Um Proteste zu verhindern, sind in Belarus Verleger, Journalisten und Aktivisten „präventiv“ festgenommen worden. So schlimm war es seit den dreißiger Jahren nicht mehr.
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Die in Belarus per Präsidialdekret Nr. 3 eingeführte Arbeitslosensteuer hat seit Mitte Februar in Minsk und anderen Großstädten in Belarus viele Menschen auf die Straße getrieben. Zunächst forderten sie die Rücknahme der Strafen für „Parasiten“ (als „Parasit“ gilt, wer nicht bereit ist, für den Monatslohn von 100 Dollar zu arbeiten, der vom Arbeitsamt für freie Stellen in Aussicht gestellt wird). Nikalai Statkewitsch, Ex-Präsidentschaftskandidat, hat die Regierung aufgefordert, das Dekret bis zum 25. März zurückzunehmen. Für den 25. März, den Unabhängigkeitstag, wurde eine Großdemonstration angekündigt.
Nur konnte Alexander Lukaschenko, wie wir ihn kennen, die Steuer nicht mehr zurücknehmen. Damit hätte er eingestanden, dass seine Entscheidungen revidierbar sind, dass er Rücksicht auf den Willen anderer nimmt. Aber Lukaschenko ist unfähig, Schwäche zu zeigen, seien die Umstände dafür noch so günstig. Deshalb wurde die Regelung nicht zurückgezogen, sondern lediglich die Erhebung der Steuer für ein Jahr ausgesetzt. Die Antwort von der Straße lautete: „Nein zum Dekret Nr. 3 – Lukaschenko pack ein!“
Das Regime begann mit Verhaftungen.
Als die Jagd auf Netz- und andere Aktivisten begann, als auch Leute, die sich bei Demonstrationen an ihrem Megafon festgehalten oder über ihre schwierigen Lebensumstände gesprochen hatten für 24 Stunden festgehalten wurden, war niemand ernsthaft erstaunt. Das kannten wir schon aus den Jahren 2001 und 2006 als „Präventivhaft“. Die Absicht dahinter: potenzielle Rädelsführer isolieren, damit die Menge der Demonstranten nicht weiter weiß. So waren am Ende praktisch alle bekannten Oppositionsspitzen inhaftiert: Anatol Ljabedska, Wital Rymascheŭski und Pawel Sewjarynez.
Doch am Samstag den 18. März spitzte sich die Operation zur Neutralisierung möglicher Risiken zu. Was sich da ereignete, ist, so weit ich mich erinnern kann, beispiellos. Es begann damit, dass das Facebookkonto meines Verlegers Miraslaŭ Lasoŭski vom Verlag Knihazbor gehackt wurde.
An dieser Stelle wechsle ich in den Verhörprotokoll-Modus, um den belarussischen Ermittlern, die diesen Text sicherlich aufmerksam lesen werden, die Arbeit zu erleichtern. Ich lernte Miraslaŭ Lasoŭski irgendwann 2013 kennen, als ich mit meinem dritten Roman Sphagnum bei ihm anklopfte. Was ich über Miraslaŭ sagen kann? Er war früher Survival-Coach, ist körperlich topfit und gut beschlagen in Militär- und Waffengeschichte. Er trieb Sport und interessierte sich für Reenactment-Darstellungen. Und er arbeitete mit belarussischsprachiger Literatur.
Eine wichtige Detailfrage für alle, die schon die Version kennen, die das staatliche Fernsehen in Belarus verbreitet: War Miraslaŭ rechtsextrem? Mitnichten, Genosse Ermittler, mitnichten!
Das Recht, das Weiße schwarz zu nennen
Sicher, mir ist schon klar, dass belarussische Diplomaten und Trolle jetzt bemüht sind, das Ganze als Kampf gegen Rechtsextremisten darzustellen und die Repressionen in Chiffren umzuprogrammieren, die den Europäern nahe und verständlich sind. Wie ich bereits in meinem Crashkurs in totalitärer Linguistik bemerkt habe: Macht ist das Recht, das Weiße schwarz zu nennen und alle zu bestrafen, die damit nicht einverstanden sind.
Man braucht die Propaganda-Klischees gar nicht zu kopieren. Wer nicht den Westen fürchtet, sondern Russland, ist keineswegs ein „Rechtsnationalist“ wie „in der Ukraine“. Unter Berücksichtigung von Abchasien, Ossetien, Donezk und Donbass würde ich Miraslaŭ eher als Realisten bezeichnen. In der Mitte des Spektrums.
Soweit ich weiß, hatte Miraslaŭ früher Verbindungen zur Weißen Legion, einer Organisation, die es sich in den neunziger Jahren zur Aufgabe gemacht hatte, in Belarus unabhängige, entsowjetisierte Streitkräfte aufzubauen. Streitkräfte, die nicht nur eine Aggression von Norden oder Westen abwehren würden (wo sich EU-Länder befinden), sondern auch von Osten (wo Russland liegt). Aber die Weiße Legion wurde zu Beginn des neuen Jahrtausends aufgelöst. Aus Gesprächen mit Miraslaŭ weiß ich, dass er sich inzwischen ganz auf die Kultur konzentriert und im gedruckten Wort das geeignete Mittel zu einer allmählichen Veränderung der Lage in Belarus sieht.
