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The Vaccines

Durchwachsene Zeiten im britischen Indierock: Die goldene Generation 2005 fiel zuletzt mehrheitlich dem Größenwahn oder der Belanglosigkeit anheim. Die Vaccines gründeten sich 2009 und vielleicht ist es der Segen der späten Geburt, der sie auch auf ihrem dritten Album English Graffiti noch so wild wie am ersten Tag klingen lässt. Verzerrt und rotzig im einen, elegant und sexy im anderen Moment. Außerdem flogen sie im Gegensatz zu ihren erfolgsverwöhnten Vorgängern hierzulande immer unter dem Hype-Radar, sodass man sie noch immer in den guten Clubs statt in blutleeren Hallen sehen kann. Tanzschuhe raus, denn am Freitag kommt die Band in einen guten Club nach Hamburg, ins Mojo.

Text: Benedikt Ernst

 

Rettet das Ledigenheim

Seit 2013 steht das Gebäude beim Michel unter Denkmalschutz, die 75 Bewohner hingegen nicht. Deren Zukunft ist gefährdet, denn der private Eigentümer müsste längst sanieren. Die Kaufkraft der jetzigen Mieter entspricht vermutlich nicht dem Marktwert der Lage, Verdrängung ist auf Dauer zu befürchten. Die Initiative ROS e.V. widmet sich auch dem Erhalt des Gebäudes, beziehungsweise seiner Mieterschaft und – oft genannt – ihrer Würde und verfolgt das Ziel, das Objekt mittels Spenden zu erwerben und dann gemeinnützig zu betreiben. So liest an diesem Abend Katharina Hagena aus ihrem Band Vom Schlafen und Verschwinden über die Schlafforscherin Ellen, die schlaflos mit der Einleitung zu ihrem Buch hadert. Nach Hagenas erfolgreichem Debütroman Der Geschmack von Apfelkernen über ein schwieriges Erbe lässt die Autorin ihre Protagonistin hier in einer einzigen Nacht Bilanz ziehen über Gewinne und Verluste. Für diesen Abend bleibt zu hoffen, dass die Spendenbüchse einen satten Saldo einspielt, damit das Haus der Rettung ein Stück näherkommt.

Text: Georg Kühn

 

HEALTH

Eben noch als Support von Interpol auf Tour, jetzt spielt HEALTH im Mojo Club. Death Magic heißt ihr aktuelles Album, die zweite Single Stonefist, doch ganz so martialisch sind die Kalifornier gar nicht, spielen sie auf der neuen Scheibe doch fast wie Depeche Mode in ihren besten Tagen. Etwas heftiger allerdings, mit krachenden Breaks und brettharten Gitarren. Mit seinem hellen, klagenden, manchmal psychodelischen Gesang sortiert sich Frontmann Jake Duzsik irgendwo zwischen Dave Gahan und Brian Molko von Placebo ein. Schön, wenn alles eine Schublade hat und dennoch überrascht diese Truppe mit noisiger Wucht, schrägen Samples, krassen Schlagzeugpassagen und hitverdächtigem Songwriting. Also hingehen und sich selbst ein Bild machen, Moshen und Headbangen nicht vergessen! Nach diesem Konzert spielt die Band noch vierzig weitere Termine im Jahr 2015, man kann ihr nur eine gute Gesundheit wünschen.

Text: Georg Kühn

 

