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Ich wurde zum Meer

Flucht bedeutet auch den Verlust der Sprache. In dem Projekt „Weiter Schreiben“ treffen sich geflüchtete und deutsche Autoren. Text wird übersetzt, Horizont geöffnet.

"Weiter Schreiben": Ich wurde zum Meer
© Sandra Weller

Goldene Flächen, in einer Reihe, abends. Die Fenster neben den Kränen werfen Sonnenlicht zurück. Es ist 19 Uhr. Hier oben endet Berlin am Horizont. Vor den Menschen, die sich an der Brüstung dieser Dachterrasse im 16. Stock eines Hochhauses an der Grenze von Kreuzberg zu Mitte anlehnen, liegt die Stadt ausgebreitet wie eine zufällige Sammlung Stahl, Beton und Asphalt unter einem von Kondensstreifen durchkreuzten Himmel. Es ist fast Sommer, Mai, 28 Grad. Ich sitze jetzt einsam / am runden Tisch / ich sitze rund / um mich selbst herum / gleiche jetzt einem Tisch, an dem niemand sitzt / sitze jetzt / irgendwie / rieche nach Tabak / und Verlust. Das Gebäude ist ein Asylbewerberheim. Die Terrasse gehört zur Bibliothek Baynetna. Weiter„Ich wurde zum Meer“

 

Amerika als T-Shirt

Ist es immer nur rechts gegen links? Wer verstehen will, wie Amerikaner denken, sollte sich ihre T-Shirt-Slogans ansehen. In Iowa findet man besonders schöne Exemplare.

© Jason Reed/REUTERS

SORRY ABOUT BETSY DEVOS, AMERICA NEEDS LESBIAN FARMERS, JUST ANOTHER SLUT ON BIRTH CONTROL. Betsy DeVos ist bekanntermaßen die frischgebackene Bildungsministerin der Vereinigten Staaten, und eines ihrer proklamierten Ziele ist es, die Förderung staatlicher Schulen abzuschaffen. Dass Amerika mehr lesbische Landwirtinnen bräuchte, ist als Replik auf eine abwertende Aussage des konservativen Radiomoderators Rush Limbaugh zu lesen. Und eine slut, die sich für birth control einsetzt: is definitely reclaiming some four-letter-word. Ich befinde mich im T-Shirt-Laden Raygun im East Village von Des Moines, dem hippen, gentrifizierten Viertel der Hauptstadt des Bundesstaates Iowa. Weiter„Amerika als T-Shirt“

 

Eine Totengräberin kann nicht wissen, was Liebe heißt

Die ukrainische Großmutter war geprägt durch ein blutiges Jahrhundert. Als sie stirbt, soll die Enkelin die Trauerrede schreiben. Was bleibt nach einem solchen Leben?

© Gleb Garanich/Reuters

„Du sollst die Rede schreiben“, sagte meine Mutter per Skype, „die Oma ist gestorben.“

„Du musst nicht kommen, es ist weit und teuer, aber die Rede für den Priester sollst DU schreiben. Niemand kannte sie besser, außerdem bist du Schriftstellerin, endlich profitiert unsere Familie davon.“ Weiter„Eine Totengräberin kann nicht wissen, was Liebe heißt“

 

Lächelt die Kinder doch wenigstens an!

Israel hat eine sehr viel höhere Geburtenrate als Deutschland. Kein Wunder. Dort sind Kinder Teil der Gesellschaft. In Deutschland stören sie. Wie kann das angehen?

Lächelt die Kinder doch wenigstens an!
Gabby Orcutt/unsplash.com/photos/9mzGpUpqUpw

Ich bin jetzt seit eineinhalb Jahren Mutter. In Deutschland und in Israel. Wir pendeln monatlich zwischen Berlin und Tel Aviv. Und immer, wenn wir zurück aus Tel Aviv kommen, sagt Ettas Tagesmutter: „Etta ist ja so gut drauf!“ Sie hat recht damit. Und die Antwort, warum Etta so wahnsinnig gut drauf ist, wenn wir aus Tel Aviv zurückkommen, ist einfach: Sie tankt Beziehung in Israel. So jedenfalls nenne ich das, was rund 4.000 Kilometer entfernt von Deutschland passiert. Weiter„Lächelt die Kinder doch wenigstens an!“

 

Können Skater schreiben?

Hemingway boxte, Camus war Torwart, Murakami läuft. Schriftsteller verwandeln Sport in Mythos. Aber wie verändert sich Schreiben durch die Sportart, die ein Autor wählt?

© Matteo Paganelli/unsplash.com (https://unsplash.com/@matteopaga)

Leibesertüchtigungsroutinen scheinen bedeutsamer, wenn sie von AutorInnen ausgeübt werden. Haben diese einen Sport mit Leidenschaft betrieben, dann wissen wir davon: Thom Jones, Lord Byron und Hemingway boxten. John Irving und Ken Kesey rangen. Joyce Carol Oates, Stephen King, Haruki Murakami und Don DeLillo sind oder waren Läufer. Camus und Nabokov waren Torhüter. Giorgio Bassani, David Foster Wallace und Martin Amis spiel(t)en Tennis – Nabokov übrigens auch, er trainierte sogar andere darin, außerdem boxte er aktiv, das heißt als Wettkämpfer.

Und Ernst Jünger? Er hat bis kurz vor seinem Tod jeden Tag mit Seilspringen begonnen.

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Es riecht ziemlich toxisch hier

Die eine Kundin möchte die Nägel pink, wie immer, bitte. Die andere badet ihre Hände in Aceton. Beobachtungen aus einem Nagelstudio in Iowa und aus dem Innern der USA.

