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Warum die Iren „Nein“ gesagt haben

Eine statistisch-individuelle Betrachtung

Bis zum Oktober, so das Ergebnis des EU-Gipfels von vergangener Woche, soll die irische Regierung in sich gehen. Dann, beim nächsten EU-Ratstreffen, soll sie sich und dem Rest von Europa erklären können, warum ihr Volk so versagt hat. Vor allem Deutschland und Frankreich nämlich gilt das irische Nein zum Lissabon-Vertrag als dummer Fehltritt, der korrigiert werden müsse. „Streng genommen muss man ja nur vier Prozent umstimmen“, sagt ein erfahrener deutscher EU-Politiker.

Dabei ist schon heute ziemlich klar, warum 53 % der Iren mit Nein gestimmt haben. Eine Umfrage des Gallup-Institutes im Auftrag der EU-Kommission liefert recht präzise Auskünfte über die Motive der EU-Verweigerer.
Was zeigen sie? Vor allem eins: Die Gründe für die Skepsis gegenüber der Brüsseler Zentralgewalt sind tiefgreifender, als es der Großteil der EU-Führer wahrhaben möchte. Jedenfalls scheinen sie nicht binnen weniger Monate oder durch kleinliche Zugeständnisse an die Iren „heilbar“ zu sein.

Ergänzend zu der Analyse von Gallup sei an dieser Stelle ein Leserbrief dokumentiert, der die ZEIT aus Dublin erreichte. Der Internet-Unternehmer John Ring schildert darin in sachlichem, unaufgeregtem Ton dreizehn Gründe für die Ablehnung des Lissabon-Vertrags. Sein Brief ist geeignet, tiefes Nachdenken auszulösen.
John Rings erster Grund für die Ablehnung von Lissabon lautet:

1 – Gebildete, intelligente Menschen konnten den Vertrag nicht lesen oder verstehen.

Dieser persönliche Befund deckt sich mit dem statistischen Hauptgrund für die Ablehnung in Irland. 22 % der Befragten sagten, sie hätten „nicht genug über den Vertrag gewusst und wollten nicht über etwas abstimmen, was ich nicht verstehe“.

Unser Leser fährt fort:

2 – Lissabon sollte die EU „demokratischer“ machen. Dennoch hat nur Irland mit 1% der EU Bevölkerung seine Bürger nach deren Meinung gefragt – und dies auch nur weil unsere Regierung dazu verpflichtet war.

Die Frage, für wie demokratisch die Iren die EU halten, taucht in der Gallup-Umfrage nicht auf. Aus ihr geht aber hervor, dass die Iren keineswegs EU-feindlich eingestellt sind. Nur fünf Prozent gaben als Grund für ihre Nein-Stimme an, sie seien „gegen die Idee eines vereinten Europas.“ Das zweitwichtigste Motiv für die Ablehnung (12 %) lautete allerdings, „die irische Identität schützen“ zu wollen.

Interessanter – und für die EU-Führer vermutlich schockierender – ist allerdings der Befund, dass die Zustimmung zum Lissabon-Vertrag abnimmt, je jünger die Befragten sind. Die meisten Nein-Sager (65 %) gab es in der Altersgruppe zwischen 18 und 24 Jahren. Die höchste Zustimmung (58 %) bei den über 55jährigen.

Nach der Undurschaubarkeit des Vertrages und der Angst um die nationale Identität gab es vier drittwichtigste Gründe (je 6 %) für die Nein-Sager: „Die irische Neutralität in Sicherheits- und Verteidigungsfragen aufrechtzuerhalten“, „Ich traue unseren Politikern nicht“, „Wir werden das Recht auf einen Kommissar in jeder Kommission verlieren“ und „Unser Steuersystem muss beschützt werden.“

In den Worten von John Ring:

3 – Die meisten irischen Politiker und Parlamentsmitglieder, sowie viele ihrer EU Kollegen, wollten eine „Ja“-Stimme – jedoch hatten nach eigenem Zugeständnis nur wenige den Vertrag gelesen oder seine Auswirkungen bedacht.

4 – Die Franzosen und Holländer haben gegen die EU-Verfassung gestimmt. Dies ist dasselbe Dokument mit geringfügigen Änderungen.

5 – Extremisten, die ein „Nein“ befürworten, haben viele Lügen erzählt, welche keine vernünftige Person glauben würde. Dennoch waren sie die einzigen, die diese Fragen besprochen haben. Die Ja-Leute sagten „vertraut uns“. Ich vertraue ihnen nicht, was die Kommentare von vielen EU-Politikern nach dem Resultat bekräftigen, die sagen „Lissabon ist nicht tot“, obwohl wir im Voraus gewarnt wurden, dass es jedes Land ratifizieren muss.

6 – Lissabon befürwortet eine gemeinsame EU-Außenpolitik. Wenn wir den März 2003 vor der Irak-Krise bedenken, hätte es hier für Frankreich, Deutschland und Großbritannien wirklich eine einheitliche EU-Irak-Politik geben können? Für die meisten ernsten Probleme unserer Zeit scheinen die derzeitigen EU-Strukturen ausreichend.

7 – Jedes Land sollte hauptamtliche Kommissar(e) haben und ja, ein einfacher Mechanismus sollte gefunden werden, welcher es ermöglicht einstimmig zu verhandeln, zum Beispiel bei Energie-Gesprächen mit Russland. Aber ich will nicht, dass ein nicht gewählter (von der Bevölkerung) EU-Präsident mein Land auf andere Art repräsentiert, als es gegenwärtig der Fall ist.

8 – Ich will keine EU-Armee, trotz der Tatsache, dass Krieg leider manchmal notwendig ist. Obwohl eine Nation durch dieses Abkommen – bisher – nicht gezwungen wird einen Verteidigungsfond zu akzeptieren oder einen Beitrag dazu zu leisten, weist es doch in diese Richtung, und ich bin damit keinesfalls einverstanden.

9 – Obwohl wir mit EU-Ländern zusammen arbeiten, diktiert der globale Handel, dass wir auch mit diesen konkurrieren. Ich benötige einen 100 % garantierten, eindeutig formulierten Vorbehalt, dass unsere Körperschaftssteuersatz weder jetzt noch in Zukunft jemals geändert wird, es sei denn es wurde von der irischen Regierung gefordert.

10 – Einige Aspekte des Abkommens werden „zu einem späteren Zeitpunkt“ erläutert. Dafür kann ich nicht stimmen.

11 – Rechtsexperten, die Lissabon studiert haben, denken (sind sich aber nicht sicher), dass wir niemals wieder die Gelegenheit haben werden über bedeutende Fragen im Bezug auf die EU abzustimmen. Ist das wahr? Niemand scheint dies mit Sicherheit sagen zu können.

12 – Die positiven und sehr wichtigen Fragen des Lissabon-Abkommens, wie Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung usw., sollten sehr schnell in die Tat umgesetzt werden. Warum werden die offensichtlich guten Dinge mit den umstrittenen vermengt?

13 – Das Veto eines jeden Landes wird durch eine „qualifizierte Mehrheitsabstimmung“ bei wichtigen Fragen ersetzt, was voraussichtlich für viele EU Nationen ernsthafte unvorhergesehene Auswirkungen haben wird. Gerade erst haben Sie den Wert eines Vetos erlebt.

Auch diese Eindrücke unseres irischen ZEIT-Lesers decken sich denen der Allgemeinheit. Eine große Mehrheit der Iren (68 %) sagte, dass die „Nein“-Kampagne überzeugender gewesen sei als die „Ja“-Kampagne. Sogar die Mehrheit der Ja-Sager (57 %) sah dies so. Nur ein Prozent der Nein-Sagen allerdings finden, wie John Ring, dass die EU eigentlich ganz gut funktioniert.

So gut wie keine Rolle spielte laut der Gallup-Umfrage indes, dass aufgrund von EU-Recht möglicher Weise die Schwulen-Ehe, Abtreibung oder Sterbehilfe in Irland erlaubt werden könne. Diese Sorge geben nur 2 % der Nein-Sager als ihr Motiv an. Auch für John Ring waren diese Aspekte kein Thema.

Die Drohungen von EU-Politikern, deren Arroganz und vorherige Weigerung, auf zwei „nein“-Stimmen zu hören, die Kredit-Krise, Immigration, Abtreibung, Arbeiter-Rechte, Ölpreise, Inflation, Arbeitsplatz-Verluste, EU-Recht und örtliche politische Fragen haben meine Stimme in keinster Weise beeinflusst.

Was jetzt tun?, fragt John Ring. Schließlich will er nicht als EU-Gegner gelten, bloß weil er gegen den Lissabon-Vertrag war. Auch diese Sorge deckt sich wohl mit der vieler anderer Iren.

Ich will engere politische Verbindungen und tiefer gehende Integration innerhalb von Europa. Ich wollte nicht „Nein“ stimmen, da ich sowie die meisten Iren die ich kenne, sehr für Europa eingestellt bin. Wir wissen, dass hier unsere Zukunft liegt.

Was soll Brüssel jetzt tun? Die oben genannten Punkte korrigieren, alle EU Bewohner bitten darüber abzustimmen (statt 27 gefügige Regierungen dazu zu bringen es zu ratifizieren ohne es zu lesen), uns nicht auf zu fordern einfach zu glauben, dass eine neue Verfassung – Entschuldigung „ein neues Abkommen“ – das wir nicht verstehen, in Ordnung ist und ja, ich werde dafür stimmen. Anderenfalls bin ich mit den Dingen zufrieden so wie sie jetzt sind.

Jenen, die durch unsere „Nein“-Stimme frustriert sind, möchte ich respektvoll nahe legen, dass deren Bevölkerung, wenn sie gefragt würde, möglicherweise dasselbe sagen würde.

John Ring

GEC, Taylor’s Lane, Dublin 8, Irland

 

Die Legende von Lissabon

Da wäre sie also, die Lösung der Iren-Krise. Bis zum 15. Oktober wollen die 27 Staatschefs der Europäischen Union den Iren Zeit geben, über die Gründe und Folgen des Neins zu Lissabon nachzudenken. Dann soll der Dubliner Ministerpräsident Brian Cowen einen „Bericht“ vorlegen. Über den soll dann noch einmal beraten werden. Einstweilen jedenfalls sollen die übrigen Staaten den Reformvertrag weiter ratifizieren. Soweit die Schlussfolgerungen des Brüsseler „Krisen“-EU-Gipfels.

Die unausgesprochene Hoffnung bei all dem lautet, dass sich die EU-Rebellen schon wieder einfangen lassen. Jeder, so ist hinter vorgehaltener Hand auf den Fluren des Brüsseler Ratsgebäudes zu hören, dürfe sich schließlich mal einen Fehltritt leisten. Hauptsache, er kommt irgendwann wieder zur Vernunft.

