Unser Kolumnist schlendert durchs vorweihnachtliche Salzburg und sucht Mozartkugeln. Aber was findet er? Dicke kleine Hunde. Nichts als dicke, kleine, stinkende Hunde. Das Fax der Woche
Salzburg, minus ein Grad. Mumienmarschkolonnen in der Getreidegasse, Frauen mit kleinen Nikolausmützen stehen am Glühweinstand. Die Zier- und Schoßmöpse hecheln, die Köpfe verschwinden in Atemwolken. Ich atme in den Grobstrickschal. Wo ist, verdammt noch mal, das Fachgeschäft für Mozartkugeln? Halbe Stunde bis zur Lesung, muss Geschenkliste für die Kieler Freunde abarbeiten. Schnaps und Schokolade. Keine dicken Wollsocken, keine Ingwerplätzchen, kein schwieriges Buch eines schwierigen Poeten. Ein klinischer Irrer ist im Hemd und Jackett unterwegs.
Das Ideal der modernen Frau scheint festzustehen, aber was ist mit dem Mann? Was darf er und was soll er? Über Rollenverunsicherung in Zeiten der Quote
Und jetzt auch noch die Quote! 30 Prozent Frauen bei Neubesetzung in Aufsichtsräten, das bedeutet, entspannen Sie sich, immer noch eine mögliche, dann aber auch satte Zweidrittelmehrheit für die Männer. Irgendwann in ferner Zukunft, wenn alle Posten neu besetzt sind, vorher sieht es ohnehin noch männlicher aus.
Allerdings: Das sind die Aufsichtsräte, und wer sitzt da schon? Der normale Mann nicht und nicht die normale Frau. Ist in der Realität von den zwei Dritteln noch viel zu spüren? Zwickt es nicht längst überall? Und wenn es nicht gerade zwickt, ist es dann besser? Welcher Mann weiß denn noch, was er wollen soll und darf? Wo gehört er hin und wie ist seine Rolle, die des heutigen Mannes? Weiter„Männer, seid weich!“
Unser Autor hat einen neuen Ohrwurm. Warum erinnert er sich ausgerechnet jetzt an Morrissey und dessen Hass auf Margaret Thatcher?
Beschreibung: Der letzte und mutmaßlich schwächste Song von Morrisseys Solo-Album Viva Hate aus dem Jahr 1988. Der Gitarrist schrummelt uninspiriert vor sich hin, Lagerfeueratmosphäre um halb fünf Uhr morgens: Die meisten Jugendlichen haben sich schon zum Schlafen oder Knutschen in ihre Zelte zurückgezogen, nur Morrissey sitzt noch herum und wünscht Margaret Thatcher den Tod an den Hals. „The kind people have a wonderful dream: / Margaret on the guillotine / Cause people like you make me feel so tired / When will you die?„
Am Tisch mit Püree, Kondensmilch und Marmorkuchen. Unser Kolumnist entdeckt, dass ohne die betagten Nachbarinnen in seinem Viertel gar nichts läuft und schickt uns ein Fax.
Die alten Damen meines Viertels haben keinen Witwenbuckel. Ihre Männer gingen in Rente, im zweiten oder dritten oder fünften Jahr fielen sie tot um: im Garten vor dem Schuppen, im Wohnzimmer zwischen Sessel und Beistelltisch. Ein Rentner wurde vom herabfallenden Ast erschlagen, er wagte sich im Sturm hinaus. Tod ist nicht schön, sagt die Witwe, sie starrt auf die Kondensmilch im Sahnekännchen: weißes Porzellan, fahlgelbe Wohlstandsmilch. Sie empfängt mich zur späten Morgenstunde, wir essen. Fleisch in Scheiben, Püree. Krieg überlebt, Politik überlebt, Arbeit überlebt. Für bisschen Geld wäscht sie Kleider anderer Leute. Arbeiterinnenhände, wenige Altersflecken, Haar hochgesteckt, stolze Dame. Ihre Tüten trägt sie allein nach Haus. Sie ist eine empfindsame Herrin. Weiter„Wenn die alten Damen nicht wären“
Wenn wir sie im Zoo hinter Panzerglas oder Gittern sitzen sehen, scheinen sie uns fremd. Aber ohne Affen wären wir nicht in der Lage zu erkennen, wer wir selber sind.
Leipzig, Pongoland. Eine der weltführenden Zooanlagen für Menschenaffen. Ich stehe neben dem Silberrücken eines Silberrückens. Über Menschenaffen in Zoos mag man streiten. Über Schimpansen in den Bürgerkriegsgebieten des Kongo, Wilderern ausgesetzt, hie und da als Buschfleisch im Angebot, nicht minder. Über die langfristige irreversible Zerstörung ihrer Habitate durch die Spezies Mensch allemal.
Unser Kolumnist wollte einen Fransenschnitt. Nun muss er eine Kapuze tragen. Ein Friseurbesuch ist eben kein Wunschkonzert. Dennoch hat der Lädierte uns auch diese Woche wieder ein Fax geschickt.
