeplant. Draufgelegt hat Merkel in Brüssel nichts – weder Konsumgutscheine noch Mehrwertsteuersenkungen. „Wenn wir nach der Krise in jedem Haushalt – auch im ländlichen Raum – Breitbandanschlüsse haben, dann haben wir von dieser Krise etwas gehabt“, so die Kanzlerin zum Abschluss des Gipfels im Brüsseler Ratsgebäude.

Etwas gehabt von der Krise hat auch die europäische Klimapolitik: einen Zuwachs an Ehrlichkeit. Zwar halten die Staatschefs hartnäckig am 20-20-20-Ziel fest. Doch angesichts der Bedrohung, die der Klimaschutz für Arbeitsplätze haben kann, machten einige europäische Regierungen klar, dass es für sie plötzlich Wichtigeres gibt als die Rettung der Welt vor dem Hitzetod.

Und so werden die westeuropäischen Regierungen den osteuropäischen Partner, deren Hauptstromquelle Kohlekraftwerke sein, unter die Arme greifen, wenn es dereinst darum geht, CO2-Zertifikate für die Rauchschleudern zu erwerben. Zudem sollen bestimmte ernergieintensive Branchen von der Vollauktionierung der Verschmutzungszerfikate ausgenommen werden, sprich: das Recht zum CO2-Ausstoß wird zwar limitiert, aber gratis verteilt.

Einer, der die Folgen dieses EU-Gipfels ganz nüchtern auf den Punkt bringt, ist der tschechische Außenminister Karl Schwarzenberg. „Alles in der Politik ist auch Mode“, erklärte der 71-jährige erfahrene Staatsmann. „Und die Kohlenkraftwerke im Osten, Automobilwerke in Deutschland etc. zu retten, ist derzeit eben wichtiger als die Welt zu retten. In der Wirtschaftskrise bedenkt man auch andere Prioritäten. Der globale Klimaschutz wird sich jedenfalls verzögern.“

Ein hübsches Stück Klartext, von dem Europa in den kommenden Monaten noch mehr erleben dürfte. Am 1. Januar übernehmen die Tschechen die Ratspräsidentschaft.

 

Seit 60 Jahren gelten die Menschenrechte. Oder?

Vor sechzig Jahren, am 10. Dezember 1948, verabschiedeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie definieren den Minimalschutz, der jedem Erdenbürger gegenüber staatlicher Macht zusteht.

Doch wie steht es um die Achtung der Menschenrechte in der praktischen Außenpolitik Europas? Am Beispiel des Umgangs mit dem Repressionsregime in Usbekistan zeigt sich eine zwiespältige Bilanz

Ein Report

Im Mai 2005 verübten usbekische Sicherheitskräfte in der Stadt Andischan ein blutiges Massaker. Mehrere hundert friedliche Demonstranten starben im Kugelhagel. Angeblich, so die usbekische Regierung, habe es sich um eine Veranstaltung von militanten Islamisten gehandelt.

Die Europäische Union verhängte als Reaktion im November 2005 ein Einreiseverbot gegen jene Politiker und Militärs, die für das Blutbad verantwortlich gewesen sein sollen.

Mitte Oktober diesen Jahres nun hob die EU die Reisebeschränkung auf. Treibende Kraft hinter diesem Schritt war die deutsche Bundesregierung. Andere Länder, unter ihnen Tschechien, Großbritannien, und Schweden, hatten Vorbehalte, schwänkten aber – mit Ausnahme der Niederlande – letztlich auf die Berliner Position ein. In Kraft blieb allerdings ein Waffenembargo, das nach dem Bluttag von Andischan ebenfalls gegen Usbekistan verhängt worden war.