Vor drei Jahren inspirierte mich dieser Mann, der vom militärischen Engagement zur Pflege und Förderung der Literatur gefunden hatte, zu meinem Roman Mova, der vom Verschwinden einer Sprache handelt.
Ich glaube nicht, dass Miraslaŭ sich irgendwie auf den 25. März vorbereitet hat, er hatte im Verlag viel um die Ohren und wusste nur zu gut, dass eine Destabilisierung der Lage in Belarus eine Invasion wie auf der Krim nach sich ziehen könnte.
Aber, wie ich Ihnen schon gesagt habe, Genosse Ermittler, am 18. März wurde Miraslaŭs Facebookkonto gehackt. Anschließend wurden von dort aus im Namen einer nicht mehr existierenden Organisation Aufrufe zum bewaffneten Widerstand verschickt. Das Täuschungsmanöver flog schnell auf und wurde glücklicherweise auch von großen Medien aufgegriffen. In Mova ist der Kämpfer, der für die verschwindenden Wörter streitet, am Ende verschollen. Im Leben ist es so gekommen, als planten die Leser unserer Bücher unsere Schicksale.
Ich kann darüber nicht lachen
Miraslaŭ verschwand am 21. März gegen 19 Uhr. Etwa zur selben Zeit wurde Ales Jaŭdacha, Buchhändler und Betreiber des Onlineportals knihi.by von Maskierten überfallen. Unmittelbar nach der Verleihung eines Literaturpreises für das gelungenste Debüt des Jahres. Verleger und Buchhändler hatten geschäftlich häufiger miteinander telefoniert, das war offenbar Grund genug, auch letzteren den „Rechtsextremisten“ zuzurechnen.
Eine Stunde später, um 20 Uhr, tauchte Miraslaŭ wieder auf. Maskierte brachten ihn nach Hause, um sogleich die Wohnung zu durchsuchen. Sie hatten ihn zusammengeschlagen, er hatte eine blutende Wunde am Kopf, musste das Gesicht zur Wand drehen und durfte nicht mit seiner Freundin sprechen. Sie konnte ihm lediglich ein Glas Wasser bringen. Am Abend darauf wurde im Fernsehen gezeigt, was man bei den „Radikalen“ gefunden hatte: eine Kalaschnikow, Jagdwaffen (für die nach Angaben seiner Familie ein Waffenschein vorliegt), Granatenattrappen. Dummerweise haben sie vergessen, das Magazin auf die kameraabgewandte Seite zu drehen, sodass jeder die Öffnung für die Paintballkugeln sehen konnte.
Tags darauf gingen die Verhaftungen weiter: Smizer Daschkewitsch, Aktivist einer Jugendorganisation, restaurierte gerade Möbel in der Wohnung des bekannten belarussischen Schriftstellers Uladsimir Arloŭ. Smizer wartete auf den Pizzaservice, stattdessen kamen Soldaten einer Sondereinheit. Arloŭs Wohnungstür ist hinüber, Smizer Daschkewitsch hat also wieder zu tun, wenn (falls!) er aus dem Gefängnis entlassen wird. Daschkewischs Frau Nasta, eine ehemalige Studentin von mir, ist zur Polizei gefahren, um herauszufinden, wo sie ihren Mann hingebracht haben. Weil sie um das Verhaftungschaos wusste, nahm sie zwei Journalistinnen mit. Im Polizeirevier wurden ihr und den Journalistinnen erklärt, sie seien festgenommen, weil sie in einem Objekt mit besonderen Sicherheitsbestimmungen gefilmt hätten. Sie wurden durchsucht und anschließend zu Nastas Erleichterung wieder freigelassen (sie hat zwei kleine Kinder zu Hause). Während sie bei der Polizei war, hatte man ihre Wohnung durchsucht. Das gesamte Bargeld ist verschwunden. Und: die Katze. Für die verschwundene Katze wurde aus Solidarität inzwischen ein Konto bei Instagram angelegt, in ihrem Namen werden Selfies aus belarussischen Gefängnissen gepostet. Ich kann darüber nicht lachen.
Das alles überrollte mich auf dem Weg von Zürich nach Leipzig. In der ersten Nacht nach der Verhaftung von Lasoŭski und Jaŭdacha kam ich mir vor wie eine Figur aus Paranoia. Am nächsten Tag hatte ich einen Auftritt bei der Buchmesse, erzählte von den Verhaftungen Lasoŭskis und Jaŭdachas, fuhr zurück ins Hotel und musste lesen, dass sie in der Zwischenzeit den Politikwissenschaftler Ales Lahwinez festgenommen hatten, mit dem ich gemeinsam an der European Humanities University in Vilnius unterrichtet habe. Ales‘ Sohn haben sie gleich mitverhaftet, den Vater vor seinen Augen zusammengeschlagen und den Sohn anschließend wieder laufen lassen.
