Von 1960 bis zu ihrem Tod 2011 hat Christa Wolf jedes Jahr über den 27. September geschrieben. Was für ein Tag, was für ein Werk, wenn man sich darauf einlässt.
Wie man ein Buch liest
1960 fordert die Moskauer Tageszeitung Iswestija Schriftstellerinnen* auf der ganzen Welt auf, einen gewöhnlichen Tag in ihrem Leben zu dokumentieren, und zwar den 27. September. Christa Wolf folgt dem Aufruf und dokumentiert auch den 27. September der Folgejahre, es wird daraus eine lebenslange Gewohnheit und daraus werden die Bücher Ein Tag im Jahr und Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. Weiter„Das Wetter findet immer statt“
Auf georgischen Friedhöfen isst und trinkt man mit den Verstorbenen, damit es ihnen im Jenseits gut geht. Leider macht die Totenverehrung auch vor Stalin nicht halt.
Ich dachte immer, georgische Männer seien extrem stark, lebten sehr lange. Sie gewinnen bei den Olympischen Spielen im Judo Medaillen, genauso wie im Gewichtheben. Ihr Nationalsport spiegelt Ausdauer, Kraft und Macht. Sie sind klein, schwarzhaarig, haben dunkle Gesichter. Ihre Augen sind wunderschön. Und sie sind ungeheuer charmant. Ja, die georgischen Männer sind Helden. Die meisten von ihnen arbeiten in tausend Meter Höhe in den kaukasischen Bergen. Vor Jahrhunderten schon bauten sie Festungen aus Stein, um die Kloster mit den Ikonen aus der Zeit der Regenschaft von Königin Tamar (1184-1213) zu schützen. Weiter„Die Toten sind lebendig“
Nackte Männerfüße gehen gar nicht? Sagt wer? Seit Mai rekelten sich die Zehen unseres Autors in der Sonne. Aber mit dem Sommer schwinden auch die Latschen. Ein Abschied
Das war’s dann also mit uns dreien, nun ist es Zeit für den Abschied, hinweg mit euch zweien. Auf den Friedhof des Sommers mit euch, in den Plastikcontainer oder lieber doch in den Sondermüll? Wir haben schließlich viel erlebt miteinander, und an euren Sohlen klebt nicht nur Kaugummi. Weiter„Tschüss Flip, Ciao Flop“
Die Nackten fürchteten nichts: weder den Sonnenbrand am Hintern noch die verpasste Bikinifigur, weder die Kollegen noch die DDR. Mein erster Sommer neben dem FFK-Strand
Irgendwer musste uns direkt an die Abgrenzung gelegt haben. Ich glaube schon, dass uns dieser Platz gezielt zugeteilt wurde. Wir waren in der DDR, wo Zuteilung bekanntlich großgeschrieben wurde. Wir, zwei Busladungen voller Kinder plus Betreuer eines Ferienlagers, waren in Bansin, einem der drei Kaiserbäder auf Usedom und lagen zwei Wochen lang fast täglich am selben Strandabschnitt. Hinter uns weiße Villen, vor uns die Ostsee und direkt neben uns die größte Ansammlung Nackter, die ich in meinem bisherigen Leben gesehen hatte. Weiter„Erdbeerarsch mit Schlagsahne“
Der Flokati aus Laubbäumen ist verschwunden. Die biblische Dürre-Prophezeiung scheint wahr geworden. Werden wir bald auf rituellen Regenwegen wandern müssen?
