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Ohrbooten

Von der Fußgängerzone zum Plattenvertrag beim Majorlabel: Was in Zeiten von Bandcamp, Soundcloud und 15-minütigem Internetruhm wie ein Popmärchen aus längst vergangenen Tagen klingt, haben die Ohrbooten aus Berlin hautnah erlebt. 2003 als Straßenband gestartet, hat die vierköpfige Band um Sänger Benjamin Pavlidis schnell gemerkt, dass ihre Fusion aus Reggae, Ska und Hip-Hop, Electrobeats und Berliner Schnauze, die sie selbst als Gyp-Hop bezeichnen, bei den Passanten auf viel Zuspruch gestoßen ist. Der Ehrgeiz war geweckt und die Jungs verschickten fleißig Demotapes. Eines fiel einer gewissen Band namens Die Toten Hosen in die Hände, auf deren Label JKP die Ohrbooten im Jahr 2005 ihr erstes Album Spieltrieb veröffentlichen konnten. Als dann irgendwann auch der Branchenriese Warner anklopfte, war die Tellerwäscherstory perfekt. Nach einer kurzen Krise und einem Besetzungswechsel hat die ehemalige Straßenband im Frühjahr ihr neues Album Tanz mal drüber nach veröffentlicht – und stellt es live im Gruenspan vor.

Text: Katharina Grabowski

 

Jugendstil: Die große Utopie

Weil der Gründungsdirektor des MKG, Justus Brinckmann, auf der Pariser Weltausstellung von 1900 wahre Großeinkäufe tätigte und sich Extravaganzen leistete, wie etwa einen Teil eines Hotel-Speisesaals von Nizza nach Hamburg bringen zu lassen, besitzt das Museum heute eine wirklich bedeutende Jugendstilsammlung. Jetzt wurde sie neu ausgerichtet – und als Entrée führt die kleine, feine Schau Die große Utopie ganz neu in diese Epoche ein.

Jenseits von Ornamentik und elfenhafter Romantik zeigen die Kuratorinnen Claudia Banz und Leonie Beiersdorf, wie der Jugendstil von gesellschaftlichen Utopien geprägt war – und wie ungeheuer frisch und zeitgemäß man ihn präsentieren kann. In verschiedenen Filmen schuften im flirrenden Schwarzweiß Erwachsene und Kinder in Fabriken, in anderen tollen junge Nackte durch die Natur. Der Jugendstil zeigt sich hier vor allem als Reformbewegung gegen die Industrialisierung, die dem geknechteten Menschen den befreiten Körper entgegensetzte, ein Zurück zur Natur propagierte und Handwerk statt industriell gefertigter Massenware.

Sie lehnten sich gegen den Kapitalismus auf – und strandeten in der Elite. Die Einzelstücke die sie herstellten konnten sich nur die Privilegierten leisten. Dieses Paradox ist so spannend und konzentriert präsentiert – und kommt einem doch ganz aktuell vor, oder?

 

Der Vorname

Elisabeth und Pierre haben zum Abendessen eingeladen. Sie sind ein Lehrerpaar, Status ist ihnen wichtig und ihre Prinzipien vertreten sie mit Vehemenz. Die Gäste sind Elisabeths Bruder Vincent und seine Frau Anna. Er ist ein monetärer Aufsteiger, ein strahlender „Held der modernen Zeit“ und für den Hausherren Pierre ein bornierter Aufschneider. Dazu gesellt sich Schöngeist Claude, ein Posaunist des Orchestre Radio France und der beste Freund von Elisabeth. Zusammen bilden sie das plakative Abbild einer modernen französischen Familie der gehobenen Mittelschicht. Was als geselliger Plauderabend beginnt, endet jäh, als Vincent verkündet, dass er und seine Frau ihren Sohn nach Adolphe, einer französischen Heldenfigur aus dem 18. Jahrhundert, benennen wollen. Pierre konstatiert, wer sein Kind heute Adolphe nennt, müsse eine dumme Nuss sein, und Anna lässt sich von Leuten, deren Kinder Athenà und Adonàs heißen, schon mal gar nichts sagen. Das Stück Der Vorname von Alexandre de La Patellière und Matthieu Delaporte zeigt, wie Standesdünkel und Ressentiments unter der gepflegten Fassade hervorbrechen – und in heftigem Streit explodieren. U.a. am Dienstag im Theater Kontraste.

