Die deutsche Volkwirtschaft entwickelt sich zum Basar. Die Löhne sind zu hoch. Osteuropa zu nah. Und kein Industrieland hat so viele Arbeitsplätze in den vergangenen 15 Jahren im industriellen Bereich verloren wie Deutschland (das stimmt natürlich nur, wenn Ostdeutschland 1991 als perfekt in den Weltmarkt integriert angesehen wird. Unsinn.) Bella, ciao. Ciao, Bella Germania. So singt es der Professor aus München, der große Hans-Werner Sinn, und er singt es umso lauter, je mehr eigene Bücher er verkauft, in denen diese Thesen ausgewälzt werden. Dadurch werden sie zwar nicht richtig, aber in den Medien und der Öffentlichkeit immer mehr zum Glaubensgrundsatz. Dabei haben schon so viele dagegen angeschrieben, der Sachverständigenrat, der tapfere Gustav Horn erst vom DIW, jetzt vom IMK aus, selbst der differenzierte Chef des arbeitgebernahen Institutes der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther und viele andere mehr. Aber Sinn ist auf allen Kanälen und auch in vielen Kommentaren dieses Blogs schimmert der (Un)Sinn durch.
Ein neuer Versuch, die Debatte zu drehen:
Dirk Schumacher, den ich hier im Blog schon öfter zitiert habe, weil er seit gut einem Jahr einer meiner Lieblingsvolkwirte ist, hat am Freitag ein grandioses Paper rausgebracht. Es räumt mit vielen Mythen auf, die sich seit gut fünf Jahren in die wirtschaftliche Debatte der Republik eingeschlichen haben. Schumacher ist der Deutschland-Volkswirt von Goldman Sachs, der US-Investmentbank. Er hat in Bonn studiert und dann in Frankfurt promoviert beim heutigen Bundesbankpräsidenten Axel Weber, als der noch gut drauf war. Ja, Weber zählte einst, bevor er sich den Jargon der Bundesbank angewöhnt hat (angewöhnen musste?), zu den ganz wenigen deutschen Professoren, die international ein extrem gutes Standing hatten, die mittendrin in der internationalen Makrodebatte gesteckt haben, die das Geldmengengedusel der EZB kritisiert haben, die der Makrokoordination offen gegenüber standen.
Also, beim jungen Weber hat Dirk promoviert, ist dann zu Goldman gekommen und hat unter Thomas Mayer das Handwerk gelernt. Mayer, heute bei der Deutschen Bank, ist auch so eine Koryphäe, vielleicht sogar der klügste deutsche Geld-Ökonom – aber er schafft es leider nie sich ganz von der dogmatischen Kieler Schule zu distanzieren und fällt dann immer wieder in den unsäglichen Monetarismus zurück, als wenn wir in einer Tauschwirtschaft lebten und ein großer Hubschrauber Geld abwürfe. Heute ist Jim O’Neill der Chef von Dirk. Jim weiß wahrscheinlich gar nicht, wie man Mikroökonomie buchstabiert, dafür ist er ein begnadeter Makroökonom mit steilen Thesen. Ich hab ihn letztes Jahr mal mit meinem Kollegen Marc Brost in der Fleetstreet in London interviewt – es war das größte Interview, das ich je geführt habe. („Ein absurdes Verständnis von Wirtschaft“)
Jetzt wissen Sie, wes‘ Geistes Kind Dirk Schumacher ist: Ein pragmatischer, moderner Makroökonom, eine wahre Trouvaille in der deutschen Zunft der Volkswirte. Dirk muss seine Aussagen dreimal abwägen, denn bei Goldman muss das Research für die Händler verwertbar sein. Die wetten darauf und kein Volkswirt überlebt, der zu oft, sei es aus ideologischer Verblendung, sei es aus mangelndem Gespür für die Märkte und Makro schief liegt. Denn was ist Goldman Sachs in Wirklichkeit? Der größte Hedge Fund – so sagt man das zumindest „im Markt“.
Die These des Papers ist der Titel: „German Manufacturing Will Survive EU Enlargement“, oder frei übersetzt: Hans-Werner Sinn hat Unrecht. Die zentrale Argumentation zielt auf die zwar triviale, in der deutschen Debatte allerdings fast untergegangene Erkenntnis, dass die absolute Lohnhöhe nicht alles ist. Gegenüber dem Rest Eurolands habe Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit durch die schmerzvolle Anpassungskrise der vergangenen Jahre wiederhergestellt. Aber selbst gegenüber Osteuropa gebe es Faktoren, die eine Investition hierzulande lohnender erscheinen lassen – trotz der optisch hohen Löhne.
Das sind unter anderem die Infrastruktur, die höhere Rechtssicherheit, die bessere Ausbildung der Arbeitnehmer, die unbedingt durch weitere staatliche Investitionen gefördert werden müsse. Darüber hinaus das „sunk cost“ Argument. Kein Unternehmen fängt immer wieder bei null an. Wenn es mal hier investiert hat, dann spricht wenig für eine Schließung der hiesigen Anlagen. Sowie interne und externe Skaleneffekte. Die Skaleneffekte sorgen im Produktionsprozess dafür, dass die „Input-Faktoren“, also vor allem die Arbeitnehmer, immer produktiver werden, je stärker die Produktion steigt. Schumacher zeigt das exemplarisch an der Automobilindustrie und den Druckmaschinen-Herstellern Heidelberger Druck, MAN Roland sowie König & Bauer, die es zusammen an der weltweiten „Printing Press Industry “ auf einen Marktanteil von fast drei Vierteln bringen.