Die europäischen Außenminister lobten am 13. Oktober in Luxemburg „die Fortschritte, die Usbekistan seit einem Jahr im Bereich der Achtung der Rechtstaatlichkeit und des Schutzes der Menschenrechte erzielt hat“. Die Regierung in Taschkent habe nicht nur eine inhaftierte Dissidentin zur medizinischen Behandlung nach Deutschland reisen lassen, sondern auch die Todesstrafe abgeschafft und den Habeas-Corpus-Grundsatz (Schutz vor willkürlicher Inhaftierung) eingeführt.

Freilich gibt es auch weniger ideelle Motive für die Wiederannährung an das usbekische Regime. Ein wcihtiges ist die Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung.

„Natürlich können wir Leute treffen, denen Blut an den Händen klebt“

Gegenüber dem usbekischen Sicherheitsdienst verfolgt der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) eine „partner policy“ regelmäßiger Kontakte und punktueller Zusammenarbeit. Aus zwei Gründen haben die deutschen Geheimdienstler ein dringendes Interesse am Austausch mit dem usbekischen Apparat. Zum einen grenzt das islamische Land an Nordafghanistan, wo über 3000 Bundeswehrsoldaten stationiert sind. Im usbekischen Termes unterhält die Luftwaffe ein Drehkreuz, über das sie in speziell geschützten Transall-Flugzeugen Nachschub und Personal auf die südliche Seite des Hindukusch schafft.

Zum anderen hält der BND die Islamic Movement of Usbekistan (IMU) für eine potenzielle Bedrohung auch deutscher Zivilisten in der Heimat. Die Kämpfer der IMU sollen nicht nur enge Kontakte zu den Taliban im Nachbarland pflegen, sondern auch Beziehungen nach Europa.

„Usbekistan in ein gutes Beispiel dafür, dass man die Gesprächsfäden nicht abreißen lassen darf, auch wenn offizielle Kontakte schwierig sind“, erklärt mir ein ranghoher BND-Beamter. Politik und Diplomatie seien die offenen Etagen der Außenpolitik – die Geheimdienstarbeit dagegen die Arbeit im Keller.

„Natürlich kann man bei seinen Kontakten irgendwo in der Welt auch auf Leute treffen, die für Politiker nicht satisfaktionsfähig sind, denen manchmal vielleicht sogar Blut an den Händen klebt”, berichtet der Beamte. Ein unkeusches Geschäft, sicher. „Aber dafür”, sagt der Geheimdienstler, „sind wir nun einmal da.”

Nicht jeder Geheimdienstler ist zum Helden geboren

Wo aber verlaufen die Grenzen zwischen legitimer Auslandsaufklärung und zynischen Schmuddelspielen? Was, wenn die Informationen der usbekischen Geheimdienstoffiziere – wie man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen muss – aus Foltersitzungen gewonnen wurden? Das wisse man im konkreten Fall so gut wie nie, lautet die Standardantwort des deutschen Geheimdienstes. Mit anderen Worten: lieber gar nicht erst genauer nachfragen.

„Natürlich vermeidet die Gegenseite, dass wir Gefängniszellen oder Verhörzellen zu sehen bekommen”, sagt ein BND-Mann, der selbst schon in Usbekistan war. „Letztlich ist es eine Frage des persönlichen Mutes, ob man Haftbedingungen anspricht.” Nicht jeder Kollege, gibt der Mann zu, sei zum Helden geboren.

Das Geheimdienstgeschäft freilich ist eines des Gebens und Nehmens. Oft kommt es deshalb vor, dass die ausländischen Counterparts von ihren deutschen Kollegen verlangen, sie sollten ihnen Informationen über Oppositionelle im europäischen Exil zukommen lassen. In dieser Hinsicht, heißt es aus dem BND, sei man allerdings “absolut restriktiv” – niemand werde verpfiffen. Als Ergebnis, so Geheimdienstler, endeten manche Zusammentreffen mit Counterparts aus Unrechtsstaaten in gegenseitiger Frustration.