Küchensessions Festival

Gastronomie und Show, die klassischen Ingredienzen des Eventbusiness. In diesem Falle liegt der Hase aber ganz anders im Ofen. Seit nunmehr fünf Jahren lädt Jens Pfeifer Musiker in seine Küche in Eimsbüttel ein, mit ihm zu speisen und in einer historisch gekachelten Altbauecke zu spielen. 169 Konzerte haben dort schon stattgefunden. Bei diesen Gelegenheiten entstehen intime Mitschnitte, die tausendfach auf Youtube besichtigt werden und gelegentlich auch auf Samplern des eigens gegründeten Labels Kombüse Schallerzeugnisse erscheinen. Ab und zu bastelt er aus den teils prominenten Gästen, teils tollen Entdeckungen ein Line-up, das sich zeigen kann, und geht raus auf die Bühne des Knust. Dieses Mal mit dabei: Jon Flemming Olsen, bekannt auch als Ditsches Wirt im Haxengrill und Bela B. Dazu gibt es selbstredend Spezialitäten aus der norddeutschen Küche, letztes Jahr beim Gastspiel von Olli Schulz etwa Grünkohl.

Text: Georg Kühn

 

Die Dreigroschenoper

”Zuschauer ohne Imagination können eigentlich gleich wieder nach Hause gehen!“, krakeelt Peachum (Jörg Pohl) wie eine Parodie auf Brecht. Das kommt nicht von ungefähr, denn bei dieser Inszenierung der Dreigroschenoper wird auf Kulissen und Requisiten verzichtet und alle Darsteller sind identisch gekleidet als Brecht’sche Doppelgänger mit Blaumann, Mütze, Brille und ab und an einer Zigarre. Hier wird der Selbstdarsteller Brecht gleich mitinszeniert.

Die Darsteller geben die Figuren in einem Mix von Pathos und überspitzter Parodie, treten dabei immer wieder aus der Rolle, kommentieren ihr Spiel, wiederholen eine Szene, debattieren. Ein paar textliche Aktualisierungen und regionale Bezüge sorgen für Amüsement. Das ist episches Theater in Potenz; ein Workshop für Fortgeschrittene und ein Vergnügen für den Brechtkenner.

Den berittenen Boten, der am Ende auftaucht, inszeniert Hausregisseur Antú Romero Nunes als Kommentar auf die formalen Pflichten Brecht’schen Theaters. Der Bote ist zwar kostümiert, aber das Pferd eindrucksvoll echt – wie die Äpfel, die es hinterließ.

Text: Reimar Biedermann

 

Jon Spencer Blues Explosion

Mit Pussy Galore und Boss Hog entrümpelte Jon Spencer einst die Garage und nagte dem ollen Bluesrock die letzten Fasern von den müden Knochen. Mit der Blues Explosion fügte er die verwertbaren Einzelteile zu einer Art Neo-Blues wieder zusammen. In den Matador-Jahren zwischen 1993 und 2004 feuerte das Trio mit Alben wie Orange (1994), Now I Got Worry (1996) und Acme (1998) Garage-Klassiker im Dutzend aus der von Maßanzug und Oberhemd bekleideten Hüfte. Ein punkig spitzer Sound mit knappen Stücken, in denen nach 1:50 Minuten oft schon alles gesagt ist, dank des hohen Tempos dennoch einiges. Aktuell ziehen JSBX mit ihrem Album Freedom Tower – No Wave Dance Party 2015 um die Häuser, einer pfundsschweren, Stilgrenzen sprengenden Hommage an New York City.

Text: Ingo Scheel

 

Hafendisko

Die Plattenfirma Hafendisko lädt zur ersten Label-Nacht. Das houseorientierte Sublabel von HFN Music mit Künstlern wie Trentemøller oder Kasper Bjørke veröffentlichte seine erste Compilation im Frühjahr 2015. Auch die heute anwesenden Künstler Deo & Z-Man sowie Snacks steuerten einen Teil dazu bei. Gast-DJ ist der Leipziger Panthera Krause, der ein Live-Set serviert und dessen musikalischer Einfluss vom Sound der englischen Abstrakt-Elektroniker Autechre bis hin zu südamerikanischer Folklore reicht. Auf jeden Fall ein starker Auftakt. Auch dabei ist das Produzenten-Duo SNACKS, denen es tatsächlich gelang, den Dance-Hit Purdie auf einer zähen Busfahrt zusammenzubasteln. Respekt!