Seit Wochen hat es nicht richtig geregnet. Die einen finden das toll, andere leiden. „Dicke Füße und schlechte Laune!“, schrieb meine Schwester mir neulich, der es eigentlich nie heiß genug sein kann. Die Hitze macht eben doch nur so lange Spaß solange sie sich zwischendurch mit genug Regen abwechselt. Doch statt Regen macht das Wort „Dürre“ die Runde. „Dürre“ klingt unheimlich, nach der warnenden Vorbotin eines Unglücks, zwei schnelle Silben mit viel Geröchel in der Mitte, auf die dann das unvermeidlich Einsilbige folgt, wenn man nicht aufpasst: „Tod“. Weiter„Pharaos Traum“
In größter Hitze drei Tage Musik auf den Ohren: Ist man nach dem Berliner Pop-Kultur-Festival noch derselbe Mensch? Notizen aus der Endlosschleife
Ich wache auf, ein Blick auf den Wecker: Es ist morgens um drei, und ich habe ein Fiepen im rechten Ohr, als hätte sich ein Schwarm Moskitos in meinem Gehörgang eingenistet; oder ist die amerikanische Techno-Produzentin Karen Gwyer eingezogen und legt gerade die extrem hochgepitchte Version eines ihrer Minimal-Tracks auf? Es ist nur mein Tinnitus, Andenken an das Pop-Kultur-Festival in Berlin. Wer sich drei Tage in Folge jeden Abend sieben Stunden lang mit Musik berauschen lässt, darf sich aber auch echt nicht wundern. Weiter„Sommer der Psychedelik“
Zu Hause wurde der ostpreußische Dialekt der Mutter geübt. Auf dem Spielplatz in Rheinhessen aber hörten wir andere Mundarten. Das Eigene und das Fremde mischten sich miteinander.
Dies ist nicht die Entwicklung eines geschlossenen poetologischen Systems, sondern vielmehr ein Lokaltermin: Wo entspringt „das Schreiben“, „die Stimme“, „der Stoff“. Schreiben kommt niemals ohne das Wissen, die Erfahrung, die Gesellschaft der anderen, des anderen aus. Nur Einzeller vermehren sich über Parthenogenese; beim Erzeugen eines literarischen Texts hingegen ist das Hinzukommen von Fremdem unerlässlich. Erst die Vermischung von Eigenem und Fremdem, eigentlich eine Verunstaltung, bringt die Gestalt hervor. Weiter„Die Summe aus Region und Person“
Telefon? Lippenstift? Hilfe! Das halbe Leben verbringe ich kopfüber in meiner Handtasche. Fragen Sie nicht, was passiert, wenn im Urlaub noch die Koffer dazukommen.
Die Hälfte meines Lebens verbringe ich kopfüber in meiner Handtasche. Mal ist der Hausschlüssel verschwunden, dann suche ich in den Tiefen meiner Tasche meinen Lieblingslippenstift. Der Boden meiner Handtasche scheint in solchen Momenten an Tiefe zu gewinnen, er wird gleichsam uferlos, ein sich ausdehnender Kosmos, und ich wühle und wühle um mein Leben, aber die geliebten Gegenstände bleiben verschollen. Weiter„Ich wühle um mein Leben“
Der Bayer dümpelt satt und selbstgefällig in seiner Lederhose vor sich hin und lässt den Herrgott einen guten Mann sein. Das Weltgeschehen ist ihm wumpe. Eh klar, gell?
Bayern ist lustig. Von außen gesehen, in den Augen vieler Nichtbayern. Der Bayer – und daran hat sich seit Menschengedenken in der Vorstellung einschlägiger Bayernbeobachter nichts geändert – haut sich morgens auf die Schenkel, um wach zu werden; zum Frühstück genehmigt er sich ein Weizenbier; den Rest des Tages verbringt er entweder in einer Lederhose in einem Kuhstall oder in einem Anzug bei BMW oder, als Bayerin, mit Shoppen auf der Maximilianstraße. Diese Straße ist benannt nach … Egal. Weiter„Der bayerische Mensch an und für sich“
An der Bosporuspromenade sitzen Familien. Man angelt und grillt. Über Politik wird nicht gesprochen. Ich bin fremd in Istanbul und finde hier doch, was in Europa fehlt.
Ich bin in Istanbul, nun schon den achten Monat. Ich kenne verschiedene Jahreszeiten, kenne die Mimosen, Hortensien, den blühenden Judasbaum, reife Feigen auf dem Glasdach der Bushaltestelle, unreife Haselnüsse von der Schwarzmeerküste. Ich kenne sogar das Unkraut und ich weiß, wie der Staub riecht. Ich kenne den Winterwind und die feuchtheißen Stürme des Sommers. Vor kaltem Regen fliehe ich manchmal in ein Teehaus und die Männer fragen sich, was sie mit dieser Ausländerin anstellen sollten – ihr einen heißen Tee bringen, eine weiche Katze, einen Stuhl? Weiter„Das Schweigen ist ein lauter Ruf“