Zum Lissabon-Vertrag, das machte Bundeskanzlerin Angela Merkel klar, gebe es keine Alternative. „Lissabon ist besser geeignet, den Sorgen der Menschen über Europa Rechnung zu tragen“, sagte sie. Und meinte die legendäre Brüsseler Bürokratie sowie das gefühlte Demokratiedefizit der Union. Die Europäische Union, so die leidenschaftliche Überzeugung der Kanzlerin, werde mit Lissabon „demokratischer, effizienter und transparenter“, gerade von Europaskeptikern müsse er dem bisherigen, sperrigen Nizza-Vertrag vorgezogen werden. „Der Lissabonner Vertrag ist einfach viel näher am Bürger“, so die Kanzlerin.

Dann aber sagte Merkel etwas, das über den Krisentag hinaus nachdenklich werden lässt. Nachdenklich darüber, ob die Effizienz Europas tatsächlich von seinen Rechtsgrundlagen abhängt. Oder ob es nicht vielmehr auf die Entschlossenheit seiner Staatschefs ankäme, den Kontinent zu bewegen.

Sie stimme, sagte die Kanzlerin, dem französischen Präsidenten Sarkozy darin zu, dass es ohne den Lissabon-Vertrag keine Erweiterung der Europäischen Union geben könne. Weder die Türkei, noch Kroatien, das auf einen Beitritt 2010 hofft, könnten ohne die neuen Spielregeln dem Club beitreten.

„Ich stimme dem [Sarkozys Statement] zu, weil der Vertrag von Nizza die Union in der Tat auf eine Mitgliedschaft von 27 Mitgliedern beschränkt.“

Das ist schlicht falsch. Der Vertrag von Nizza, also die jetzt gültige Rechtsgrundlage für die Europäische Union, lässt Erweiterungen durchaus zu. Dazu müssten zwar entsprechende Erweiterungsverträge von sämtlichen 27 Mitgliedsstaaten abgesegnet sowie die Stimm- und Abgeordnetengewichte in Rat und im Parlament angepasst werden.
Das alles wäre mühsam, sicher. Aber weder rechtlich verboten noch unmöglich. Rumänien und Bulgarien sind schließlich 2007 auch auf Nizza-Grundlage in die vergrößerte Union aufgenommen worden, als 26. und 27. Mitglied.

Im Irish Independent sagte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk: „The Irish vote should in no way be related to the enlargement. Enlargement is definitely not impossible without the Lisbon Treaty. Some leaders state this as condition but we don’t see it that way.“ Ihm pflichtet der britische Schatten-Europaminister Mark Francois bei. Es sei, sagt er, „völlig klar“, dass die Erweiterung auch ohne Lissabon-Vertrag weitergehen könne.

Manch einem Beobachter in Brüssel drängt sich der Eindruck auf, dass die Diskussionen um eine neue Bedienungsanleitung für Europa bisweilen als willkommene Entschuldigung dienen, nicht mehr politische Energie in diejenigen Projekte zu stecken, die Europa auch ohne Lissabon-Vertrag weiterbringen könnten.

Der Vergleich mag ungewöhnlich scheinen, aber warum klagt eigentlich die Nato nicht über Effizienzprobleme? Sie besteht aus fast so vielen Mitglieder wie die EU (26), und um Beschlüsse zu fassen, ist auch in ihren Gremien Einstimmigkeit erforderlich. Sicher, die Verteidigungsallianz plagt sich mit vielen Problemen, aber mit mangelnder Entschlossenheit nicht gerade. Liegt das womöglich daran, dass es in dieser Staatenfamilien ein starke Führungsmacht, die USA, gibt, die offensiv versucht, die Richtung vorzugeben? Und wenn ja, könnte die EU von dieser Methode nicht vielleicht etwas lernen?

Für eine kohärente Energieaußenpolitik gegenüber Russland beispielsweise braucht es keinen neuen EU-Vertrag. Es wäre bloß der gemeinsame europäische Wille nötig, sich von Gasprom nicht durch 27 dividieren zu lassen. Sprich, auch Durchsetzungsvermögen gegenüber den Kreml-Chefs und nationalen Energieriesen.

Für die Umsteuerung der EU-Subventionsfluten wäre kein neuer Vertrag nötig. Sondern bloß die handlungsleitende Erkenntnis, dass es Wahnsinn ist, die Landwirte Europas jedes Jahr mit 40 Milliarden Euro zu unterstützen, während in Europas Universitäten Geld für Professoren, Bibliotheken und Computer fehlt.

Um gemeinsam Druck auf Iran auszuüben, die Urananreicherung für Waffen sein zu lassen, benötigt Europa keinen Vertrag.

Auch für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik braucht es kein weiteres Papierwerk. Sondern vielmehr die Führungsstärke, den Europäern zu erklären, dass wir alle an den Verteidigungsausgaben sparen können, wenn die Länder ihre Rüstungsbeschaffung koordinieren würden, um die überflüssige Dopplung von Fähigkeiten zu vermeiden.

Vielleicht sollten die europäischen Staatschefs aus dem Debakel von Irland diese Lektion lernen:

Fragt nicht, was der Vertrag für euch tun kann. Fragt, was ihr (auch ohne Vertrag) für Europa tun könnt!

Überzeugt durch Performance, nicht durch Prozessdebatten. Dann klappt’s vielleicht auch mit den Referenden.

 

Durchgebrannt – Brüssel am Rande des Nervenzusammenbruchs

Eine Kurzreportage zum EU-Krisengipfel

Es sind Possen wie diese, die nicht nur viele Iren an Europa verzweifeln lassen. Ausgerechnet am Tag des großen Brüsseler Krisengipfels, bei dem die 27 Staatschefs der EU beraten wollen, wie es nach dem Nein der Iren zum Lissabon-Vertrag weitergehen soll, brennen bei der Kommission ein paar Drähte durch.

Die Glühbirne in Europa wird bis 2015 abgeschafft, verkündet der EU-Energiekommissar, der Lette Andris Piebalgs. Die Menschen sollen Energiesparlampen benutzen, um das Klima zu retten.

Das ist genau die zündende Zukunftsidee, auf die Europa so dringend gewartet hat. Der Kontinent wird gedimmt.

„Das ist nur ein sehr kleiner Beitrag zum Klimaschutz“, erläutert die Leiterin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Claudia Kemfert, in der FAZ, „aber nicht ganz zu vernachlässigen.“

Nicht ganz zu vernachlässigen dürften viele Europa vor allem die Frage finden, was es die EU angeht, welche Leuchtmittel sie sich zuhause in die Sockel schrauben. Der CDU-Europaparlamentarier Werner Langen ahnt den Zorn der Basis. Schnell schießt er am Morgen eine Pressemitteilung hinaus:

„Wir lassen die Köpfe rauchen, wie das Projekt EU bei den Bürgern wieder mehr Zustimmung bekommt, und die Kommission hat nichts Besseres zu tun, als die Abschaffung der Glühbirne zu fordern. Einige Kommissare haben offenbar nichts verstanden“, wütet der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament.

Und feuert, gut gezielt auf die Volksseele, noch einmal nach:

„Ein solcher Vorschlag ist genau der Dirigismus, der die Menschen gegen Europa aufbringt. Es ist einfach schockierend, dass sich an der Denke in den Amtsstuben der Kommission nicht ändert. Wir müssen endlich weg von der Beglückungsideologie und dem verordneten Gutmenschentum.“

Gut gebrüllt, möchte man meinen. Peinlich bloß, was gegen Mittag Langens Fraktionskollege Peter Liese per Rundmail klarstellt. Das Europaparlament habe die „Stromfresserrichtlinie“ selbst abgesegnet, erinnert er. Die Initiative der Kommission, Glühbirnen zu verbieten, sei schließlich Bestandteil des EU-Klimaschutzpaketes.

„Ich lege großen Wert darauf, dass die Europäische Kommission diese und ähnliche Maßnahmen nicht deshalb verabschieden kann, weil einige Beamten dies für richtig halten, sondern weil das Europäische Parlament (EP) und die Regierungen der Mitgliedstaaten es so wollen und die entsprechende Rechtsgrundlage geschaffen haben.“

Um eines mal klarzustellen: „In Europa herrscht Demokratie.“

Nur, wie genau diese Demokratie funktioniert, scheinen nicht einmal die Akteure selbst immer zu wissen.

Ein paar Schritte vom Kommissionsgebäude entfernt, sonnt sich derweil die irische EU-Rebellin Mary Lou McDonald im extrem klimaschädlichen Scheinwerferlicht des Internationalen Pressezentrums, vor sich etwa fünf Mikrofone. „Der Lissabon-Vertrag ist tot“, sagt die Europaabgeordnete der Linksnationalistenpartei Sinn Féin. Sie hat sich einzige Dubliner Parlamentensfraktion für ein Nein stark gemacht. Und gesiegt, wie sie es sieht.
Die Staatschefs der EU, sagt McDonald, sollten jetzt ja nicht versuchen, der Vertrag auf irgendeine krumme Weise wiederbeleben zu wollen.

„Das Demokratiedefizit der Union wird durch den Lissabon-Vertrag nicht beseitigt“, sagt sie. „Wir brauchen eine neue Grundsatzdiskussion, neue Verhandlungen, einen neuen Vertrag!“ Links und rechts von ihr nicken je ein französischer und ein niederländischer Sozialist tief solidarisch.

Aber was, Frau McDonald, wenn die Europäer eine neue zermürbende Vertragsdebatte noch abstoßender finden als den Lissabon-Vertrag?

„Es wird Widerstand gegen einen neuen Vertrag geben, das ist mir schon klar. Aber wir Politiker sollten und immer daran erinnern, dass wir die Diener des Willens des Volkes sind – nicht dessen Herren.“

Der Wille des Brüsseler Journalistenvolkes ist indes auf eine möglichst kurze Krise gerichtet. Schön wäre, finden viele, wenn sie heute gegen 20.45 Uhr erledigt wäre. Denn dann beginnt des Fußballspiel Deutschland gegen Portugal. „Ich weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll“, sagt ein Kollege tief besorgt mit Blick auf den Gipfelterminkalendar. Der sagt nämlich Folgendes:

Ab 20.15 Uhr soll der irische Premierminister Brian Cowen seinen 26 Kollegen beim Abendessen erklären, was auf der Insel schiefgelaufen ist und wie er gedenkt, Europa aus diesem Schlamassel herauszuholen. Gegen 22 Uhr wollen die Staatschefs dann noch einmal vor die Presse treten. Zwischendurch allerdings, so hat Bundeskanzlerin Merkel schon in einem Fernsehinterview nach dem letzten EM-Spiel angekündigt, wolle sie mit ihrem portugiesischen Kollegen „ab und zu mal um die Ecke gehen“, um das Viertelfinale im TV zu verfolgen.

Für die Lösung der EU-Krise sind am ersten Gipfeltag, mit anderen Worten, ziemlich genau 90-EM-Minuten eingeplant.

Wenn das keine volksnahe Lösung ist.