Text: Ole Masch

 

3000Grad on Tour

Der Trailer zum Crowdfunding-Projekt für den 3000Grad-Dokumentarfilm versprüht eine tolle, hippieske Stimmung mit Land, Leuten und Musik – aber wo das ist, wer und was hier passiert, wird höchstens gestreift. Das ist großartig, denn wahrscheinlich hätten die Mitglieder des Künstlerkollektivs, das seit rund 18 Jahren Partys für elektronische Tanzmusik organisiert, ihren wilden Traum kaum genauer beschreiben können als mit diesen romantischen Bildern.

Das Team ist immer auf der Suche nach einem freien Platz und freien Geistern, um mit größter Leidenschaft unter freiem Himmel oder in geheimnisvollen Katakomben zu musizieren. Das Docks gehört wohl eher in die zweite Kategorie und der Film ist inzwischen fertig und wird hier gezeigt (ab 22 Uhr). Wer nur tanzen will, zahlt 3 Euro weniger und kommt um 23 Uhr. Der Electro-Folk-Künstler Monolink gehört zur Truppe und hat zuletzt auch die Fusion gerockt mit seinem entspannten und tanzbaren Set.

Text: Georg Kühn

 

106hz Festival

Ein Prise Joe Jackson, ein Schuss Elvis Costello, ab und zu ein schmatzender Synthie, ein fiebriger Schlagwerker und eine ehrliche Gitarre – der wavige Klang, den Andi Fins Band akkurat zu seinen poppigen Songs arrangiert hat, ist der perfekte Teppich für seine helle, melancholische Stimme. Trübsal muss dennoch keiner blasen, FINS begeistern mit ihrem tanzbaren Achtziger-Sound – zuletzt als Support für Mark Forster und am Tag der Deutschen Einheit vor dem Brandenburger Tor.

Funkiger, aber ebenso retro sind die Darmstädter um Phil Fill (Foto), dessen Stimme fast ein bisschen wie die von Gil Scott Heron klingt. Erstaunlich, dass er dabei noch so druckvoll Schlagzeug spielen kann, dazu ein Fender Rhodes und ein Dachkonzert, Reminiszenzen, die immer geil sind! Zwei Entdeckungen, präsentiert vom Hamburger Musiker-Kollektiv 106Hz.

Text: Georg Kühn

https://youtu.be/G6VdIFZaB7M

https://youtu.be/G6VdIFZaB7Mhttps://youtu.be/QzDhMU0g2_g

 

 

Bohème Sauvage

Die zwanziger Jahre hatten viel Zeit, verklärt zu werden. Die Wirtschaft lag am Boden und die Demokratie wollte nicht allen schmecken. Damals aber wehte ein libertärer Geist durch die Metropolen wie bis zum Summer Of Love nicht mehr. Die Gesellschaft für mondäne Unterhaltung shoppt reichlich Sepia auf das Geschehen. Die Lust auf unbeschwerte Vorzeiten, auf Tanzen und Verkleiden ist bei der Tanzveranstaltung Bohème Sauvage No. 17 im Uebel & Gefährlich ungebrochen groß. Hier wird parliert, getrunken und getanzt, Charleston, Swing, Tango und Stepp. Damit die Zeitreise gelingt, gibt es eine Kleiderordnung.

Das rauschende Fest ist ausverkauft. Wer keine Tickets besitzt, geht in den Nochtspeicher. Auch dort geht’s in die Vergangenheit. Beim Dockside Swing legt Swingin‘ Swanee auf, eine Frau, die just aus einem Ganovenstreifen gepurzelt scheint. Mit Fedora-Hut und Gangster Suit garantiert sie stilechte Unterhaltung mit Perlen von Harlem bis New Orleans. Zu Anfang steuert die Swingwerkstatt Hamburg noch einen Schnupper- und Crashtanzkurs bei, damit die schicken Schuhe auch so bleiben.

Text: Georg Kühn