Irgendwie ist heute alles anders. Zwar regnet es wie gestern, ist es für die Jahrszeit noch immer zu warm und auch sonst sind in der realen Welt keine Änderungen festzustellen. Und doch hat sich seit dem heftigen Kursrutsch am Dienstag die Welt geändert. Die virtuelle zwar, die finanzielle Sphäre des Kapitalismus. Die Erschütterungen an den Märkten waren zu heftig, als dass man über sie hinweg gehen könnte. Es handelte sich immerhin um den stärksten Kurseinbruch an den US-Börsen seit der Wiedereröffnung nach dem 11. September 2001. Und die US-Börsen sind die größten und liquidesten der Welt!
Auch wenn am Tag danach die Unsicherheit nicht in Panik gekippt ist, so ist noch lange nichts ausgestanden. Benoit Mandelbrot, der große Mathematiker, der auch die Kapitalmärkte mit seiner Theorie der Fraktale zu erklären versucht, vergleicht die Märkte gerne mit Naturerscheinungen. Ein Schock wie am Dienstag zieht weitere Schockwellen nach sich. Das ist wie bei einem Erdbeben. Dessen bin ich mir relativ sicher.
Man muss sich nur vorstellen, wie der plötzliche Anstieg der Volatilität, der Schwankungsbreite der Kurse, auf die Risikomessmodelle der Banken und Hedgefonds wirkt. Das Gros der internationalen Assets wird heutzutage in Value-at-risk-Einheiten bemessen. Diese Kennziffer sagt, vereinfacht ausgedrückt, mit wie viel Millionen die Positionen der Spekulanten im Feuer stehen. Wenn die Volatilität gering ist, können die Zocker immer größere und riskantere Wetten eingehen, weil das Risiko pro Einheit niedrig ist. Und das haben die Banken getan. Rolf Elgeti, Aktienstratege von ABN Amro, den ich letztens getroffen habe, erzählte – sinngemäß – dass die Banken heute noch immer den gleichen Value-at-risk auswiesen wie vor drei Jahren. Aber die Volatilität hat sich gedrittelt. Auf gut deutsch: Die riskanten Positionen der Banken sind heute dreimal so groß wie vor drei Jahren. Wenn jetzt die Vola steigt, wie Dieter Wermuth heute morgen geschrieben hat, dann müssen die Banken notgedrungen ihre spekulativen Positionen verringern. Denn das Risiko pro Einheit ist jetzt höher. Der amerikanische VIX ist um rund 70 Prozent in die Höhe gehüpft.
Wenn aber die riskanten Positionen abgebaut werden müssen, heißt das nichts Gutes für Aktien, Junk-Bonds und Schwellenländer-Titel – auch wenn am Dienstag alles nach angespannter Ruhe aussah. Das passiert in den nächsten Tagen und Wochen. Denn auch die Zocker wissen, dass sie alles kaputt machen, wenn sie ihre Positionen sofort schließen. Zumindest diese Händler, die noch freie Risikobudgets besitzen oder neue gewährt bekommen, können so handeln. Den Fall-out des Schocks werden wir in den kommenden Tagen beobachten können. Hier ein Hedgefonds, dort eine Gewinnwarnung einer Investmentbank. On verra!
Wie hat alles begonnen?
Am Anfang war die unheimliche Ruhe an den Märkten, die mich schon im Herbst vergangenen Jahres dazu verleitete, auf einen Anstieg der Vola zu setzen. Zweimal lag ich daneben. Diese Ruhe hat zu immer riskanteren Wetten verführt, hat den Yen-Carry ins Extrem getrieben. Obwohl die Notenbankzinsen weltweit stiegen, haben die Spekulanten diese Tatsache ignorieren können, weil sie noch im Yen eine wunderbar billige Finanzierungsquelle hatten. Das weltweite Wachstum war stark genug und die Inflation so gut wie nicht vorhanden. All das hat zu immer höheren Kursen bei allen riskanten Titeln geführt.