Leider stellt Goldman Sachs diese Papers nicht ins Netz, sie sind den Kunden vorbehalten. Dankenswerterweise hat mir Dirk alle Grafiken zur Verfügung gestellt. Einige sind sehr interessant, weil sie mit dem diffusen Aberglauben, alles sei ganz schlimm hierzulande, gründlich aufräumen. Wiederum bitte ich um Verzeihung, dass ich die Grafiken mit englischer Beschriftung übernehme.
Die Grafik zeigt die inzwischen zumindest international zum Klassiker mutierte Tatsache, dass Deutschland in den letzten Jahren ein „Lohnstückkostenwunder“ erlebt hat. Damit hat es seine Wettbewerbsfähigkeit wiederhergestellt.
Wer hat Angst vor China? Kein anderes westliches Land produziert soviel von dem, was die Chinesen importieren wollen (oder müssen).
Die beiden Grafiken fundieren meine optimistische Wachstumswette. Sie zeigen, dass hierzulande der Aufschwung in Vorbereitung ist. Die Kreditnachfrage des privaten Sektors zieht seit dem zweiten Quartal 05 wieder an. Die Ausrüstungsinvestitionen zeigen seit fast zwei Jahren in die richtige Richtung.
Die BRIC’s (Brasilien, Russland, Indien, China, eine Wortschöpfung von Jim O’Neill) sind die Wachstumszentren des Jahrzehnts – und Deutschland scheint nicht nur für China die richtigen Produkte parat zu haben.
Deutschland hängt den Rest Eurolands beim Export ab. Das ist schön, aber auch gefährlich wie ich in Abwertungswettlauf via Lohnstückkosten versucht habe zu erklären.
Ausländische Investoren glauben mehr an die Wiederauferstehung der deutschen Wirtschaftskraft als das Gros unserer Ökonomen.
Das ist eine wunderschöne Grafik! Die deutschen Investoren und Unternehmen investieren zwar heute mehr im Ausland als vor 15 Jahren, eine Flucht aus dem „verkrusteten Land“ gibt es aber nicht. (Der scharfe Knick in den Jahren 1997 bis 2003 dürfte vor allem auf Portfolioinvestitionen zurückgehen. Die Deutschen haben Aktien, vor allem Technologieaktien an der Nasdaq entdeckt – und sich ordentlich die Finger verbrannt.)
„Doing Business in 2006“ ist eine Studie der Weltbank, die etwas genauer auf die Rahmenbedingungen von 155 Volkswirtschaften blickt. Es werden die Regulierungen, ihre Instanzen, die Rechtssicherheit und Bürokratie untersucht. Und siehe da: Von den „osteuropäischen Tigern“ schneiden nur zwei besser ab als Deutschland, das global auf Rang 19 gelandet ist. Es sind die beiden kleinen Baltischen Staaten Litauen und Estland.
Und als letzte Grafik noch die Auswertung einer Studie, die einem im PISA-geschüttelten Deutschland wohl niemand glauben wird: Deutschland hat ein unheimlich hohes Maß an Forschungs- und Entwicklungs-Wissen. Es liegt 20 Mal höher als in Polen oder Tschechien.
Die gemischten Schlussfolgerungen der Studie:
- Dirk Schumacher erwartet nicht, dass der Druck, der von der Globalisierung ausgeht, nachlassen wird. Das heißt, Deutschland muss auch weiterhin zum Wandel fähig bleiben. Die Firmen werden weiter in Billiglohnländer verlagern. Aber das verarbeitende Gewerbe wird nach wie vor in diesem Land einen hohen Stellenwert haben.
- Kurzfristig müssen die Kosten der Arbeit weiter sinken. Der eleganteste Weg seien weitere Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich.
- Die Produkt- und Gütermärkte müssen weiter liberalisiert werden.
- Die deutschen Unternehmen müssen sich mehr auf „up-scale“-Produkte konzentrieren. Das gehe nur über eine bessere Ausbildung, weshalb hier und jetzt mit den Investitionen in Bildung begonnen werden müsse.
Entscheidend für ein Wiedererstarken der deutschen Wirtschaft sei der private Konsum. Die Fiskalpolitik müsse alles unterlassen, was die verfügbaren Einkommen der Menschen weiter belaste. Leider lese sich das Koalitionspapier ganz anders. Die geplanten Maßnahmen zur Verbesserung der Einnahmesituation des Staates (Mehrwertsteuererhöhung, Pendlerpauschale, Eigenheimzulage, etc.) seien für die Erholung der deutschen Wirtschaft kontraproduktiv.
Meine Anmerkungen zu Schumacher’s Schlussfolgerungen:
- Wenn es stimmt, was Dirk Schumacher in seinem letzten global paper herausgefunden hat, nämlich, dass die Kapitalrendite heute in Deutschland höher ist als im Rest Eurolands, dann gibt es eigentlich keinen Grund mehr für Lohnzurückhaltung. Ja im Gegenteil, dann müssten die ausländischen Firmen eigentlich wie verrückt hier investieren, was durch seine Grafik zu den inländischen Direktinvestitionen ja auch tendenziell gestützt wird.
- Deutschland hat auf dem Rücken anderer Euroländer seine Wettbewerbsfähigkeit wiederhergestellt, was Schumacher in der Studie einräumt. Irgendwo ist aber der Punkt erreicht, wo wir mit der Abwertungsstrategie aufhören müssen, um nicht einen veritablen Abwertungswettlauf in Euroland, in Osteuropa, in China auszulösen, der nur Verlierer kennt, nämlich Destabilisation Eurolands, Rezessoin und Massenarbeitslosigkeit.
- Ich glaube, den Konzernen ist weniger mit niedrigeren Lohnkosten gedient, als mit flexibleren Arbeitszeitmodellen. Ich würde nur dann zu Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich raten, wenn im Gegenzug eine Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer ab einer vernünftigen Eigenkapitalrendite festgeschrieben würde.