Die Arbeit im Keller kann allerdings auch die Fundamente für eine Annäherung legen, die die Bundesregierung später gern mit Stolz als erfolgreiche Wandelpolitik verbucht. Geheimdienstler gelten in Überwachungsstaaten oftmals als mächtige Regierungsakteure. Mit entsprechender Wertschätzung werden BND-Vertreter bisweilen auf ihren Missionen in der zweiten und dritten Welt hofiert. Unversehens können dann Geheimdienstler politische Anbahnungsgeschäfte betreiben, sie können das Eis brechen, das Außenminister nicht brechen dürfen, oder Botschaften und guten Willen übermitteln, die sonst womöglich nie in Berlin ankämen.

„Manchmal”, berichtet ein Geheimdienstler, „kann man persönliche Kontakte auch nutzen, um einen Gefangenen aus seinem Verließ zu holen.“ Und langfristig vielleicht sogar, um einen Kerker ganz zu schließen. Das jedenfalls ist das Ziel der, wenn man so möchte, “neuen Ostpolitik” der Bundesregierung.

Ein Pressefreiheitsseminar, das die EU als großen Schritt feierte, war eine Farce

„Die zentralasiatischen Länder fühlen sich zwischen Russland und China eingeklemmt. Und weil sie sich aus dieser Klammer lösen wollen, suchen sie die Nähe zu Deutschland“, sagt die CDU-Europaabgeordnete Elisabeth Jeggle. Die Baden-Württembergerin war erst kürzlich wieder in Usbekistan. Seit dem Einmarsch russischer Truppen in Georgien, berichtet sie, wachse dort die Angst, der große Nachbar könne auch die Usbeken mit Gewalt gefügig machen. „Wenn wir die Region für den Westen nicht verlieren wollen, brauchen wir gute Beziehungen zu Usbekistan und zu Zentralasien als Ganzes.“ Sicher, die Menschenrechtslage sei längst noch nicht befriedigend. „Aber es gibt Fortschritte“, beharrt Jeggle.

„Mit Befriedigung“ nahm der Rat der Europäischen Außenminister im Oktober etwa zur Kenntnis, dass Anfang Oktober in Taschkent ein Seminar über Medienfreiheit abgehalten wurde. Dies sei ein wichtiger Schritt zur Öffnung des Landes an westliche Standards gewesen.

Mehrere Teilnehmer der Veranstaltung indes können nicht erkennen, was an diesem Ereignis auch nur annähernd befriedigend gewesen sein soll. „Wir hofften, es wäre ein Signal für Wandel“, sagt Jacqueline Hale, die für das Open Society Institute von Brüssel nach Usbekistan reiste, um das Seminar zu verfolgen. „Tatsächlich waren wir NGO-Vertreter Teil einer Propaganda-Show. Die angeblichen usbekischen Journalisten waren Apparatschiks. Sie zeigten uns tolle neue Computer, aber als wir fragten, warum kein Reporter über Machtmissbräuche der Regierung oder die Kinderarbeit auf den Baumwollfeldern berichteten, leugneten sie, dass es so etwas überhaupt gäbe.“ Andrew Stroehlein, Pressechef der International Crisis Group, bestätigt: „Die Konferenz überstieg alle meine Erwartungen des Surrealen.“

Warum, fragen die Menschenrechtsgruppen, hat die EU die deutlichen Berichte der Seminar-Teilnehmer nicht zu Kenntnis genommen? Warum bekommen NGOs nicht die politischen Strategiepapiere der Brüsseler Außenpolitiker?

Es stimme, sagt die EU-Abgeordnete Jeggle, dass das Medienseminar nicht den Erwartungen der Europäer entsprochen habe. Doch die Haltung vieler NGOs findet sie schlicht zu ungeduldig. „Tatsache ist: Die Zahl der Gefangenen dort geht zurück. Dem Roten Kreuz wird Zugang zu Gefängnissen gewährt. Ich selbst habe mit Häftlingen gesprochen. Unsere Menschenrechtsarbeit“, versichert Jeggle, „ist nicht bloß Theorie – aber es ist halt elend zäh.“

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