 

Europa nach dem Irland-Schock. Fünf Fragen und Antworten

1. Die Iren haben Nein zum Lissabon-Vertrag gesagt. Stürzt Europa jetzt in eine neue Krise?

Brandgeruch lösen dieser Tage in Brüssel nur ein paar flammenden Pressemitteilungen aus dem EU-Parlament aus. Europa stecke in einer „existenzbedrohenden Krise“, versuchen Europa-Abgeordnete klarzumachen, ja, in einer „politischen Krise mit Folgewirkungen, die im Moment niemand voraussagen kann.“

Merkwürdiger Weise aber scheint diese große Krise nicht richtig in Gang zu kommen. Die EU-Maschinerie surrt nach dem Nein der Iren seltsam unbeeindruckt auf Routine-Drehzahl. In der allmittäglichen Pressekonferenz spricht der Vizepräsident der EU-Kommission über die Entwicklung der europäischen Asylpolitik. Der Hohe Außenbeauftragte Javier Solana weilt im Iran, um einen Vorschlag zur zivilen Zusammenarbeit in Nuklearfragen zu überbringen. Und der Europäische Rat drückt tiefe Sorge aus. Über? Die sich verschlechternde Sicherheitslage im Sudan.

Es sind diesmal eben nur 862 415 Iren, die Nein zum EU-Vertrag gesagt haben. Anders als 2005, als Franzosen und Niederländer dem damals noch „Verfassung“ genannten Reformwerk eine Abfuhr erteilten, führt der Dubliner Ausrutscher nicht zum gefühlten Totalschaden Europas. Er gilt eher als Panne, die sich ausbeulen lässt.

Mit dieser Grundstimmung jedenfalls versuchten am Montag nach dem Nein die 27 Außenminister der EU in Luxemburg, einen Plan B zu schmieden. Die Rettungsstrategie soll rechtzeitig für den EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag in Brüssel skizziert sein. Jener Plan B muss jetzt her, der laut Kommissionspräsident Manuel Barroso und dem irischen Premierminister Brian Cowen undenkbar war. Jedenfalls haben sie das den Iren vor der Abstimmung gesagt.
Bis zum vergangenen Freitag gab es eine klare Regelung im Lissabon-Vertrag. Sie besagte, dass sämtliche 27 Staaten der EU dem Reformwerk zustimmen müssen, damit es in Kraft treten kann. Jetzt gibt es die politische Wirklichkeit. Unmittelbar nach dem Nein schlägt Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor, Irland solle „für eine Zeitlang den Weg frei machen für einen weiteren Integrationsprozess der 26 übrigen Staaten“. In die Sprache der Zeit übersetzt: Übles Foul, Ire. Für dich ist das Turnier gelaufen.

Dass es so nicht läuft in der EU-Arena, machten die übrigen Außenminister dem Deutschen allerdings schnell klar. Sie einigten stattdessen darauf, den Iren auf andere Art Disziplin beizubringen. Durch, nennen wir es, die europäisierende Kraft des Faktischen. Alle anderen 26 Staaten sollen den Vertrag ungerührt ratifizieren, lautet das Signal des Luxemburger Treffens. Im Angesichte dieser Phalanx, so das Kalkül, könnten die Iren am Ende unmöglich bei ihrem Nein bleiben. Es trifft sich, dass nicht einmal mehr London zickt; gerade haben die notorischen Brüsselmuffel im Oberhaus den Lissabon-Vertrag abgesegnet. Zwar gibt die slowenische Ratspräsidentschaft zusammen mit der irische Regierung zu bedenken, man brauche jetzt ein wenig Bedenkzeit. Aber zu mehr als einer Pietätspause für die Iren scheint sich die Krise nicht auszuwachsen.

Gäbe es gibt da nicht noch eine unbehagliche juristische Instanz. Sowohl in Deutschland wie auch in Tschechien liegen Klagen gegen den Lissabon-Vertrag bei den Verfassungsgerichten. Ob deren Richter vor der Wucht von 26 Parlamentsentscheidungen erzittern werden, weiß noch niemand.

2. Welche Alternativen gibt es zum Lissabon-Vertrag?

Europa hat jetzt die Wahl zwischen vier mehr oder minder großen Übeln. Es könnte, falls die Ratifizierungsstrategie nicht aufgehen sollte, eine neue Regierungskonferenz einberufen, um den Lissabon-Vertrag noch einmal so zu überarbeiten, dass am Ende auch die Iren zustimmen. Das hieße, noch ein paar Jahre eine Funktionsdebatte zu führen, noch einmal alle Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung zu bitten, vor allem aber die Europäer weiter mit technischer Selbstbezogenheit zu langweilen, statt Politik zu machen. Nicht einmal Verwaltungsjuristen aus EU-Referaten finden diese Option prickelnd. Hier eine offizielle Auflistung der Arbeitsstunden, die bisher in der Vertragsverhandlungen verbrannt worden sind.

Europa könnte, zweitens, die Diskussion um eine neue Bedienungsanleitung vorläufig beenden und erst einmal weiter auf der Grundlage des Vertrages von Nizza weitermachen. Zwar haben Europapolitiker immer wieder gewarnt, einer Union der 27 Mitgliedsstaaten drohe der Kollaps, wenn die Institutionen und Entscheidungsprozesse nicht gestrafft würden. Doch die Praxis sieht anders aus. Seit der großen Osterweiterung von 2004 und 2007 ist die Gesetzgebung in Brüssel mitnichten erlahmt. Sicher, sie holpert bisweilen, aber wo tut sie das nicht?

Eine Studie der Trans European Policy Studies Association (Tepsa) listet auf, dass zwischen 1999 und 2003 jährlich durchschnittlich 195 Rechtsakte in Brüssel erlassen wurden. Nach dem Beitritt der zehn osteuropäischen Neulingen waren es 2005 noch 130. Und 197 im Jahr 2006, also nicht weniger als im vorherigen Durchschnitt.

Europa könnte also den Iren-Schock konstruktiv verarbeiten und erst einmal klären, was es eigentlich werden möchte. Ein möglichst föderales Gebilde mit weit reichender Harmonisierung der Rechts- und Sozialordnungen? Oder vielleicht doch lieber eine Freihandelszone mit lediglich hinreichenden Binnenmarktregeln und einer strategischen Außenpolitik in Feldern, die Gemeinschaftsgeist verdienen, zum Beispiel in der Immigrations- und Energiepolitik?

Und wie wäre es, drittens, mit einem Kerneuropa, also einem Nukleus von Staaten, die mit tieferer Integration voranschreiten und dem sich andere Clubmitglieder Schritt für Schritt anschließen könnten? Allein das Stichwort ließ die versammelten Außenminister in Luxemburg zusammenzucken. Nein danke, sagten vor allem die Vertreter der kleineren Staaten.

Nicht einmal mehr der einstige Schöpfer der Idee, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, spricht von der Kernthese. Er wirft stattdessen die Idee in die Runde, ob nicht vielleicht künftig der EU-Präsident direkt von den Europäern gewählt werden könnte. Damit würde Europa zumindest jenen Superposten bekommen, dessen Inhaber es nach außen repräsentieren und im Inneren steuern solle. Ähnliches schwebt den Grünen im EU-Parlament vor. Um wenigstens die Grundrechtecharta und die erweiterten Rechte für das Parlament zu retten, wollen sie Wahl im nächsten Juni zusammen mit der Europa-Wahl ein europaweites Referendum über ein „Demokratie-Gesetz“ abhalten.

Für solche Volksentscheidungen müsste allerdings ebenfalls der EU-Vertrag geändert werden. Und auch das würde bedeuten, dass ihn sämtliche Regierungen, die ihn bisher ratifiziert haben lassen (19 von 27), ihn noch einmal durch die Parlamente boxen müssten.
Im Gespräch sind nun zusätzliche „Souveränitätsgarantien“ für Irland, etwa im Steuerrecht, in der Verteidigungspolitik und beim Familienrecht. Diese vierte Option dürfte die wahrscheinlichste sein. Aber was passiert, wenn die Iren trotz dieser Extrawürste noch einmal Nein sagen?

3. Welche Hoffnungen hängen am Lissabon-Vertrag?

Nach dem irischen Nein wird es eine Reihe von Neuerungen nicht geben, die wahrscheinlich sogar viele irische Nein-Sager begrüßt hätten. Jedenfalls können diese wohl nicht mehr, wie geplant, zum 1. Januar 2009 in Kraft treten. Die Verkleinerung der Kommission gehört dazu. Sie sollte von derzeit 27 auf 18 Kommissare schrumpfen. Die Parlamente in den Einzelstaaten sollten zudem die Möglichkeit erhalten, Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip zu rügen, also der Brüsseler Regelungswut Einhalt zu gebieten.

Auch die Krönungsfeierlichkeiten für den ersten ständigen EU-Präsidenten sowie den Europäischen „Außenminister“ dürften sich verschieben. Die Hoffnungen, die sich mit den beiden künftigen Spitzenposten für die europäische Außenwirkung verbinden, mögen zwar überzogen sein, denn beiden Ämtern droht wegen unklarer Kompetenzzuschnitte ein eher schwammiges Profil. Gleichwohl, das Ausbleiben neuer Lichtgestalten dürfte auf Brüssels grauen Fluren einen tiefen Blues auslösen. Rein rechtlich übrigens könnte die Staatschefs niemand daran hindern, sich einen permanenten EU-Präsidenten zu wählen. Und auch ein Europäischer Diplomatischer Dienst ließe sich ohne Lissabon-Vertrag installieren. Die Frage ist bloß, ob sich dafür ohne Vertragskontext der politische Wille findet.

Ebenso wenig muss der Erweiterungsprozess gestoppt werden. Um den nächsten Kandidaten, Kroatien, 2010 in die EU aufzunehmen, braucht es zwar einen Beitrittsvertrag, den alle 27 Mitglieder absegnen müssen. Aber der ließe sich notfalls unabhängig von Lissabon abschließen.

Passé sind indes erst einmal die erweiterten Mitbestimmungsrechte für das Europäische Parlament. Sie sollten sicherstellen, dass die künftige Gesetzgebung aus Brüssel im Regelfall mit einer höheren demokratischen Legitimation versehen sind.

4. Warum haben die Iren Nein gesagt?

Der Hauptgrund für das Nein der Iren dürfte ein simpler Beweggrund gewesen sein, der auf Englisch besser klingt als auf Deutsch: „If you don’t know, vote no.“ Man unterschreibt nichts, was man nicht versteht, schon gar nicht, wenn es über 400 Seiten dick ist. Von einer „unabsichtliche Unlesbarkeit des Vertragstextes“ spricht mittlerweile sogar der grüne EU-Dombaumeister Daniel Cohn-Bendit. Die Unverständlichkeit des Lissabon-Vertrages stand den Iren stellvertretend für das ganze Konstrukt EU. Undurchsichtig, technokratisch und elitär – diese Kritik an Brüssel üben die Iren wiederum stellvertretend für viele Europäer.

Sicher, die meisten Iren waren nach wochenlangen Pro- und Contradebatten mit erheblich mehr Lissabon-Wissen überschüttet worden, als es sich je ein Festlandeuropäer freiwillig antun würde. Aber das, was sie erfuhren – oder zu erfahren glaubten -, hat viele eher verängstigt denn überzeugt. Die einen Agitatoren behaupteten, Brüssel werde durch die Hintertür irgendwann auf die die irische Steuergesetzgebung zugreifen können.

