Erinnern Sie sich noch an diese Sätze? „Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die unserer Kinder stehen auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie da gewesenen, kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten. In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann.“ Mit diesen Sätzen rechtfertigte Bundespräsident Horst Köhler die Auflösung des Bundestages. Das war am 21. Juli.
Die Eliten des Landes gierten nach härteren, schärferen Reformen des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes. Und natürlich nach einer christlich-liberalen Koalition. Nur mit schwarz-gelben Reformen sei das Land zu retten, suggerierten Lobbyisten, Professoren und Kommentatoren. Nur so würde das Wachstumsschlusslicht Deutschland wieder Anschluss an die anderen Euroländer bekommen.
Dann trat der „worst-case“ ein: die große Koalition. Das Ende aller Reformhoffnungen. Der Stillstand. Sachverständigenrat und die Wirtschaftsforschungsinstitute malten in schwarzen Farben: 1 Prozent Wachstum für Deutschland 2006, oder doch 1,2 Prozent. Das war alles erst vor sechs Wochen.
Und heute? Irgendwo Reformen in Sicht, so richtige Blut-Schweiß-und-Tränen-Reformen, so Gürtelengerschnall-Reformen? Dennoch ist ein Wunder geschehen. Seit zwei Wochen überbieten sich die Volkswirte mit ihren Konjunkturprognosen. Gestern das Ifo-Institut, das von 1,2 auf 1,7 Prozent Wachstum ging. Gestern auch Morgan Stanley, die amerikanische Investmentbank, die auf 1,8 Prozent oder bereinigt um Arbeitstage sogar zwei Prozent erhöhte. Und heute Morgen dann die Allianz mit einer glatten zwei. Damit hat nach der französischen Ixis das erste deutsche Haus die magische zwei an die Wand geschrieben. Klar, jetzt wird gerne mit der drohenden Mehrwertsteuerreform argumentiert, die wundersam den Konsum nächstes Jahr anschiebe.
Doch das sind Ausreden dafür, dass man vor sechs Wochen noch schwarz gesehen hat. Das sehen auch die Volkswirte der Dresdner Bank/Allianz so. Sie veranschlagen den Mehrwersteuereffekt auf gerade mal 0,1 Prozentpunkt. Ich glaube Sylvain Broyer hat Recht. Er hat in seinem Kommentar geschrieben, dass es verdammt schwer sei, den Wendepunkt der Konjunktur vorherzusagen. Irgendwann sei er da und dann würden die Prognosen wieder einfacher. Da auch die Analysten und Volkswirte nur Herdentiere sind, geht irgendwann der Run halt los, wenn sich der Wendepunkt nicht mehr leugnen lässt. Das ist in diesem Blog ja ausführlich beschrieben worden (Norbert Walter für ein Jahr Optimist; Les vrais optimistes).
Die wahre Überraschung ist der Bau. Er kommt. Er scheint seine seit zehn Jahren andauernde Krise überwunden zu haben. So argumentierte heute morgen der Chefvolkswirt der Allianz, Michael Heise, beim Pressebrunch, so auch gestern das Ifo. Ja, es ist der Bau, der Deutschland wieder zu Euroland aufschließen lässt. Und damit sind wir ironischer Weise wieder bei Horst Köhler, einem der maßgeblichen Architekten der Wiedervereinigung. Das ist 15 Jahre her. Aber unter seinen mitgetragenen, seinen vorbereiteten Entscheidungen hat Deutschland bis heute gelitten.
Erst die Währungsunion mit dem völlig falschen Wechselkurs, der den Rücktritt des damaligen Bundesbankpräsidenten Otto Pöhl zur Folge hatte. Der überhöhte Wechselkurs hat die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Firmen gekillt, lange bevor die westdeutschen Arbeitgeber mit den westdeutschen Gewerkschaften die Löhne für die ostdeutschen Arbeitnehmer auf ein KO-Niveau gehievt haben. Dann folgten die enormen Abschreibemöglichkeiten für Ostimmobilien, die die steuerspargeilen Deutschen großzügig genutzt haben. Das hat einen Bauboom ausgelöst, der bis 1995 die Ost-Arbeitslosigkeit kaschiert hat – und dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl noch eine Wiederwahl beschert hat. Von diesem Bauboom hat sich Deutschland lange nicht erholt. Er hatte erst die Baukrise, dann die Wachstumskrise, später die Immobilienkrise und als traurigen Höhepunkt die Bankenkrise 2002/2003 zur Folge. Für Wirtschaftshistoriker: Die Bonner Beamten Köhler und Co. zeichneten auch für die Finanzierung der Einheit verantwortlich. Anstatt sie über Steuern zu finanzieren, setzten sie auf die Sozialabgaben und luden damit einen Großteil der Kosten den Arbeitnehmern auf. Diese Entscheidung ist für die seit fast zehn Jahren kaum steigenden verfügbaren Einkommen mitverantwortlich, sprich für den schleppenden Konsum.
Doch wer will das heute wissen? Viel bequemer ist es den „ausufernden Sozialstaat“ als Grund allen Übels hinzustellen, die Verkrustungen am Arbeitsmarkt, den hohen Staatsanteil oder die hohen Staatsschulden (die übrigens auch eine Folge der Wiedervereinigung sind).
Doch jetzt kommt der Bau wieder, vor allem der Tiefbau, der Gewerbebau und ganz sachte sogar der Wohnungsbau – und schon schließt Deutschland beim Wachstum zu Euroland auf. Heise von der Allianz prognostiziert für Deutschland und Euroland zwei Prozent.
Diese Grafik finde ich deshalb sehr interessant, weil sie meine These stützt, dass es vor allem die Kreditklemme war, die Deutschland die letzten Jahre eingeschnürt hat. Die Kreditklemme als Konsequenz der Bankenkrise, die wiederum … siehe oben. Der Wendepunkt bei den Auftragseingängen liegt im zweiten Quartal diesen Jahres, also genau dort, wo die Bankenbefragung der Europäischen Zentralbank erstmals eine Lockerung der Kreditkonditionen in Deutschland festgestellt hat.
Das ist eine meiner Lieblingsgrafiken. Ich habe sie in den vergangenen Jahren sehr oft bei Vorträgen gezeigt und auch einmal in der ZEIT. Sie stammt von Klaus Borger, einem ruhigen und nachdenklichen Volkswirten der KfW. Die Grafik verdeutlicht, dass ein Großteil der Wachstumsschwäche Deutschlands vis à vis Euroland tatsächlich auf den Bau zurückgeht. Wurde das je groß diskutiert? Es war doch viel einfacher, das Schlusslicht Deutschland mit Strukturproblemen zu erklären und Blut-Schweiß-und-Tränen-Reformen zu fordern.