Die europäische Zinskurve ist zur Zeit flach wie ein Brett. Der Unterschied in der Rendite zehnjähriger und zweijähriger Bundesanleihen beträgt gerade einmal einen hundertstel Prozentpunkt, oder einen Basispunkt. Alles verzinst sich mit etwa 3,9 Prozent, auch das Dreimonatsgeld unter den Banken. Was lehrt uns das? Haben wir es hier mit einem Vorboten einer Rezession zu tun?
In den USA gilt die Neigung der Zinskurve bekanntlich seit jeher als der wichtigste Frühindikator für die amerikanische Konjunktur. Wenn die kurzfristigen Zinsen dauerhaft deutlich höher sind als die am langen Ende, reflektiert das die Erwartungen der Marktteilnehmer, dass die Notenbank ihren Leitzins, die Federal Funds Rate, senken wird. Warum sollte man Anleihen kaufen, wenn am Geldmarkt mehr zu verdienen ist? Und warum erwarten die Leute eine Zinssenkung der Fed? Weil die Konjunktur schlecht laufen und die Inflation dann zurückgehen wird! Niedrige Inflation gleich niedrige Zinsen. Umgekehrt, wenn die Kurve sehr steil ist, wenn die langfristigen Zinsen deutlich höher sind als die kurzfristigen, wird erwartet, dass die Fed die Zinsen anheben wird, weil die Konjunktur robust ist und es daher leicht fällt, die Preise zu erhöhen, das Inflationsrisiko also zunimmt.
In Europa gibt es einen solch zuverlässigen Zusammenhang nicht, vermutlich weil es immer wieder zu Strukturbrüchen kam. Man denke an die deutsche Wiedervereinigung oder die Ablösung der nationalen Notenbanken durch die EZB.
Aus der Graphik geht hervor, dass die Marktteilnehmer trotz des starken Wirtschaftswachstums nicht befürchten, dass die EZB die Zinsen viel weiter erhöhen wird, oder dass die Inflation Eurolands anspringen könnte. Ein Grund dürfte sein, dass die Produktivität durch die Kombination von unterausgelasteten Kapazitäten und steigendem Output kräftig zunimmt, während die Löhne infolge des starken Euros und des Überangebots an Arbeit ihren Vorjahresstand nur um etwa 2 Prozent übertreffen, mit der Folge, dass die Lohnstückkosten, traditionell der wichtigste Inflationstreiber, in etwa stagnieren.
Auch die Struktur der Zinskurve im Geldmarktbereich suggeriert, dass die Zinsen bereits in der Nähe ihres voraussichtlichen zyklischen Höchststandes liegen dürften. Vielleicht gibt es im Herbst noch eine Anhebung auf 4 Prozent, das war es aber dann – wenn der Markt recht haben sollte.
Im Grunde besteht kein großer Handlungsbedarf. In der zweiten Graphik ist die linke Skala für den Notenbankzins so eingerichtet, dass 4 Prozent Zinsen bei einer Inflationsrate von 2 Prozent liegen. Diese 4 Prozent entsprechen etwa dem Produkt aus der Zielinflation von 1,8 Prozent (das Inflationsziel der EZB ist nahe bei aber unter 2 Prozent) und einem Potenzialwachstum von 2 1/4 Prozent.
Nun nähert sich die Wirtschaft der Währungsunion allerdings allmählich der Normalauslastung, jedenfalls wenn man unterstellt, dass sich das Potenzialwachstum neuerdings nicht beschleunigt hat, und wenn man davon absieht, dass die Lage am Arbeitsmarkt nach wie vor weit von einer normalen Situation entfernt ist. Die EZB könnte also argumentieren, dass sie den Zins in einiger Zeit über das „neutrale“ Niveau von 4 Prozent hinaus anheben muss, wenn der Auslastungsgrad der Wirtschaft weiterhin so rasch zunimmt wie zuletzt. Die dritte Graphik zeigt jedoch, dass wir uns bislang noch etwas unterhalb von „normal“ befinden, und zwar um etwa 0,5 Prozent, dem Durchschnitt, der sich aus den beiden verwendeten Rechenverfahren für die Output-Lücke ergibt. Die rechte Skala für den Notenbankzins ist so eingerichtet, dass 4 Prozent Zinsen bei einer Outputlücke von null Prozent liegen. Wie bereits oben angemerkt, entsprechen diese 4 Prozent etwa dem Produkt aus der Zielinflation von 1,8 Prozent und einem Potenzialwachstum von 2 1/4 Prozent. (Letzteres ist der Mittelwert der Bandbreite des Trendwachstums des BIP, die die EZB bei der Berechung ihres Referenzwertes für das Geldmengenwachstum unterstellt.)
