Unser Autor hat einen neuen Ohrwurm. Es ist ein Tinnitus mit kryptischer Botschaft: Der Krieg in der Ukraine ist lauter als alle Lieder.
Beschreibung: Streng genommen handelt es sich um keinen Ohrwurm, sondern eher um ein Insekt. Es nistet in meinem linken Mittelohr und lässt in unvorhersehbaren Momenten ein hohes, glänzendes Sirren ertönen. Vielleicht versucht es zu singen, vielleicht zu fliegen, vielleicht reibt es auch einfach die Kanten seiner Vorderflügel gegeneinander wie eine Grille. Wenn ich für einige Sekunden mit dem Zeigefinger das betroffene Ohr verstopfe, verstummt es und schläft auf unbestimmte Zeit wieder ein.
Vorkommen: Unregelmäßig. Zum letzten Mal gestern Nacht, 4.33 Uhr.
„C-a-f-f-e-e…“ – unser Autor hat sich einen Dresdner Ohrwurm eingefangen, der ihn in den Wahnsinn treibt. Pausenlos singt der vom „Türkentrank“ und kranken Moslems.
Beschreibung: Kaum nötig, schließlich gehört das Stück zu den populärsten deutschen Kinderliedern. Zudem beschreibt es in den ersten beiden Takten auf überraschend moderne, selbstreferenzielle Weise seine eigene Form: „c-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Kaffee!“ Der Rest des Textes ist dann schon deutlich weniger zeitgemäß: „Nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank. Sei doch kein Muselmann, der ihn nicht lassen kann!“
Vorkommen: Seit etwa einem Monat, vor allem montagabends.
Unser Autor hat einen neuen Ohrwurm. Warum erinnert er sich ausgerechnet jetzt an Morrissey und dessen Hass auf Margaret Thatcher?
Beschreibung: Der letzte und mutmaßlich schwächste Song von Morrisseys Solo-Album Viva Hate aus dem Jahr 1988. Der Gitarrist schrummelt uninspiriert vor sich hin, Lagerfeueratmosphäre um halb fünf Uhr morgens: Die meisten Jugendlichen haben sich schon zum Schlafen oder Knutschen in ihre Zelte zurückgezogen, nur Morrissey sitzt noch herum und wünscht Margaret Thatcher den Tod an den Hals. „The kind people have a wonderful dream: / Margaret on the guillotine / Cause people like you make me feel so tired / When will you die?„
Unser Autor Florian Werner wird andauernd von Ohrwürmern heimgesucht. Sein neuer will ihn ideologisch beeinflussen: Migranten verließen ihre Heimat aus Lust, nicht aus Not. Wer’s glaubt.
Beschreibung: Nicht etwa das bekannte Volkslied gleichen Namens, sondern die Vertonung in B-Dur aus dem Zyklus Die schöne Müllerin von Franz Schubert; der Text stammt passenderweise von Wilhelm Müller. Allerdings kennt mein Ohrwurm nur die erste Strophe, die nicht minder schönen Strophen über „das Wasser“, „die Räder“ und „die Steine“ lässt er einfach weg. Stimmlich ahmt mein Ohrwurm täuschend echt den jungen Dietrich Fischer-Dieskau nach; wie dieser hält er sich brav an die Tempobezeichnung: „mäßig geschwind“.
Vorkommen: Mäßig häufig. Auslöser sind in der Regel − wenig überraschend − Wanderungen.
Unser Autor Florian Werner wird andauernd von Ohrwürmern heimgesucht. Was wollen sie ihm nur sagen? In dieser Reihe begibt er sich auf die Spuren der allgegenwärtigen, aber noch weitgehend unerforschten Lebewesen.
Beschreibung: Eine trügerisch schlichte C-Dur-Tonleiter, c-d-e-f-g-a-h-c. Wenn der oberste Ton erreicht ist, springt mein Ohrwurm eine Quinte nach oben und singt eine G-Dur-Tonleiter. Wenn deren oberster Ton erreicht ist, springt er wieder auf das c und singt eine weitere C-Dur-Tonleiter, nur diesmal eine Oktave höher. Wenn deren höchster Ton erreicht ist, springt er um eine Quinte nach oben … und so weiter.