Konservative Katholiken fürchteten, durch die Grundrechtecharta werde Abtreibung und Schwulenehe legalisiert. Und viele Iren, denen die traditionelle Neutralität der Insel am Herzen liegt, hatten Sorge, ihr Land werde durch den Lissabon-Vertrag in ein Nato-ähnliches EU-Militärbündnis hineingesogen. Hinzu kam schlicht eine gewisse Lust an der Rebellion, gerade bei jüngeren Iren. „Es war irgendwie trendy, Nein zu stimmen“, sagt eine Schülerin.

Im irischen Votum zeigte aber auch, dass die Europäische Union keine klare Idee mehr von sich selbst ausstrahlt. Das Gründungsargument, die Überwindung nationalstaatlichen Denkens, war und ist Iren kein Argument; auf der Insel wird der Nationalstolz sorgsam gepflegt, nicht eingehegt. Die furchtsame Skepsis vor eigener Größe, die das deutsche Selbstbíld auszeichnet, ist ihnen, wie vielen anderen Europäern auch, gänzlich fremd.

5. Was kann und muss Nicolas Sarkozy als nächster EU-Ratspräsident nun tun?

Koordinieren, moderieren und reparieren. All das, mit anderen Worten, was der französische Präsident sich für seine Zeit in Brüssel nicht vorgenommen hatte. Am 1. Juli übernimmt Sarkozy die halbjährliche EU-Ratspräsidentschaft. Die Wunschziele, die der Hyper-Präsident bereits hat verlauten lassen, strotzen nur so vor politischem Testosteron. Eine Renaissance der Nuklearenergie wollte er Europa bescheren. Eine Kräftigung der Europäischen Verteidigung. Und eine härtere Hand gegen illegale Einwanderung. Jetzt aber braucht die EU kein napoleonisches Ego mehr, sondern einen pan-nationalen Teamplayer.
Sarkozy muss vor allem findige Juristen auftreiben, die den Iren eine gesichtswahrende Lösung anbieten könnten. Er muss die Stimmung bei den anderen Regierungen halten und nicht zuviel neuen Streit in die EU tragen. Auf dem Pflichtprogramm stehen daneben eine Haushaltsreform, eine Neuordnung der europäischen Förderpolitik sowie ein Klima- und Energiepaket. Jede Menge Stoff für jede Menge Mini-Krisen.

Zusatzfrage: Wer wird der nächste deutsche EU-Kommissar in Brüssel?

Auf der Brüsseler Nebenbühne steht derweil ein kleiner großkoalitionärer Stellvertreterkrieg an. Angela Merkel will, wie die FAZ erfahren hat, definitiv den CDU-Mann Peter Hintze, derzeit Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, als nächsten deutschen Kommissar nach Europa schicken. SPD-Chef Kurt Beck besteht derweil weiter auf seinem Kandidaten, dem Europaabgeordneten Martin Schulz. Große Chancen, im Herbst 2009 den Nachfolger des bisherigen deutschen Kommissar Günter Verheugen zu stellen, dürften die Sozialdemokraten allerdings nicht haben. 20 Jahre lang haben in der Kommission SPD-Mitglieder geherrscht, die CDU besitzt das Argument des dringenden Wechsels. Und dem SPD-Mann Schulz, da sind sich die Brüssologen einig, würde auch der Posten des Parlamentspräsidenten gut zu Gesichte stehen.

Ziemlich sicher ist allerdings, dass schon bald paneuropäische Eifersüchte um Kommissionsposten ausbrechen müssen. Denn laut dem Nizza-Vertrag muss die Kommission verkleinern werden, sobald sie 27 Mitglieder groß ist (was der Fall ist). Anders als im Lissabon-Vertrag steht dort allerdings nicht, um wieviele Kommissare sie genau gekürzt werden muss.
Vielleicht wäre es ein guter erster Schritt, die Iren zu schonen?

 

Eine Katastrophe? Nein. Nur eine gefühlte

Mit krampfhafter Routine haben Brüssels Maschinisten in den vergangenen Wochen so getan, als hätte an diesem Freitag, dem 13. keine Schicksalfrage für Europa angestanden. Das Referendum, in dem die Iren nun tatsächlich den Lissabon-Vertrag (ehemals: „Europäische Verfassung“) abgelehnt haben, war schlicht kein Thema in offiziellen Runden. Ein Grund dafür war die Angst, dass sich eine Diskussion über einen Plan B entspinnen könnte. Dass es den womöglich geben könnte, wollte man den Iren natürlich nicht auf die Nase binden.

Ja, aber, gibt es sie denn nun, eine Alternative zum Lissabon-Vertrag?
Selbstverständlich. Europa wird nicht untergehen, nur weil die Iren heute „Nein“ gesagt haben. Es ist nicht einmal sicher, ob die Wirkung des „Nein“ in der Außenwelt der EU nicht verheerender ausfällt als der Schaden,den es im Inneren auslösen kann.

An Europa hat der Westen lange große Hoffnungen geknüpft. Nach Amerikas moralischen Entgleisungen in Guantánamo und Abu Ghraib und dem unmandatierten Irakkrieg glaubten viele, der alte Venus-Kontinent wäre mit seinem multilateralen Diplomatie- und Verflechtungsmodell geeigneter, die Probleme der Welt zu lösen. Geübt im Versöhnen, angelegt auf das Verständnis anderer Völker und Traditionen, schien die Kooperationspolitik Europas vielen als bestmögliche Managementmethode der Weltprobleme, vom Klimawandel bis zum Atomstreit mit Iran.

Welches Signal sendet das „Nein“ zu Lissabon jetzt in die Welt? Womöglich, dass die Europäer es leider immer noch am besten verstehen, sich in ihren eigenen Ansprüchen an Harmonisierung und Regelschaffung zu verheddern. Dass sie es nicht einmal hinbekommen, ihren eigenen Club anständig zu regieren. Wie, bitte, soll ein solch desperater Verein als Ordnungskraft in der Welt wirken? In Washington blicken heute schon viele Beobachter (auch Demokraten) mit befremdetem Kopfschütteln auf das seltsame, überkomplexe Gebilde EU.

Und wie schlimm ist es nun aus Brüsseler Sicht um Europa bestellt?

„Das ‚Nein‘ in Irland zum Europa-Vertrag von Lissabon erzeugt eine politische Krise in der Europäischen Union mit Folgewirkungen, die im Moment niemand voraussagen kann“, sagt Jo Leinen (SPD), Vorsitzender des Verfassungsausschusses im Europäischen Parlament.

Tatsächlich?

Zunächst einmal zum Technischen. Europa lässt sich auch ohne Lissabon-Vertrag weiter regieren. Die Befürchtung, mit der Erweiterung um 12 neue Mitglieder auf nunmehr 27 Staaten werde sich die EU selbst lähmen, wenn sie sich nicht effizientere Regeln gäbe, hat sich bislang nicht bestätigt.

Vier Jahre nach der großen Osterweiterungsrunde von 2004 zeigt sich: Europa funktioniert genauso gut oder schlecht wie zuvor. Und auch für die Zukunft hätte Lissabon vermutlich wenig an einer Grundregel der EU geändert. Sie lautet, dass Konsens das beständige Ziel bleibt. Die Doppelte Mehrheit, die wohl radikalste Neuerung von Lissabon, hätte an der ständigen Harmonie-Suche im Rat, da sind sich Regierungsvertreter einig, nichts geändert. Sie hätte die Entscheidungsfindung vermutlich beschleunigt, das immerhin.

Sicher, nach dem irischen Nein wird es eine Reihe von Reformen nicht geben, die wohl selbst die Iren begrüßt hätten. Die Verkleinerung der Kommission, zum Beispiel. Oder mehr Rechte für das EU-Parlament. Oder die Möglichkeit von Einzelstaaten, Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip zu rügen.

Daneben aber enthielt der Lissabon-Vertrag eine Reihe von Neuregelungen, die unter Demokratiegesichtspunkten hochgradig zweifelhaft waren und denen eine erneute Diskussion gut tun könnte (siehe unsere Serie zum Lissabon-Vertrag in den vorherigen Blog-Einträgen). Jedenfalls muss sich Europa nach diesem schwarzen Freitag entscheiden, welches der folgenden Übel es wählen möchte.

Europa könnte die Diskussion um eine neue Bedienungsanleitung vorläufig beenden und auf Grundlage des Nizza-Vertrages so weitermachen wie bisher. Das hieße, sich langsamer zu integrieren und womöglich eine Denkpause darüber einzulegen, wohin es eigentlich steuern will.

Europa könnte eine neue Regierungskonferenz einberufen, um den Lissabon-Vertrag noch einmal zu überarbeiten. Das hieße, noch ein paar Jahre eine Funktionsdebatte zu führen, noch einmal alle Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung zu bitten und die Bürger mit technischer Selbstbezogenheit zu frustrieren, statt Politik zu machen. Also keine ernsthafte Option.

Europa könnte erst einmal versuchen zu definieren, was es eigentlich werden möchte. Ein möglichst föderales Gebilde samt weitreichenden „Harmonisierungen“ der Rechts- und Sozialordnungen? Oder vielleicht doch lieber eine Freihandelszone mit hinreichend gemeinsamen Binnenmarktregeln und einer strategischen Außenpolitik in Feldern, die wirklich alle 27 Mitgliedsländer betreffen müssen, zum Beispiel in der Integrations- und Energiepolitik?

 

Bringt der Lissabon-Vertrag wirklich mehr Demokratie?

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Fünfter und letzter Teil unseres EU-Vertrag Watch

Ein Kernidee des Reformvertrags (wie schon der „EU-Verfassung“) war es, eine auf 27 Mitglieder erweiterte Union handlungsfähig zu erhalten. Schließlich war vorauszusehen, dass Entscheidungen in einer solch unübersichtlichen Interessengemeinschaft nicht mehr derart konsensual getroffen werden könnten wie in einer EU der sechs, zwölf oder fünfzehn Mitglieder.

Die so genannte „Doppelte Mehrheit“ im Rat (also der Versammlung der Regierungschefs) soll ab 2014 sicherstellen, dass künftig auch im Falle von Meinungsverschiedenheiten wichtige Entscheidungen getroffen werden können. Doppelte Mehrheit heißt: 55 Prozent der Staaten, die zugleich 65 Prozent der Bevölkerung der EU stellen, müssen zustimmen. Das doppelte Mehrheitsprinzip tritt aufgrund eines entsprechenden polnischen Sonderwunsches allerdings erst am 1. November 2014 in Kraft, möglicherweise auch erst – sollten sich die Staatschefs auf eine Fortgeltung der alten Regeln verständigen – am 31. März 2017.
In Kraft bleibt auch die so genannte Ionina-Klausel. Nach ihr kann jeder Mitgliedsstaat gegen eine Mehrheitsentscheidung ein Veto einlegen. Dies hat allerdings nur aufschiebende Wirkung. Die Angelegenheit muss noch einmal neu verhandelt werden – und wird anschließend notfalls auch gegen den Widerstand der Veto-Nation verabschiedet.