Doch dann schepperte es Anfang Februar am Markt für amerikanische Hypothekendarlehen schlechter Schuldner, den sogenannten sub-prime loans. Ziemlich unbemerkt von uns in Europa, kam es dort zu kräftig anziehenden Zinsen. Die Versicherungsprämie für diese „sub-prime“-Kredite schoss von 300 auf 700 Stellen empor. Das ist zur Zeit aus meiner Sicht das größte Risiko für den globalen Kapitalismus. Zur vertieften Lektüre sei Roubini empfohlen, aber auch Heike Buchter in der aktuellen ZEIT. Die Sorge lautet Credit Crunch für den qualitativ minderwertigen Bereich amerikanischer Hypotheken. Ganz versteckt heute die Meldung in der FTD, dass Freddie Mac keine „sub-prime“-Kredite mehr aufkaufe. Hätte ich die Verantwortung in der FTD, die Meldung hätte auf Seite eins gestanden! Freddie Mac ist neben Fannie Mae das wichtigste Bindeglied zwischen den Instituten, die Hypotheken vergeben, und dem Kapitalmarkt. Freddie Mac kauft Hypothekenkredite von Banken, fasst diese Kredite zusammen und bringt sie als Mortgage Backed Security auf den Kapitalmarkt. Wenn Freddie keine Hypotheken minderer Qualität mehr ankauft, dann knirscht es im Getriebe. Dann wird die Blase am amerikanischen Immobilienmarkt vielleicht doch rascher Luft ablassen, als bislang gehofft.
Und: Natürlich besteht die Gefahr, dass sich die Kreditklemme vom sub-prime-Sektor auf den Sektor für qualitativ hochstehende Immobilienkredite erstreckt und letztlich auf den Corporate-Bereich übergreift. Das wäre Gift, für das Wachstum und die Kapitalmärkte.
Der nächste Unsicherheitsfaktor war der steigende Ölpreis, nicht zuletzt weil George W. Bush Lärm macht und die irrsinnige Option Angriff auf den Iran eine immer höhere Wahrscheinlichkeit bekommt (wenn auch von niedrigem Niveau aus). Wenn aber der Ölpreis wieder steigt, verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass die amerikanischen Verbraucher dank der Lohnsteigerungen und trotz des Immobilienmarktes locker bleiben. Dann droht doch der Vermögensschock! Und auch für die Bewertung der Aktien haben steigende Inflationsraten (über die Ölpreise) negative Auswirkungen.
So ungefähr dachten die Großinvestoren am Wochenende. Der Crash in Shanghai ist eigentlich nicht der Rede wert. Er war zunächst so unbedeutend, dass die Börse in Japan am Dienstag davon kaum Kenntnis nahm. Ohne die beiden vorhandenen Sorgen wäre Shanghai eine Randnotiz geblieben. Doch dann kippte gestern im europäischen Handel die Risikowahrnehmung. Plötzlich wurden wieder die lange unter den Teppich gekehrten Risiken wahrgenommen.
Worauf müssen wir achten?
Zu allererst auf den Yen-Carry. Das war und bleibt die Sollbruchstelle des globalen Kapitalismus. Wenn der Yen diese Woche noch drei oder vier Yen gegenüber dem Dollar gewinnt, dann gute Nacht. Dann waren die Verluste am Montag nur der Amuse gueule.
Dann auf die Entwicklung der Spreads für sub-prime und prime loans in Amerika. Weiten die sich weiter aus, ist Risikoaversion King.
Und danach auch die Kurse der globalen Investmentbanken. Wenn’s dort scheppert, dann sollte das Geld in Staatsanleihen geparkt werden.
Kurzum: Qualität ist in diesen Zeiten zu bevorzugen. Unsere Losung: Runter vom Risiko, rein in Cash, die HERDENTRIEB Anfang 2006 ausgegeben hat, gilt unverändert. Die Preise für riskante Assets sind schon lange zu hoch. Wenn das korrigiert würde, wäre ich nicht traurig. Die Gefahr, dass diese Korrektur das globale Finanzsystem heftig erschüttert, ist leider nicht von der Hand zu weisen. Aber glücklicher Weise gibt es im Kapitalismus meist Gegenkräfte, die das Schlimmste verhindern. Zur Not müssen Fed und EZB die Zinsen senken.