Insgesamt sind die Produktionsreserven noch beträchtlich. Ehe eine Auslastung wie 2001 erreicht wird, kann das reale BIP von Euroland drei Jahre lang mit einer durchschnittlichen Rate von 3 1/4 Prozent wachsen. Wenn das gelänge, könnte die Arbeitslosenquote sicher noch einmal um weitere zwei Prozentpunkte auf dann etwa 5 1/2 Prozent zurückgehen.
Auch im Jahr 2001 gab es übrigens durchaus noch große ungenutzte Produktionsreserven, und die Arbeitslosenquote lag im saisonbereinigten Tiefpunkt bei 7,8 Prozent, also etwas höher als heute. Die Inflationsrate betrug im Jahresdurchschnitt 2,3 Prozent, was im Wesentlichen die Folge der vorangegangenen Euro-Abwertung und der deutlich höheren Lohnsteigerungen war. Heute erwarten wir angesichts der globalen Ungleichgewichte eher einen festeren Euro und angesichts der immer intensiveren globalen Arbeitsteilung eher sehr moderate Lohnsteigerungen, also sehr günstige Voraussetzungen für eine weiterhin niedrige Inflationsrate.
Die EZB hat also keinen Anlass, mit Macht auf die Bremse zu treten. Im Übrigen ist auch der sogenannte Taylorzins, wie ihn mein Mitstreiter Uwe Richter berechnet hat, jetzt eher etwas niedriger als der Refinanzierungssatz von derzeit 3,75 Prozent.
Der Taylorzins ist übrigens kein normativer Zins, sondern bildet nur ab, wo der Notenbankzins liegen würde, wenn die Notenbank, wie in der Vergangenheit, etwa gleich viel Gewicht auf die Beschäftigung (als Proxy dient die Output-Lücke) und die Einhaltung des Inflationsziels legen würde. Bekanntlich ist die EZB ja nur dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet, in der Praxis aber, wie jede andere Notenbank auch, genauso dem der möglichst hohen Beschäftigung. Eine neuere, gut lesbare Kritik des Konzepts des Taylorzinses und der Potenzialrate des realen Sozialprodukts findet sich in der Februar Ausgabe der Zeitschrift Wirtschaftsdienst.
Mit anderen Worten, die Inflationsrisiken sind heute nach wie vor moderat und erfordern kein aggressives Gegensteuern. Auch wenn die Wirtschaft tatsächlich weiter kräftig expandiert, dürfte sich keine neue Inflationsspirale entwickeln.
Vor allem aus Deutschland gibt es allerdings immer wieder Stimmen, die die EZB dazu drängen, die Zügel weiter anzuziehen. Das wäre verfehlt. Es wäre zudem aus der Froschperspektive gesehen, denn den anderen großen Ländern im Euroraum geht es konjunkturell keineswegs so gut wie uns. Unsere Wirtschaft hat sich zur Konjunkturlokomotive für Euroland entwickelt, nachdem sie jahrelang als der kranke Mann am Rhein belächelt worden war. Wir könnten angesichts der aktuellen Wachstumsrate des realen BIP von 3 1/2 Prozent durchaus mit Zinsen von deutlich über 4 Prozent leben, die anderen aber nicht so leicht.
Die EZB muss die gesamte Region im Blick haben und kann daher nicht besonders forsch mit dem Anziehen der Zügel fortfahren. Auf einmal findet sich Deutschland in der ungewohnt komfortablen Lage, dass sowohl der reale Wechselkurs als auch die Realzinsen sehr niedrig sind – und die EZB mit Rücksicht auf die anderen keinen sonderlich restriktiveren Kurs fahren kann. Wer hat da noch Sehnsucht nach der Bundesbank?