Text: Reimar Biedermann

 

Kadavar

Mitte Oktober stand Philipp „Mammut“ Lippitz mit seiner neuen Band The Loranes auf der Bühne des Rock Café St. Pauli und schlug sichtlich zufrieden die Seiten seines Basses an. Vor zwei Jahren stieg er bei Kadavar aus, den Retro-Rockern aus Berlin, obwohl er Gründungsmitglied der Doom-Truppe war. Es gab (musikalische) Differenzen. Christoph „Lupus“ Lindemann (Mikro, Gitarre) und Christoph „Tiger“ Bartelt (Drums) suchten sich einen neuen Bassisten (Simon „Dragon“ Bouteloup) und touren nun mit ihrem neuen, temporeichen Album Berlin (2015) zusammen mit The Shrine und Horisont. Ihr psychedelischer Stonerrock passt perfekt in die Markthalle. Wer Black Sabbath, Pentagram und Hawkwind mag, geht auch auf Kadavar steil.

Text: Lena Frommeyer

 

Astra-Stube

Wer die Tür zur gehörig abgerockten Astra-Stube unter der Sternbrücke öffnet, findet sich an einem Ort wieder, an dem wertvolle Kulturarbeit geleistet wird. Hier spielen Indie-, Punk- und Rockbands, deren Namen man nicht kennt, für kleines Eintrittsgeld eigenartige Musik. Hamburger DJs legen auf, es wird Schnaps in rauen Mengen ausgeschenkt, die Nacht durchgetanzt und geknutscht. Die Astra-Stube ist wichtig für Hamburg und trotzdem ein Club auf Zeit. Irgendwann müssen alle Bars unter der Sternbrücke wegen Sanierungsbedarf schließen. Zumindest die nächsten zwei Jahre sind gesichert. Ab dem 1. Dezember betreibt ein Verein die Astra-Stube als Non-Profit-Kaschemme, und einen Tag später starten die Soli-Wochen mit dem Reggae-Soundsystem Silly Walks Discotheque um Selector Oliver Schrader. Achtung: Nur die ersten 80 Gäste kommen rein.

Text: Lena Frommeyer

 

„Lucky Dog“

Den Zuschauer mit in das Geschehen ihrer Produktion einzubinden, sie zum Teil einer Aufführung zu machen, ist der Ansatz der neuen Stückreihe Vom Ende des Zuschauens der freien Gruppe Meyer & Kowski. Den Anfang macht sie mit Lucky Dog, einem Stück, das auf einer wahren Begebenheit beruht und einen relativ einfachen Plot hat: In der Stadt Sligo herrscht der Glaube, dass die Hunde-Statue im dortigen Stadtpark Glück bringe. Diesem Mythos will ein bekannter Illusionist auf den Grund gehen. Dafür versammeln sich die Einwohner von Sligo – gespielt vom Publikum – in der Stadthalle zu einem fiktiven Filmdreh. Dabei wird jeden Abend eine neue Geschichte erzählt, weil die Zuschauer-Statisten natürlich jedesmal anders agieren. Aber keine Sorge, der einzelne Zuschauer muss nichts Besonderes können, nur zusehen und zuhören, und vor allem Spaß haben.

Text: Hedda Bültmann

 

Gemischtes Doppel

„Die letzte Chance, sich als literaturkundiger Schenkender zu erweisen, der seine Lieben nicht blindlings mit in letzter Sekunde von der Bestsellerwand heruntergeklaubten Büchern zu erfreuen meint.“ Man kann es nicht besser sagen als die beiden Leseratten des Gemischten Doppels, im richtigen Leben bekannt als NDR Kultur-Redakteurin Annemarie Stoltenberg und Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg. Zusammen haben sie sich in vielen langen Stunden in der S-Bahn und auf der Couch durch Unmengen von Büchern gelesen und daraus 16 Werke ausgewählt, die sie an diesem Abend vorstellen, weil sie hervorragend unter jeden Weihnachtsbaum passen. Dazu gibt es eine Empfehlung des Buchhändlers Stephan Samtleben und im Foyer einen Tresen für alle, denen zu viel geistige Nahrung auf den Magen schlägt.