Im Grundsatz ist das Doppelte-Mehrheit-Verfahren ein Zuwachs an Effektivität und an supranationaler Demokratie. Dieser wird allerdings mit einem Geltungsschwund nationaler Demokratie erkauft. Staaten sollen innerhalb des EU-Verbundes, kurz gesagt, künftig wie Bürger behandelt werden. Damit schwinden zugleich die Einflussmöglichkeiten von Staatsbürgern auf die Politik insgesamt.

Denn Mehrheitsentscheidungen im Rat bedeuten eben auch, dass fremde Regierungen Rechtsakte auch gegen den erklärten Willen von nationalen Parlamenten beschließen können. Zählt etwa Deutschland zur unterlegenen Minderheit, muss es Entscheidungen umsetzen, die unter Umständen weder das Volk noch die Volksvertreter noch die Regierung gewollt haben.

Zwar können vier Staaten zusammen eine Sperrminorität bilden und Beschlüsse des Rates blockieren. Doch dies könnte vor allem bedeuten, dass die drei großen EU-Staaten Deutschland, Frankreich und England es alleine nicht mehr schaffen, Entwicklungen aufzuhalten. Eine solche Machtverschiebung vom Souverän auf eine supranationale Staatenkammer dürfte historisch einzigartig sein.

Außerdem gibt es noch eine inhaltliche Qualitätsänderung. Bisher regelt das mit qualifizierter Mehrheit zustande gekommene Gemeinschaftsrecht vor allem Leistungen, also Agrarbeihilfen und Struktursubventionen.
Nun aber werden auch Rechtseingriffe in klassische Souveränitätsbereiche (Justiz/Innen) durch europäische Mehrheitsentscheidungen möglich. Das ist ein fundamentaler Unterschied.

Im Gegenzug bekommt das Europaparlament deutlich mehr Rechte. Es kann künftig in 85 (früher 45) Politikbereichen mitentscheiden (früher wurde es hier nur angehört), unter anderem im wichtigen Gebiet der Justiz- und Innenpolitik. In 112 Bereichen kann der Rat allerdings weiterhin ohne das Parlament entscheiden.

Eine weitere Möglichkeit für die Mitgliedsstaaten, „Mehrheitsdiktate“ aus Brüssel aufzuhalten, ist künftig die so genannte Subsidiaritätsklage. Subsidiarität bedeutet soviel wie „Vorrecht der kleineren Gemeinschaft“. Die grundlegende Idee stammt von dem Jesuit und Gesellschaftswissenschaftler Oswald von Nell-Breuning. Subsidiär heißt eigentlich „hilfsweise“. Nur dort, so will es das gleichnamige Prinzip, wo die kleinere Gemeinschaft überfordert ist und ihre Mittel und Regelungsmacht nicht ausreicht, nur dort soll die nächsthöhere Instanz subsidiär, also hilfsweisem eingreifen. Was von den betroffenen Menschen allerdings selbst beschlossen und umgesetzt werden kann, muss auch von ihnen selbst beschlossen und umgesetzt werden. Alles andere würde die friedensstiftende Wirkung der Demokratie gefährden.

Wenn nun genügend nationales Parlament glaubt, dass die Kommission, der Rat oder das Europaparlament mit einem ihrer Gesetzgebungsvorhaben gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt, können sie Brüssel die rote Karte zeigen. Das Subsidiaritätsprinzip ist eine Festlegung aus dem Maastricht-Vertrag. Es besagt, dass die EU nur das regeln soll, was tatsächlich am besten europaweit geregelt muss. Entscheidungen unterhalb dieser Schwelle sollen die Mitgliedsstaaten selber treffen.

In der Praxis nimmt kaum ein Brüsseler Beamter das Subsidiaritätprinzip mehr ernst. „Darüber lachen wir doch nur noch“, sagt eine deutsche Mitarbeiterin in der EU-Kommission.

Der Lissabon-Vertrag räumt den nationalen Parlamenten nun erstmals eine Veto-Möglichkeit ein. Allerdings ist sie derart begrenzt, dass sie in der Praxis kaum geeignet sein dürfte, Kompetenzanmaßungen durch die EU-Organe zu verhindern.

Mindestens ein Drittel aller Volksvertretungen muss innerhalb einer achtwöchigen Frist eine begründete Stellungnahme nach Brüssel schicken, samt einer Begründung, warum ein Vorhaben das Subsidiaritätsprinzip verletzt (bei Gesetzesvorhaben in der Justiz- und Innenpolitik genügt ein Viertel der Parlamente). Diese Frist dürfte schon die üblichen parlamentarischen Abläufe eines Mitgliedslandes sprengen. Dass sich neun Parlamente innerhalb dieser Zeit zu einer Beschwerde beschließen und formieren, erscheint so wahrscheinlich wie, sagen wir, eine gemeinsame Mondlandung von Finnen und Bulgaren bis zum nächsten EU-Gipfel.

Und selbst wenn es eine Drittel-Rebellion geben sollte: Ihr Veto hätte lediglich die Folge, dass das Vorhaben noch einmal überprüft würde – von dem Organ wohlgemerkt, welches das Projekt auf den Weg gebracht hat, also der Kommission, dem Rat oder dem Europaparlament.

Nur wenn der Rat oder das Parlament auf die Beschwerde hin mit einer Mehrheit von 55 Prozent beschließen würden, dass das beanstandete Gesetz tatsächlich gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstößt, würde es gestoppt. Dies aber ist hochgradig unwahrscheinlich, denn eben diese Mehrheit hatte ja zuvor schon für die Entscheidung gestimmt. Den Mitgliedstaaten bliebe dann nur noch der Weg zum Europäischen Gerichtshof (EuGH), um seinen Standpunkt rechtlich prüfen zu lassen.

Auf das Europaparlament als Hüter von Einzelstaats-Interessen aber sollte sich indes kein nationaler Politiker verlassen. Zum einen sind die dortigen Abgeordneten in europaweite Bündelparteien eingebunden, was ihnen ein Vertreter spezifisch – etwa deutscher – Interessen schwer macht. Zum anderen herrscht im Europaparlament eine faktische Große Koalition aus Konservativen und Sozialisten. Vor allem aber verstehen sich die maßgeblichen Politiker als europäische Avantgarde mit der Mission, kleinkarierte nationale Denkarten zu überwinden. Zudem ist das EP nicht gleich gewählt. Ein Vertreter aus Malta oder Luxemburg hat unproportional mehr Stimmgewicht als einer aus Deutschland oder Frankreich. Schließlich kann von einer öffentlichen Debatte über Entscheidungen in Rat, Kommission und Parlament keine Rede sein. Weil es schlicht keine europäische Öffentlichkeit gibt.

Ein einflussreicher deutscher EP-Abgeordneter reagierte, auf die Möglichkeit des Vetos durch nationale Parlamente angesprochen, mit den Worten: „Das wird kein Problem.“ Der Begriff der Subsidiarität sei schließlich dehnbar. Im Zweifel, so der Abgeordnete, werde das Europaparlament den Einzelstaate schon erklären können, warum die Angelegenheit in Brüssel geregelt werden müsse.

Mit anderen Worten: selbst bei offenkundigen Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip bleiben die nationalen Parlamente letztlich machtlos. Was sie gewinnen, ist immerhin die Möglichkeit, den europäischen Institutionen dann und wann einen Schuss vor den Bug zu versetzen. Das könnte – im günstigen Fall – zu mehr politischer Sensibilität aufgrund des Bewusstseins führen, dass nicht alles, was in Brüssel verhandelt wird, unter der Aufmerksamkeitsschwelle der nationalen Parlamente hindurchrutscht.

Hessens Ministerpräsident Roland Koch gab sich unlängst bei einem Besuch in Brüssel nichtsdestotrotz kämpferisch:

„Bei Projekte, bei denen wir wirklich einen Verstoß gegen die Subsidiarität sehen, können Sie davon ausgehen, dass wir sehr wohl auf scharf schalten können und Netzwerke aktivieren. In Wahrheit beträgt die Anlaufzeit ja nicht acht Wochen, sondern Monate. Man beobachtet das, was in Brüssel passiert, ja schon im Entstehen. An der Frist scheitert ein politischer Wille selten.“

Allerdings, die Hürden für eine Subsidiaritätsklage liegen auch für einen energischen Landesfürsten hoch. Zunächst müssten entweder im Bundesrat oder im Bundestag 25 Prozent der Vertreter für eine Beschwerde stimmen. Als nächstes müssten acht Verbündete Staaten im Rest von Europa für die Klage-Allianz gewonnen werden. Wie soll ein Bundesland, das über keine außenpolitischen Kapazitäten verfügt (abgesehen vom Personal in den Brüsseler Vertretungen), dies bewerkstelligen?

Unbenommen bleibt den nationalen Parlamenten freilich die Möglichkeit, die Europapolitik ihrer Regierungen zu kontrollieren, etwa indem sie ihren Ministern klare Grenzen für Verhandlungen im Rat setzen. Daran hat es der Bundestag allerdings schon in der Vergangenheit fehlen lassen. Viele Bundestagsmitglieder räumen unumwunden ein, es sei gar nicht zu schaffen, neben dem innen- und außenpolitischen Pensum auch noch Brüsseler Dossiers zu verfolgen.

„Der Bundestag hat die Entwicklung der letzten fünfzehn Jahren in der EU schlicht verschlafen“, sagt ein langjähriger deutscher Beobachter in Brüssel. Immerhin dieser Aufmerksamkeits-Level könnte sich durch die Möglichkeit der Anti-Brüssel-Klage erhöhen.

Im Ergebnis enthält der Lissabon-Vertrag einige Hebel zur Stärkung der horizontalen Demokratie in Europa. Die Mitgliedstaaten müssten sie aber lernen zu nutzen – unter Aufbietung erheblicher parlamentarischer Energien. Nutzen sie diese Rechte, dann wird Lissabon-Vertrags sein Hauptziel allerdings nicht erreichen: effizienter, schneller und schlagkräftiger zu werden. Im Gegenteil. Dann droht die Lähmung der Union durch Koalitionen der Unwilligen.

Generell ist zu befürchten, dass durch den Lissabon-Vertrag Entscheidungen der EU weiter an demokratischer Legimität verlieren werden, weil er den Zurechnungszusammenhang zwischen politischer Entscheidung und Bürgerwille überstrapaziert. Der lautet:

Je tiefer der Eingriff in die Rechtsphäre des Bürgers ist, desto klarer müssen die Verantwortlichen für diesen Eingriff erkennbar sein. Denn nur wenn der Bürger die Möglichkeit hat, Politiker für ihr Handeln zur Rechenschaft zu ziehen, wird er dieses Handeln als legitim empfinden. Denn nur dann traut er den Politikern zu, verantwortsbewusst mit ihrer Macht umzugehen.

 

Stärkt der Lissabon-Vertrag Europa wirklich als Global Player?

Teil IV des Lissabon Watch

Mit dem Lissabon-Vertrag, so das politische Versprechen, soll Europa in der Welt mehr Gewicht und Gesicht bekommen. Dies soll vor allem durch zwei neue Superposten geschehen. Durch den Europäischen Präsidenten, der künftig der EU für zweieinhalb Jahre vorsitzen wird. Und doch einen „Europäischen Außenminister“.

Werden die beiden aber wirklich so mächtig, wie sie glauben? Eher nicht.