Machmud ist Schädelschäler. Türkenfriseur. Er sagt: Die anderen machen Stil und Fönwelle, ich mache Haar ohne nix. Im Schaufenster steht eine Tischstaffelei, auf der Staffelei steht ein Schild. Keksdosengoldener Rahmen. Eine Zeile in Handschrift, die Buchstaben am Satzende verlieren den Halt. Machmuds Merkvers: Ihr lieben Leut, das ist keine Kummerkammer! Die Schere in seiner Hand schneidet der schwarzen Seele nicht den Kopf ab. Für Therapie wird er nicht bezahlt.
Kunde im Laden soll Platz nehmen. Kunde soll im Automobilmagazin vom Vorjahr blättern. Kundenjammer ist unerwünscht. Komme rein, grüße Meister und Geselle, Gottesgruß wird erwidert. Tee, Kaffee, Sprudel gibts nix. Vorzimmerchic gibts nix. Meister Machmud flämmt Ohrhaare ab, pustet Kiensparflamme aus, hält keinen Spiegel an den Hinterkopf des Mannes. Weiter„Einmal Haar ohne nix“
In kaum einem Sport kann man so verloren gehen wie im Schach. Es ist wunderschön und wild. Und man fängt an, zwischen den Figuren zu leben, zu denken.
Schach lernt man als Kind vom Vater oder vom Großvater, und man ist ein Junge. Nicht viele Frauen spielen Schach. Die besten Frauen der Welt sind Judith Polgar und Hou Yifan. In der Weltrangliste stehen sie auf Platz 68 und 69. Dass Frauen weder in der Spitze noch in der Breite die Stärke von Männern erreichen, liegt nicht daran, dass sie weniger talentiert wären, sondern daran, dass sie in der Regel zu intelligent sind, um ihr Leben auf ein Spiel zu setzen. Denn das muss man, um ganz nach oben zu kommen. Es gibt nichts als Schach. Jeden Tag. Schach. Sieben Stunden. Acht Stunden. Mit Computer, ohne Computer, allein oder mit dem Trainer. Frauen haben in der Regel Besseres zu tun und mehr zu tun, sie interessieren sich für Unterschiedliches und verbeißen sich nicht in eine einzige Sache. Weiter„Schach ist gefährlich!“
Besser, wir verzweifeln am Verlust der Welt als an unserem Bruttoeinkommen. Die Melancholie ist eine sanfte Rebellion. Sie bringt unseren Kummer zum Tanzen.
Im November hört die Liebe auf, die Liebe zum Herbst, die Liebe zur Gemütlichkeit, bei manchen sogar die Liebe zu sich selbst und die schlechte Laune kippt sacht in eine Winterdepression. Draußen ist es so dunkel, als sei das Tageslicht nur eine vorübergehende Flause des Sommers gewesen, es ist nasskalt, windig und die Weihnachtsbeleuchtung hängt noch ausgeschaltet an den Balkonen der Nachbarn. Weiter„Das novembrigste aller Gefühle“
Es beginnt in der Schule und bleibt fürs Leben: Wir beugen uns einem Normendruck, lassen uns kontrollieren, sind folgsam. Wie konnte es so weit kommen?
Berlin, Prenzlauer Berg. Die Schule hat begonnen, wir treffen uns zum ersten Elternabend mit der neuen Lehrerin. Man hat sich vorgestellt, sitzt im Kreis. Ende der Schulanfangsphase, dritte Klasse. Heute muss darüber abgestimmt werden, ob unsere Kinder in Zukunft ein Indikatoren- oder ein Notenzeugnis erhalten. Die Lehrerin darf uns nicht beeinflussen, die Wahl erfolgt geheim. Beispiele für jeden Zeugnistyp sind an die Tafel geklemmt. Das Indikatorenzeugnis kennen wir aus der zweiten Klasse: Jedes Fach wird in eine Vielzahl von Aspekten untergliedert, ein Voll-, Dreiviertel-, Halb- oder Viertelmond zeigt den Lernstand an. Vier Seiten Zeugnis für sechs Fächer. Weiter„Auflauern und Regeln durchpressen“
Dichter Dunst, der Himmel braun, kein Vogel singt. Im November droht die große Melancholie. Zum Glück hat Feridun Zaimoglu uns auch diese Woche wieder ein Fax geschickt: eine Suada zur Verdrussbekämpfung.
Eine Frau, Melancholia. Sie bewohnt den äußeren Rand des Randstreifens eines Landes, das sie sieht, wenn sie blinzelt. Das nur sie sieht, an Tagen des schnell schwindenden Lichts, Luft, Leere, Libellenflug. Grüner Chemieschaum. Taube Daumenkuppen: ihre Zeichen. Was versteht man, wenn man sie verstanden zu haben glaubt? Nichts und Nichtigkeit. Löste sie doch das Haarband, in der Nacht, kämmte sie sich doch das Haar in langen Strichen. Tauchte sie doch die Bürste in das Wasser in der Kupferschale. In ihren Augen helle Splitter aus zerträumtem Haß. In ihrem Mund schmeckt sie, schmeckt nur sie, zerbissene Zähne.