Text: Nik Antoniadis

 

IAMX

Wer in den 1990ern auf der TripHop-Welle mitgesurft ist, aber irgendwann genug von den depressiven Untertönen hatte, dem klingt ohne Zweifel noch 6 Underground im Ohr. Die Single-Auskopplung aus dem Sneaker Pimps-Album Becoming X eilte die Charts hinauf und wurde bald eine Art Trip-Pop-Hymne. 2004 hat Sneaker Pimps-Frontmann Chris Corner daran angeknüpft und mit IAMX sein eigenes Projekt gegründet, das dann viele Jahre in Berlin seine Homebase hatte. Berlin ist seit Kurzem Geschichte, Corner ist inzwischen in Los Angeles heimisch; aber natürlich kehrt er Deutschland nicht den Rücken und kommt nach dem Release des neuen IAMX-Albums Metanoia zurück, nicht nur in die Hauptstadt, sondern auch nach Hamburg, wo ihn sein Weg ins Mojo führt. Musikalisch bewegt sich IAMX wie üblich zwischen sehr unterschiedlichen Polen; mal klingen sie nach Midwest-Roadmovie-Rock, ein anderes Mal wie Frankie Goes To Hollywood. Aber die Musik ist natürlich nur die eine Seite der IAMX-Medaille: Auf der anderen ist die Show. Und die ist längst legendär, ihre experimentellen Visuals genauso wie die Outfits, die aussehen als hätten Marc Almond und Marilyn Manson ein gemeinsames Modelabel gegründet. Live auf jeden Fall ein Erlebnis!

Text: Nik Antoniadis

 

Pub Quiz

Es ist wieder da! Das Pub Quiz im Molotow. Ein Glück, denn was soll man mittwochs schon machen? Wenn nicht gerade Champions League läuft, gibt es nie etwas im Fernsehen, aufs Wochenende kann man sich auch noch nicht freuen, sogar Arztpraxen machen früher dicht. Aber jetzt wird alles anders. An jedem ersten und dritten Mittwoch im Monat wird es im Molotow so richtig knifflig. Was ist der Lieblingsdrink von Lemmy? Wer erfand die Einwegzahnbürste? Wie hieß der erste Mann im Weltraum? Wer’s weiß, kann Preise gewinnen, darunter Gästelistenplätze und Freikarten für die nächsten Konzerte. Durstig muss auch niemand bleiben, auf alle Rater, Wisser und Besserwisser warten reichlich kühle Drinks. Und am schönsten is‘: Es kostet nix!

 

Kehlani

Es ist nicht so, dass man das so noch nie gesehen oder gehört hätte. Zugegeben, es ist nicht so retro wie Irene Cara, aber doch so weit in den 1980ern, dass man Video-Clips mit Teenies dreht, die sich zur Single FWU unter Autobahnbrücken Tanzbattles liefern. Auch sonst wird bei der Vermarktung von Kehlani tief in die Klischeekiste gegriffen: Ein bisschen Gangsterstyle, ein bisschen Ghetto Girlie mit Dessous und Schmollmund, natürlich im Gegenlicht. Aber genug gelästert: Kehlani ist sicherlich mehr als ein feuchter Teenie-Traum. Immerhin hat Warner die 20-Jährige unter Vertrag genommen. Der Rolling Stone zählt sie zu den „15 Artists to Watch in 2015“, Billboard hält ihr zweites Mixtape You Should Be Here für „the first great R&B album of 2015“, vor allem aber wissen wir: Wenn es im Mojo läuft, muss es irgendwie gut sein.

Text: Nik Antoniadis