Der Europäische Präsident soll laut Lissabon-Vertrag dem Rat „Impulse“ geben, für „Kontinuität“ sorgen sowie „auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ wahrnehmen. Womit sich seine Jobbeschreibung schon einmal ungut mit der des „Europäischen Außenministers“ reibt.

Vor allem wird der neue Ratspräsident künftig, anders als bisher, nicht zugleich ein Staatschef sein. Das heißt, er ist keiner nationalen Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig. Kein Abgeordnetenhaus, ja nicht einmal das Europäische Parlament kann ihn für Schlechtleistung oder Fehler zur Verantwortung ziehen.

Bisher konnten Regierungschef ihre jeweils halbjährigen Ratspräsidentschaften in Brüssel nutzen, um sich außenpolitisch zu profilieren, so wie es etwa Angela Merkel getan hat, indem sie den Lissabon-Vertrag trotz mancher Affekte der polnischen Regierung zur Unterschriftsreife verhandelte. Und so actionreich wie es Europa gerade von Nicolas Sarkozy erwartet, dem letzten „kurzen“ Ratspräsidenten.

Von welcher Motivation wird dagegen der künftige EU-Präsident getrieben sein? Von den 27 Staatschefs auf zweieinhalb Jahre gewählt, ist er ein König Ohneland. Er verfügt über keinerlei Hausmacht und keine politische Verhandlungsmasse, um seine Ideen voranzutreiben.

Deutschland dagegen hat mithilfe seines gewaltigen Beamtenapparats in Brüssel und Berlin während seiner Ratspräsidentschaft erstaunliche viele Projekte abschließen können, zum Teil solche, die schon lange liegen geblieben waren. Slowenien, das seine Beamtenschaft mit der Präsidentschaft überdehnte, schaffte lange nicht so viel.

Wieviel politische Pferdestärken hätte wohl ein Ratspräsident ganz ohne eigenen Regierungsapparat?

Und wie realistisch ist es zu glauben, dass sich die Staatschefs im Rat den Weisungen eines Präsidenten ohne Unterleib unterordnen werden? Ein Nicolas Sarkozy beispielsweise ist kaum der Typ, der sich von einem Behördenhäuptling einhegen lassen würde. Im Gegenteil, der künftige Ratspräsident könnte sich seinerseits schnell von Allianzen einflussreicher Länderchefs umzingelt sehen. Mancher Nationalstaat könnte sogar ein Interesse an einem möglichst schwachen Ratspräsidenten haben. Denn wer lässt sich schon gerne auf der Brüsseler Bühne die Show stehlen?

Hinzu kommt, dass die bisherigen halbjährlichen Rotationspräsidentschaften nicht etwa abgeschafft werden. Sie laufen – mit Zuständigkeit für die Fachministerräte – weiter. Das heißt, der jeweilige Staats- oder Regierungschef des halbjährlichen Präsidentschaft bestimmt, welche Themen auf die Tagesordnungen für die Brüsseler Treffen der 27 Wirtschafts-, Justiz- oder Außenminister kommen. Ob der (Rotations-)Ratspräsident daneben noch eine repräsentative Rolle spielen soll und wie sich seine Kompetenzen mit den denen des ständigen EU-Präsidenten vertragen werden, ist noch ungeklärt.

Der tschechische Premier Mirek Topolánek hat bereits klargestellt, dass es als „Demütigung“ empfinden wenn, wenn er die Vorstellung seines Programms im Januar 2009 dem neuen ständigen EU-Präsidenten überlassen müsse, berichtete vor Kurzem das Handelsblatt.

Die institutionelle Eindeutigkeit, die die EU nach Innen und Außen erreichen wollte, schafft der Lissabonvertrag jedenfalls nicht. „Die Strukur wird deutlich komplexer“, sagt die EU-Expertin Sarah Seeger vom Müncher CAP.

Wie also kann die Rolle des EU-Präsidenten in Europa die Rolle Europas in der Welt stärken?

Verglichen mit dem innerdeutschen Machtgefüge, erscheint der Posten eher wie eine Art europäischer Bundespräsident denn als Chef der Regierungschefs: ein Amt, das viel diplomatisches und Moderationsgeschick erfordert, operativ aber im Wesentlichen auf die Repräsentation beschränkt ist.

Und dabei, wie gesagt, beißt es sich auch noch mit den Zuständigkeiten des neuen „europäischen Außenministers“.

Der selbst wiederum wird in allen wichtigen Fragen von Weisungen des Rates abhängig sein. Denn Entscheidungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) müssen auch weiterhin grundsätzlich einstimmig von allen 27 Regierungschefs oder Außenministern getroffen werden. Der Ministerrat, heißt es in Artikel 26 EUV, „fasst die für die Festlegung und Durchführung der GASP erforderlichen Beschlüsse“. (Auch hier übrigens übertragen die Mitgliedsstaaten der EU weitreichende Souveränitätsrechte. Laut der „Passerelle-Klausel“ können die Staatschefs einstimmig beschließen, über bestimmte Bereiche der Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU künftig mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden.)

Zwar erhält der „Außenminister“ neue Initiativrechte. Und er könnte einen gewissen Hebel in die Hand bekommen: Geld. Bisher ist die Außenpolitik Europas auf zwei Köpfe verteilt. Auf Javier Solana den Ratsbeauftragten, der die Mitgliedsländer vertritt, und auf die Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner. Während der eine politische Prestige aber kaum Personal besitzt, wacht die andere über Milliarden und einen ansehnlichen Stab – aber ohne große Gestaltungsmacht. So kommt es, dass die EU zwar mit viel Geld etwa die Palästinensische Selbstverwaltung unterstützt, aber trotzdem nicht als Gestalter wahrgenommen wird.

Auch für den zukünftigten „EU-Außenminister“ wird allerdings dieselbe strukturelle Schwäche gelten wie für den Ratspräsidenten. Das Amt „Hoher Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik“ klingt zwar groß. Doch letztlich unterscheidet es sich in seiner Schlagkraft kaum von der eines Generalsekretärs. Der Nato-Generalsekretär ist mit ganz ähnlichen Befugnissen für die 26 Staaten des Verteidigungsbündnisses ausgestattet. Nimmt ihn deswegen jemand als Außenpolitiker wahr? Und auch von den UN ist überliefert, dass sich ihre Generalsekretäre „mehr als Sekretär, weniger als General“ fühlen.

Gefragt, ob er Angst habe, die EU könnte der neuen US-Regierung den Rang als kraftvollste Klimaschützerin ablaufen, antwortete der ehemalige US-Vizepräsident im Januar 2009 Al Gore: „Es gibt Leute, die spekulieren, dass irgendwann in der Zukunft, falls die Europäische Union sich tatsächlich viel stärker vereinigt, einen Präsidenten haben wird und eine Gesetzgebungskompetenz mit echte Macht, dass sie dann irgendwie aufsteigen könnten, mit Potenzial für Weltführung. Also, ich halte nicht den Atem an.“ (Some have speculated that sometime in the future, if the European Union actually unifies to a much higher degree, and has a president, and an effective legislative body that has real power, they might somehow emerge, with potential for global leadership. I’m not going to hold my breath.)

Der europäische Außenminister allerdings soll einen eigenen Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) erhalten. Noch ist nicht klar, wie genau dieser ausgestaltet sein soll. Bisweilen ist davon die Rede, dass er aus 5000 Diplomaten aller 27 Mitgliedsstaaten bestehen soll. Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok schlägt eine „organisatorische Angliederung“ bei der EU-Kommission vor:

„Diese besitzt mehr als 120 Vertretungen außerhalb der EU. In Kombination mit aus den Mitgliedsstaaten rotierend zur Verfügung gestelltem Personal können sie leicht zu echten EU-Botschaften umgebaut werden. Mancherorts ist es auch denkbar, dass einzelne EU-Staaten sich keine nationalen Botschaften mehr leisten und stattdessen die EU-Botschaften für volle konsularische Dienste nutzen. Das spart öffentliche Gelder.“

Fragt sich bloß, ob die Mitgliedsstaaten an dieser Stelle Geld sparen möchte. Eigene diplomatische Vertretungen sind – neben der Sicherung außenpolitischer Interessenwahrungen – schließlich immer auch eine Frage des nationalen Prestiges. Auch schon der Gedanke, eine EU-Paralleldiplomatie zu dulden, dürfte nicht in allen europäischen Hauptstädten Gefallen finden.

„Viele Mitgliedsstaaten wissen noch gar nicht, was das auf sie zukommt“, sagt Sarah Seeger vom Müncher CAP. „Wollen die sich tatsächlich von der EU vertreten lassen?“

Schon heute schließlich versuchen die Botschaften von EU-Mitgliedsländern Europa so einheitlich wie möglich zu vertreten. Dazu dienen unter anderem „Gemeinsame Standpunkte“, an die sich die Botschafter aller EU-Staaten im Ausland halten.

In Brüssel ist schon, wie es ein Parlamentarier beschreibt, ein „Fingerhakeln“ über den neuen Auswärtigen Dienst im Gange. Denn viele Mitgliedsstaaten, Deutschland vorneweg, möchten den Dienst keineswegs in der Kommission angesiedelt sehen. Dort wäre er ihrer Verwaltungshohiet weitgehend entzogen. Eine zweite Möglichkeit wäre, den Dienst am Generalsekretariat des Rates anzudocken. Eine dritte Option ist, ihn als Behörde sui generis zu erschaffen.

Vorläufiges Fazit: Die „gemeinsame“ Außenpolitik des Global Player Europa ist über innereuropäischen Streit noch nicht weit hinaus.

 

Die Aufweichung deutscher Rechtsstandards

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Teil III des Lissabon Watch

Was könnte sich mit dem Lissabon-Vertrag schon bei der nächste Fußballeuropameisterschaft ändern? Oder bei den Olympischen Spielen – sollten sie irgendwann einmal wieder in einem EU-Land stattfinden? Oder beim nächsten G8-Gipfel?
Vielleicht kommt ja die Regierung im Gastgeberland dankbar auf einen Dreh, den der neue EU-Vertrag eröffnet. Nämlich Polizisten aus dem Ausland, und zwar nicht nur aus dem unmittelbaren Nachbarland, im Inland einzusetzen. Gemäß dieser Möglichkeit aus dem Lissabon-Vertrag:

Der Rat legt gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren fest, unter welchen Bedingungen und innerhalb welcher Grenzen die in den Artikeln 82 und 87 genannten zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats in Verbindung und in Absprache mit dessen Behörden tätig werden dürfen. Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments.
(Artikel 89 AEUV)

Rumänische Polizisten in Deutschland? Italienische Carabinieri beim Oktoberfest? Das sind spannende Vorstellungen. Vor allem aber sind sie mit der Rechtsstaatsgarantie des Grundgesetzes unvereinbar. Ausländische Polizisten sind schließlich nicht im deutschen Polizeirecht ausgebildet. Das ist aber eine ebenso selbstverständliche wie unverzichtbare Bedingung, um mit Exekutivgewalt deutschen Bürgern in ihrem Heimatland gegenüberzutreten.