© Clem Onojeghuo/Unsplash.com (https://unsplash.com/@clemono2)

„Du hast starke Nägel“, sagt die ältere Dame zu mir, die mir die künstlich verlängerten Gel-Nägel, bemalt mit Acryllack und beklebt mit Glitzersteinen, nun abschleift, bis die blassen Originale aus Horn endlich wieder zum Vorschein kommen. Sie spricht dabei ein Englisch, das nach einer Mischung aus Midwestern American und Vietnamesisch klingt, und in dieser bunten Sprache fragt sie mich auch, wo ich mir meine Nägel denn hätte machen lassen. Ich möchte Leipzig, Hauptbahnhof, antworten, aber ich sage: „Europe.“ Es riecht ziemlich toxisch hier bei Fashion Nails in der West Street, Ecke 6th Avenue. Weiter„Es riecht ziemlich toxisch hier“

 

Sehnsucht nach Paris, trotz alledem

Nachmittags Idylle im Jardin du Luxembourg. Abends zeigt der Kellner ein Handy-Video von einem Anschlag. Wie viele Gegensätze kann eine Stadt aushalten?

© Pedro Lastra/Unsplash

L. denkt, wir könnten diesen Sommer wieder nach Paris fahren. Irgendwann im August, wenn sich die Stadt leert, um sich vorübergehend ganz den Blicken und Phantasmen seiner Besucher auszuliefern. „Wir wissen gar nicht, ob Paris im Sommer überhaupt noch existiert“, entgegnen wir, „und ob Europa dann überhaupt noch da ist.“ Mit L. über Europa zu diskutieren hat keinen Sinn. Obwohl L. behauptet, Paris sei die Stadt, in die sich das Beirut seiner Jugend transformiert hat. Paris als Tagtraum. Beirut, das sich immerfort nach Paris sehnt, obwohl Paris gar nichts mehr mit Beirut zu tun haben will. Weiter„Sehnsucht nach Paris, trotz alledem“

 

Einmal quer durchs Leben

Im Zug kann man über die große Liebe stolpern. Unsere Autorin traf stattdessen eine 92-jährige Dame. Das Protokoll einer nicht ganz alltäglichen Begegnung.

© Ales Krivec/Unsplash

Wenn ich es einrichten kann, unternehme ich die etwa 60-minütige Zugfahrt von Bamberg nach Nürnberg, um dort am Abend noch eine Ausstellungseröffnung oder ähnlich Dienstbezogenes „mitzunehmen“. Diesmal entschied ich mich aus Dekadenz und Eigenliebe für den ICE auf der kurzen Strecke, was im Wesentlichen bedeutet: 40 Minuten Fahrtzeit, 1. Klasse, Steckdose, Wifi, Knöpfe im Ohr, Beschallung, Beschleunigung. Easy. An diesem Abend bin ich zum Gespräch aufgelegt, habe die Kopfhörer vergessen. Alles kann passieren, ich bin seltsam hoch gestimmt, stelle mir vor, das sei so ein Abend, von dem man später den drei angenommenen oder gar adoptierten Kindern erzählt: An genau diesem Abend traf ich euren Vater! Tatsächlich traf ich dort, direkt an der Spitze des Zuges, auf diesen Plätzen in diesem kleinen Abteil, das direkt hinter der nebligen Scheibe des Schnellzugcockpits liegt: Inge Schmitt. Weiter„Einmal quer durchs Leben“

 

Geht’s noch beschissener?

Der FC Bayern suhlt sich in Selbstmitleid. Der Ungar ist schuld! Prima Ausrede auch für kommende Bundesliga-Miseren. Da kann man selbst als Fan die Krise bekommen.

FC Bayern München: Geht's noch beschissener?
© Oscar del Pozo/AFP/Getty Images

Logisch ist der Ungar schuld. Der Ungar, der schon gesamteuropäisch im Zwielicht der Zivilisation steht, weil das Land seinen Beitrag zur Integration von Kriegsflüchtlingen eher mit Vidal-mäßigen Grätschen leistet. Der Ungar hat das Spiel verpfiffen, sagte der Vorstandschef des FC Bayern, Karl-Heinz Rummenigge, und der Subtext seiner Aussage leuchtete wie ein Flutlichtscheinwerfer in der iberischen Nacht: Beim nächsten entscheidenden Spiel wollen wir gefälligst einen Referee aus Katar, da wissen wir nämlich, dass alles mit rechten Dingen zugeht und wir auch noch Geschenke kriegen. Weiter„Geht’s noch beschissener?“

 

Kriege und Walfang lohnen sich eben

Natürlich wissen wir, wie wir den Planeten vor dem Untergang bewahren können. Ändern wird sich nichts, solange wir unser korrumpiertes Belohnungssystem nicht abschaffen.

© Unsplash/Nasa

Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf und erkennst deine Wohnung nicht mehr wieder. Das heißt, du weißt, dass du am selben Ort bist, aber nicht mehr zur selben Zeit. Wir schreiben das Jahr 2200. Der Kapitalismus ist Geschichte, das Regelwerk des Venus-Projekts bestimmt jetzt den Lauf der Welt. Du bist allein. Du weißt, nichts in den Räumlichkeiten gehört dir. Du weißt auch, nichts darin gehört sonst irgendjemandem. Es gehört niemandem, denn „Besitz ist Last“, heißt eine Regel. Weiter„Kriege und Walfang lohnen sich eben“