Das KGB vermeldet unterdessen die Inhaftierung „professioneller Kämpfer“ der Weißen Legion. Der Buchhändler Jaŭdacha wird (noch inoffiziell) der Ausbildung von Kadern für Massenunruhen bezichtigt. Smizer Daschkewitsch wird vorgeworfen, die Weiße Legion hätte ihn „mit Kämpfern aus der Ukraine“ für „Straßenaktionen am 25. März“ einziehen wollen. Was man Smizer Daschkewitschs Katze zur Last legt und ob ihr überhaupt etwas zur Last gelegt wird, ist mir nicht bekannt. Möglicherweise wird auch der Aufenthalt auf dem Schoß von „Extremisten“ und ein Schnurren zur gezielten Destabilisierung der Lage mit Arrest geahndet.
Überhaupt scheint mir, dass die angeblichen „Unruhekader“ zuallererst ein Produkt derer sind, die das idiotische Schmarotzer-Dekret ersonnen haben.
„Wir sind Zinnsoldaten“
Die Website von Radio Swaboda meldet 300 Festnahmen. Auch eine ständig aktualisierte Liste der momentan Inhaftierten wurde ins Netz gestellt: Name, Stadt, Inhaftierungsdatum, Haftdauer (sofern bekannt). Die Liste liest sich wie ein Verzeichnis von Katastrophenopfern. Ich kann kaum in Worte fassen, wie es sich anfühlt, dort ständig neue Namen meiner Facebookfreunde zu entdecken. Und ich kann kaum beschreiben, was mit Facebook selbst gerade passiert: Manche Profile sind tot, andere Nutzer sind zu Tode erschrocken und trauen sich nicht mehr, Beiträge auch nur zu liken oder zu teilen.
Während ich diesen Text schreibe, sind Miraslaŭ Lasoŭski, Ales Jaŭdacha und Dutzenden weiterer Inhaftierter noch keine offiziellen Begründungen für ihre Verhaftungen genannt worden. Vielleicht müssen sie ein paar Tage im Gefängnis verbringen (Weshalb? Wegen Kugelschreiberhaltern aus Granatenattrappen? Wegen Paintballmarkierern?), vielleicht auch die nächsten Jahre. Während ich diesen Text schreibe, kann niemand vorhersagen, ob die Leute am 25. März auf die Straße gehen. Zugleich kann niemand mit Sicherheit sagen, was besser für die Gefangenen wäre: Wenn viele gehen und die Verhaftungen andauern, oder wenn niemand geht und das Regime erkennt, dass die Einschüchterungstaktik aufgegangen ist.
Momentan sind mehr Menschen inhaftiert als bei den Repressionen im Jahr 2010. Das geht schon über die Räumung des Zeltlagers in der Innenstadt von Minsk im Jahr 2006 hinaus. Mehr noch, ich habe keinen anderen Fall erlebt, der ähnlich extrem und ähnlich absurd wäre. Etwas Vergleichbares ist 1930/31 passiert: Die Geheimpolizei OGPU erfand damals eine nationalistische antisowjetische Organisation, die Union zur Befreiung Weißrutheniens, und verurteilte 86 Personen als ihr zugehörig, hauptsächlich Kulturschaffende – Schriftsteller, Verleger, Buchhändler. Damals umfasste die Liste 86 Namen, am Freitagabend waren es 142 (und es werden immer mehr).
Was mich in den vergangenen drei Tagen am stärksten beeindruckt hat? Jedenfalls nicht die Erkenntnis, wie schnell und einfach sich Paranoia breitmacht, das wusste ich schon vorher. Wenn du oft genug von den abgedunkelten Kleinbussen gelesen hast, aus denen die Maskierten springen, jagen dir auch im heimeligen Berlin und in Leipzig Autos mit getönten Scheiben einen Schauer über den Rücken.
Den stärksten Eindruck haben die Reaktionen meiner europäischen Gesprächspartner hinterlassen, denen ich von den Ereignissen erzählt habe. Da gab es lebhafte Anteilnahme und einen raschen Themenwechsel oder betretenes Schweigen. Was hatte ich auch erwartet? Belarus ist nicht die Türkei, sondern weit weg und nicht zu verstehen.
Schrecklich ist nicht, wenn das Weiße schwarz genannt wird, sondern wenn dein Umfeld langsam daran glaubt oder dir vermittelt, dass es ihm im Grunde herzlich egal ist.
Schließen möchte ich, Genosse Ermittler, mit dem Fazit von Nasta Daschkewitsch, der Ehefrau des inhaftierten Aktivisten und Besitzerin der bei der nächtlichen Durchsuchung verschwundenen Katze. Ich wünsche mir, dass Sie dieses Fazit lesen. Vielleicht rührt sich ja etwas in Ihnen. Die Mutter zweier Kinder, aus deren Wohnung alles Bargeld verschwunden ist, schreibt:
„Wir sind Zinnsoldaten. Wir können uns lange standhaft halten. Aber wenn deine Freunde dir ohne Vorwarnung per Lieferservice ein Essen schicken lassen, weil du den dritten Tag in Folge nichts zu dir genommen hast, einfach so, ohne Kommentar, dann kannst du dich nur noch hinsetzen und heulen.“
Aus dem Russischen übersetzt von Thomas Weiler