Polizeirecht ist nicht mit Miet-, Kauf- oder Reiserecht vergleichbar. Es enthalt zusammen mit dem Strafrecht die tiefsten Eingriffsbefugnisse in Bürgerrechte, die dem Staat erlaubt sind. Die Voraussetzungen und Grenzen dieser Eingriffe selbst zu definieren, gehört zu den vornehmsten Rechten des demokratischen Souveräns.

Weiß jemand, unter welchen Bedingungen in Italien eine Demonstration aufgelöst werden kann? Wann in Rumänien Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt werden dürfen? Wie in Frankreich der finale Rettungsschuss geregelt ist? Ob man in Spanien ein paar Gramm Haschisch dabei haben darf? Nein? Genauso wenig werden die ausländischen Beamten die deutsche Rechtslage kennen, zumal sie noch von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich ausgestaltet ist. Manch einer, der im Ausland schon einmal mit Polizisten zu tun hatte, weiß was er an den gründlich geschulten Beamten in Deutschland hat.

Natürlich, lässt sich einwenden, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sich im Europäischen Rat (der Versammlung der EU-Regierungschefs) eine einstimmige Mehrheit für einen Polizeiaustausch findet. Aber das muss auch gar nicht geschehen. Es reicht laut Lissabon-Vertrag aus, wenn sich ein Drittel aller Staaten über solche Austauschprogramme einig werden, also neun. Diese können dann beschließen, bei der „operativen Polizeizusammenarbeit“ eine „verstärkte Zusammenarbeit“ (im Sinne des Artikel 20 EUV) einzugehen. In diesem Fall entfällt auch die Zustimmungspflicht des Europäischen Parlaments.

Unter denselben Voraussetzungen kann der Rat zudem eine „Europäische Staatsanwaltschaft“ einsetzen. Mit anderen Worten: Findet sich eine Koalition aus einem Drittel der EU-Staaten, können diese ihre Polizeien und Strafverfolgungsbehörden verschmelzen.

Dies ist eine Konsequenz aus Wunsch der EU-Regierungschefs, die Justiz- und Innenpolitik weitgehend zu harmonisieren. Auf den ersten Blick entsprechen sich damit den Erwartungen vieler Bürger an die Europäische Union. 81 Prozent der Europäer möchten, dass sich die EU stärker der Terrorismusbekämpfung annimmt, 60 Prozent finden, sie könne bei der Verbrechensbekämpfung mehr tun. So steht es nun auch im neuen Vertrag. Die entsprechende Ermächtigungsnorm lautet:

Die Union wirkt darauf hin, durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität sowie von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zur Koordinierung und Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und den anderen zuständigen Behörden sowie durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.
(Art. 67 Abs. 3 AEUV)

Statt durch Rahmenbeschlüsse (= gesetzgeberische Anregung an die Einzelstaaten) kann die EU auf diesem Feld künftig durch Verordnungen (= unmittelbar geltendes Recht) und Richtlinien (= Beschlüsse, die von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden müssen) aktiv werden. Für die Zusammenarbeit in der Justiz und Innenpolitik wird die Mehrheitsentscheidung im Rat zur Regel („ordentliches Gesetzgebungsverfahren“). Dies bedeutet, dass einzelne Staaten künftig bei sensiblen Rechtssachverhalten überstimmt werden können. Zwar muss das Europäische Parlament zustimmen, bevor solche Gesetze in Kraft treten. Doch das Parlament agiert nicht als Interessenvertreter einzelner Länder. Selbst wenn alle 99 deutschen Parlamentarier gegen einen Vorschlag des Rats stimmen sollten – es blieben noch fast 700 Abgeordnete, von denen sie überstimmt werden könnten. Für kleinere Länder sieht es noch schlechter aus.

In einer Analyse des Lissabon-Vertrages kommt die Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) zu dem Ergebnis, mit diesen Regelungen werde die „schrittweise Supranationalisierung der europäischen Justiz- und Innenpolitik“ fortgeführt.

Das ist natürlich einerseits gut für Wirtschaft und Handel. Andererseits soll die Anerkennung von Urteilen nicht auf das Zivilrecht beschränkt bleiben, sondern auch auf das Strafrecht ausgedehnt werden. Und das ist schlecht für die Rechtssicherheit in Europa. Oder möchten wir wirklich, dass jedes in Italien, Bulgarien oder Rumänien erwirktes Strafurteil in Deutschland anerkannt wird? In allen drei Ländern erweisen sich Richter und Staatsanwälte bis heute als käuflich.

Falls der Lissabon-Vertrag, der ehemalige „Europäische Verfassung“ am 1. Januar 2009 in Kraft tritt, wird sich immerhin eines ändern: Die Ratssitzungen der Minister werden öffentlich. Überrollt werden von innovativer Rechtspolitik kann die Öffentlichkeit freilich dann auch weiterhin.

“Der Kommission fehlt einfach ein Überblick über die unterschiedlichen Rechtslagen in den 27 Mitgliedsländern”, sagt ein Experte für europäische Justizangelegenheiten in Brüssel. „Die übersehen dann schon mal Besonderheiten, die hier und dort herrschen.“

Natürlich kann die Bundesregierung solche Ideen aufhalten – Deutschlands Stimme hat im Rat schließlich Gewicht. Doch eine Intervention setzt voraus, dass die Bundesregierung auch mitbekommt, was sich in Brüssel anbahnt. Und dass sie es aufhalten möchte.

Bei europäischen Harmonisierungen der Rechtspolitik sieht der Lissabon-Vertrag zwar eine „Notbremse“ vor. Im Original heißt es:

Ist ein Mitglied des Rates der Auffassung, dass ein Entwurf einer Richtlinie nach Absatz 2 grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung beruhren wurde, so kann es beantragen, dass der
Europaische Rat befasst wird. In diesem Fall wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt.

(Art. 82 Abs.3 AEUV)

Doch was genau sind „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung“? Dies zu interpretieren, wäre eigentlich Sache der nationalen Parlamente. In Europa bleibt es den Fachministern im Rat vorbehalten – doch sind aller Erfahrung nach eher von Effizienzgedanken getrieben. Zudem, die Folge einer „Notbremsung“ in Brüssel bestünde lediglich darin, dass das Gesetzgebungsverfahren für höchstens vier Monate ausgesetzt würde.

Unklar ist auch noch, welche Rechtsschutzmöglichkeiten die EU dem Bürger parallel zu ihren wachsenden Kompetenzen, etwa bei der Terrorismusbekämpfung, einräumt. „Diese Frage wird in der Tat noch nicht richtig debattiert“, sagt Sarah Seeger vom Münchner CAP. „Ein Versuch, Schutz zu bieten, ist die Einrichtung eines europäischen Datenschutzbeauftragten. Aber hier gibt es aber Probleme – die parlamentarische Kontrolle muss weiter gestärkt werden.“

Weit auseinander gehen auch die Vorstellungen in den einzelnen Staaten darüber, welches Verhalten überhaupt strafbar sein soll. Der EU-Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung aus dem Jahr 2002 zum Beispiel sieht vor, auch so genannte „Aufforderungstaten“ unter Strafe zu stellen, also etwa die Billigung und Aufforderung zu Straftaten. Darunter sollen nach jüngsten Vorschlägen der slowenischen Ratspräsidentschaft auch “bestimmte Formen rassistischer Meinungsäußerungen und Fremdenfeindlichkeit“ gehören.

Derart normative Begriffe ins Strafrecht aufzunehmen, ist gefährlich. Denn nicht alles, was als Meinungsäußerung abstoßend ist, darf auch bestraft werden. Was ist rassistisch? Was ist fremdenfeindlich?Was ist einfach nur eine primitive Haltung? Das Strafrecht ist dazu da, Rechtsgüter zu schützen; die Würde und Unversehrtheit von Menschen, zum Beispiel. Es ist aber nicht dazu da, xenophobe Menschen für ihre Beschränkheit zu bestrafen. Das war bisher in Deutschland nicht so, und auch Großbritannien hielt die Meinungsfreiheit auch der Dummen für schwer einschränkbar. Künftig aber könnte aus Brüssel eine Anweisung an alle Mitgliedsstaaten ergehen, diese Einstellung zu ändern – durch einen, wie gesagt, Mehrheitsbeschluss im Rat.

Mit dem Vertrag von Lissabon erhält die EU desweiteren die Möglichkeit, über die Ausgestaltung von Pässen und Personalausweisen zu bestimmen. Dazu sind allerdings weiterhin ein einstimmiger Ratsbeschluss sowie eine Anhörung des Europäischen Parlaments erforderlich.

Erscheint zur Erleichterung der Ausübung des in Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe a genannten Rechts ein Tätigwerden der Union erforderlich, so kann der Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Bestimmungen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente erlassen, sofern die Verträge hierfür anderweitig keine Befugnisse vorsehen.
(Art. 77 Abs. 3 AEUV)

Das freilich ist eine fragwürdige Kompetenzzuordnung. Schließlich benötigt man innerhalb der EU doch gar keine Reisepässe mehr. Welchem Integrationsziel soll es also dienen, wenn die EU eine Zuständigkeit für das Passwesen reklamiert? Für einen Mitgliedsstaat, in dem es keine Personalausweise, sondern nur Pässe gibt, ergäbe das Sinn. Doch Großbritannien, auf den das zutrifft, ist ohnehin nicht Teil des Schengenraums.

„Bei der Justiz- und Innenpolitik zeigt sich eine ungeheure Integrationsdynamik“, sagt die EU-Expertin Sarah Seeger vom Münchner CAP. „Diese kann durchaus im Spannungsverhältnis zum Subsidiaritätsgedanken stehen.“

Bliebe als juristischer Watchdog der Europäische Gerichtshof (EUGH). Er überprüft bei Klagen unter anderem die Übereinstimmung von EU-Rechtsakten mit der Europäischen Grundrechtscharta. Ob er allerdings zu einer ähnlich vorbildlichen Interpretation der Grundrechte wie deutsche Bundesverfassungsgericht, muss er erst noch beweisen.

Von der EU sollte man im Bereich Inneres und Justiz eine Politik des höchsten Standards erwarten. Genau dies aber wird durch den Lissabon-Vertrag unwahrscheinlicher. Denn je gemeinsamer die Nenner werden, desto kleiner werden sie auch.

 

Selbstentmachtung der Nationen?

tropfen-eu-artikel-210.jpgTeil II des Lissabon Watch

Ein wichtiges Ziel des Lissabon-Vertrags war es, die Kompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedsländern klarer zu regeln. Das ist nicht gelungen. Stattdessen bekommt die EU die Möglichkeit, immer mehr Politikbereiche an sich zu ziehen.

Die Gesetzgebungsverteilung zwischen Mitgliedsländern und EU lässt sich in drei Bereiche einteilen. Da ist einmal das, was die EU ausdrücklich regeln darf („Ausschließliche Gesetzgebung“). Zum Zweiten das, was die EU regeln kann („Geteilte Gesetzgebung“). Und schließlich das, was die EU nicht darf, die ureigenen nationalen Bereiche (bisher beispielsweise die Steuer- und Sozialpolitik).

Besonders wichtig sind im Lissabon-Vertrag die Rechtssetzungsregelungen innerhalb der so genannten „Geteilten Kompetenzen“. Sie sehen vor, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten nur noch dann tätig werden können, wenn und soweit nicht bereits die EU tätig geworden ist.

Übertragen die Vertrage der Union für einen bestimmten Bereich eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit, so können die Union und die Mitgliedstaaten in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Die Mitgliedstaaten nehmen ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat.
(Art. 2 Abs.2 AEUV, Hervorhebung JB)

Diese Kompetenzzuweisung beschert der EU die Möglichkeit, ihre gesetzgeberische Prämisse beständig zu erweitern, denn sie ist eine, wenn man so möchte, Kompetenz qua Initiave.

Die „geteilte Kompetenz“ ist mit der der konkurrierenden Gesetzgebung in Deutschland, also der zwischen Bund und Ländern (Art. 72 Grundgesetz), vergleichbar. Laut Grundgesetz haben in vielen Feldern die Länder die Gesetzgebungskompetenz, solange und soweit der Bund nicht von ihr Gebrauch macht. Wie sich diese Regelung praktisch ausgewirkt hat, ist bekannt. Der Bund hat die allermeisten Kompetenzen an sich gezogen. Den Ländern blieb ein Minimum.

Tatsächlich ist die „geteilte Kompetenz“ nach dem Vorbild der konkurrierenden Gesetzgebung aus dem deutschen Grundgesetz in den Vertrag von Lissabon aufgenommen worden. „Das wurde entschieden, bevor wir in Deutschland gemerkt haben, dass wir eine Föderalismusreform brauchen“, sagt ein Abgesandter eines Bundeslandes in Brüssel. „Statt aus den deutschen Fehler zu lernen, hat Europa diesen deutschen Fehler in den Vertrag übernommen.“

Zwar listet der Lissabon-Vertrag ausdrücklich diejenigen Bereiche auf, in denen die „geteilte Kompetenz“ gelten soll. Eine rote Linie für die Brüsseler Gesetzgebung folgt daraus jedoch nicht. So kann die EU unter anderem das Ziel „wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“ (Art. 4 Abs.2 Ziffer d AEUV) für sich reklamieren. Diese Formulierung ist derart generalklauselhaft, dass es schwerfällt, sich Sachverhalte vorzustellen, die mit ein bisschen politischer Phantasie nicht unter diese Definition fallen könnten.

Im Vertrag ausdrücklich aufgeführt sind des Weiteren der gemeinsame Binnenmarkt, die Sozialpolitik, „der gemeinsame Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, Kohäsion, Landwirtschaft, Umwelt, Verbraucherschutz, Transeuropäische Netze, Verbraucherschutz, Energie, öffentliche Gesundheit.

Damit wird das Feld der EU-Zuständigkeiten, einfach ausgedrückt, so weit abgesteckt, dass es eigentlich keinen Lebensbereich mehr gibt, der nicht erfasst wäre.

Ein Beispiel: Mit dem Gemeinschaftsziel „Binnenmarkt“ ließe sich auch ein Europäisches Zentralabitur rechtfertigen. Es würde Familien innerhalb der EU schließlich den Wechsel des Arbeitsortes erleichtern, wenn ihre Kinder sich in jedem Land gleichermaßen auf ihre Abschlüsse vorbereiten könnten und ihre Qualifikationen von Schweden bis Sizilien gleichermaßen anerkannt würden. Dies würde die Mobilität und Arbeitskräfteaustausch innerhalb Europas, ergo den Binnenmarkt, fördern.

Natürlich ist bei all dem zu bedenken, dass die Mitgliedsstaaten die Herren des Verfahrens und der Verträge bleiben. Die EU ist kein gespenstischer Akteur. Sie ist immer der erklärte Gemeinschaftswille ihrer Mitglieder. Von einer Selbstentmachtung zu sprechen, wäre daher übertrieben. Treffender ist es, davon zu sprechen, dass die Mitgliedstaaten sich darauf geeignet haben, immer größere Teile ihrer Souveränität gemeinsam auzuüben.
Der Gruppendruck auf jede Nation aber, ihre Souveränitätsrechte immer großzügiger in den Brüsseler Pool zu werfen, zum Wohle des großen europäischen Ganzen, nimmt mit dem Lissabon-Vertrag eher zu als ab.

Denn anders als mit dem Vertrag ursprünglich beabsichtigt, ergibt sich dem Lissabon-Vertrag auch weiterhin ,„kein ganz klares Bild der Kompetenzen der Europäischen Union“, resümiert die EU-Expertin am Münchner Centrum für angewandte Politikforschung (CAP), Sarah Seeger.

Viele Brüsseler Kommissionsbeamte lächeln schon heute nur noch freundlich über das Subsidiaritätsprinzip. Es besagt, dass die EU nur das regeln soll, was sie besser regeln kann als die einzelnen Mitgliedsstaaten. Mit dem Lissabon-Vertrag verabschiedet sich die EU mehr oder weniger offen von diesem Leitgedanken.

Die EU ist ein historisches Experiment, und bisher ist es beeindruckend erfolgreich verlaufen. Doch es scheint, die Union wolle einfach nicht inne halten, um die Ergebnisse des bisherigen Verlaufs zu analysieren. Stattdessen fällt es ihr immer schwerer, das Experiment abzubrechen – oder zumindest eine Denkpause einzulegen.

„Ich vergleiche die Wirkung der EU immer mit einem Kiesel, den man ins Wasser wirft“, sagt ein Brüsseler Diplomat. „Die Kreise werden immer größer. Je mehr man anfängt zu regeln, desto mehr Regelungsbedarf gibt es.“

 

Was Sie nie über das neue Europa wissen wollten. Aber sollten

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Mit dem Lissabon-Vertrag über die Europäische Union ist es wie mit der Bibel vor der Erfindung des Buchdrucks. Jeder hat schon einiges davon gehört und glaubt ungefähr zu wissen, was drinsteht. Aber weil die ganze dicke Schrift viel zu kompliziert ist um sie gänzlich zu verstehen, verlässt sich für die Interpretation jeder auf seine persönlichen Priester.

Für die einen ist es die Bundesregierung.
Für die anderen die EU-Kommission.
Für wieder andere die Tagespresse.
Oder der EU-Rebell Peter Gauweiler.

Dieser Blog will in einer kleinen Serie versuchen, einen eigenen, kritischen Blick auf das 450-Seitenwerk zu werfen, das die Europäische Union an Haupt und Gliedern straffen soll.

Denn der Countdown läuft.

Am 12. Juni stimmen die Iren in einem Referendum über den Vertrag ab. Sie sind das einzige Volk Europas, das nach seiner Meinung über den Lissabon-Vertrag gefragt wird. In den übrigen 26 Mitgliedsstaaten entscheiden die Parlamente. In Deutschland haben Bundestag und Bundesrat bereits zugestimmt. Anders als in Irland sind die meisten Festlandeuropäer völlig unterinformiert über die Auswirkungen der neuen Bedienungsanleitung für Europa. Das ist bedenklich, denn der Vertrag verändert eine Menge. Und vieles davon wäre es wert, dem Feuer einer kritischen öffentlichen Debatte ausgesetzt zu werden.

Um – wenn auch etwas verspätet – eine solche Diskussion anzustoßen, will sich dieser Blog in den kommenden Tagen folgender, durchaus provokant gemeinter Fragen annehmen:

I. Welche sind die grundlegenden Änderungen, die der Lissabon-Vertrag bringt?

II. Entmachten sich die Mitgliedsstaaten selbst, wenn sie den Vertrag unterzeichnen?

III. Droht mit dem Lissabon-Vertrag die Verwässerung deutscher Rechtsstandards?

IV. Stärkt der Lissabon-Vertrag die EU wirklich als Global Player?

V. Bringt der Lissabon-Vertrag wirklich mehr Demokratie?

Widerspruch ist willkommen.

Wir beginnen mit der ersten Frage:

I. Welche sind die grundlegenden Änderungen, die der Lissabon-Vertrag bringt?

Fangen wir mit den Veränderungen an, die der Lissabon-Vertrag an der demokratischen Architektur des Kontinents bewirkt. In zwei Sätzen lautet sie: Die horizontale Demokratie in Europa, also diejenigen zwischen den 27 Staaten, wird gestärkt. Die vertikale Demokratie, also die vom Bürger zur gesetzgebenden Instanz, wird geschwächt.

Im Europäischen Rat, also dort, wie die Staats- und Regierungschefs oder die Fachminister zusammenkommen, um verbindliche Beschlüsse für die EU zu fassen, soll künftig auch in Bereichen, die in Grundrechte eingreifen, mit Mehrheit entschieden werden. Bisher war die europäische Fortentwicklung in diesem Bereich auf Einstimmigkeit angelegt. Künftig aber kann eine Mehrheit von Staaten (die auch 65 Prozent der Einwohner Europas stellen müssen), verbindliche Entscheidungen treffen.

Denkbar ist daher, dass einzelne Länder in Bereichen überstimmt werden, die traditionell zu den Kernkompetenzen der Nationalstaaten gehörten. Namentlich in der Justiz- und Innenpolitik. Zwar neigt Brüssel traditionell zu einvernehmlichen Lösungen. Aber im Konfliktfall ist es denkbar, dass künftig fremde Staaten darüber entscheiden, ob der eigene Staat ein weiteres Stück Souveränität abgibt.

Möglicherweise bringt dieses Verfahren gerade für Deutschland mehr Nutzen als Schaden. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass das größte Gründungsland der EU überstimmt wird, ist gering. Gleichwohl setzt der Lissabon-Vertrag ein staatspolitischen Experiment in Gang, das historisch beispiellos ist.

Er sieht vor, dass die EU Staaten sich gegenüber einander so verhalten wie ein Demos, eine Bürgerschaft von Staaten. In dieser kann es ebenso Gewinner wie Verlierer geben.

Zwar versucht der Vertrag, diesen Effekt zu mildern, indem es jedem Staat bestimmte Einspruchsrechte gegen die neuen Verfahren an die Hand gibt. Über diese werden wir noch mehr erfahren. Doch diese Notbremsen reichen nicht aus, um Beschlüsse, die eine Ratsmehrheit unbedingt durchsetzen möchte, tatsächlich zu stoppen.

Mit dem Lissaboner Vertrag wird deutlicher, was die EU eigentlich ist, ja, vielleicht sein muss, wenn sie sich in der Welt beweisen will: Eine Demokratiendemokratie, eine Gouvermentaldemokratie oder schlicht: eine Polikratie, eine Herrschaft der Staaten.

Eine kleine und wichtig Einschränkung allerdings (die oft unterschlagen wird) gleich vorweg: Das Prinzip der doppelten Mehrheit im Rat tritt erst ab 2014 in Kraft – eine Folge polnischer Obstruktion während der Schlussphase der Verhandlungen. Die wichtigsten Auswirkungen des Lissabon-Vertrags werden also noch eine ganze Weile auf sich warten lassen. Wir tun in den nächsten Tagen aber einfach einmal so, als würde alles schon morgen passiert. Sonst wird’s wirklich viel zu kompliziert…