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Europäische Zinsen auf dem Weg nach oben

 

Die Worte des EZB Präsidenten Jean-Claude Trichet auf der Pressekonferenz am gestrigen Donnerstag waren so klar wie sie nur sein konnten: Im Juni werden die Notenbankzinsen erneut um 25 Basispunkte angehoben, auf dann 4 Prozent. Außerdem hat er sich die Tür offengehalten für weitere Schritte, da die Konjunktur besser läuft als gedacht, die Löhne jetzt möglicherweise rascher steigen, die Inflationsrate wieder über 2 Prozent klettern könnte, und weil vor allem die Liquiditätsversorgung und die Expansion der Kredite boomartige Züge angenommen haben.

Notenbankzinsen und langfristige Zinsen in Euroland

Wie ernst ist das Risiko zu nehmen, dass wir am Ende des Jahres einen Refinanzierungssatz von, sagen wir, 4 1/2 Prozent sehen werden? Neutral im dem Sinne, dass von ihm weder stimulierende noch bremsende Effekte ausgehen, dürfte ein Satz von 4 Prozent sein. Er ergibt sich durch die Multiplikation der mittelfristigen Wachstumsrate des realen Sozialprodukts von 2 1/4 Prozent mit der angestrebten Inflationsrate von etwas unter 2 Prozent. Das ist keine rocket-science-Formel, nur ein Anhaltspunkt. Niemand weiß, wo genau der neutrale Zins liegt. Da die Wirtschaft Eurolands zuletzt mit einer Verlaufsrate von real rund 3 1/2 Prozent gewachsen ist, also rascher als das Potenzial, schrumpft die Outputlücke. Es ist aber noch ein ziemlich weiter Weg, bis wieder ein Auslastungsgrad erreicht ist wie zu Beginn des Jahrzehnts, so dass die Inflationsrisiken realistisch gesehen nicht sonderlich ernst zu nehmen sind.

Der wichtigste Grund ist, dass am Arbeitsmarkt trotz des Anstiegs der Beschäftigung – mit Raten von zur Zeit beinahe 2 Prozent – im großen Ganzen ein Überangebot herrscht und die Verhandlungsposition der Gewerkschaften daher schwach ist. Noch gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich eine neue Lohn-Preisspirale in Gang setzen könnte. Da die Produktivität jetzt offenbar ebenfalls um knapp 2 Prozent zunimmt, wenn vielleicht bislang vorwiegend nur aus zyklischen Gründen, dürften die Lohnstückkosten bis auf weiteres bestenfalls um ein halbes Prozent steigen, so dass sich die wichtigste Kostenkomponente deutlich moderater entwickelt, als die von der EZB angestrebte Änderung des Preisniveaus insgesamt.

Warum sollte die Zentralbank also wegen der Löhne den Fuß auf der Bremse halten? Die Warnung vor zu hohen Lohnabschlüssen ist nur eine rituelle Sprechblase. Es ist noch ein weiter Weg bis von der Lohnseite wirklich Gefahren auf die Preisstabilität ausgehen.

Dass die zweistellige Expansionsrate der Kredite aus Sicht der Zentralbank bedenklich ist, kann ich schon eher verstehen. Sie reflektiert zweierlei: die bislang noch niedrigen Realzinsen und die zunehmende Dynamik des Aufschwungs. Die Unternehmen sind optimistisch, ihre Auftragslage ist ausgezeichnet (wenn auch nicht überall gleichermaßen), der Wechselkurs stimmt, die Exportmärkte brummen, die Gewinne steigen weiter mit zweistelligen Raten, und der Boom in der Bauwirtschaft ist jetzt auch in Deutschland angekommen. Kein Wunder, dass es wieder reizt, sich stärker zu verschulden. Das gilt auch für die privaten Haushalte, weil es am Arbeitsmarkt nicht mehr ganz düster aussieht.

Dass aus der hohen Zuwachsrate der Kredite und, damit verbunden, der hohen Zuwachsrate der Geldmenge unmittelbar ein Anstieg der Inflation abzuleiten ist, glaubt aber selbst die EZB nicht. Soweit sich die zusätzliche Verschuldung in einer verstärkten Investitionstätigkeit niederschlägt, nimmt ja das Produktionspotenzial der Wirtschaft zu (die Angebotskurve verschiebt sich nach rechts), so dass auch ein kräftiger Anstieg der Nachfrage, wie er zur Zeit zu beobachten ist, nicht notgedrungen zu steigenden Verbraucherpreisen führen muss. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, wie stichhaltig mein Argument wirklich ist, denn bisher ist es noch nicht zu einem richtigen Investitionsboom gekommen: Im vierten Quartal lagen die realen Investitionsausgaben im Euroraum nur um 5,8 Prozent über ihrem Vorjahreswert, was für einen Aufschwung ziemlich bescheiden ist. Das ist, nebenbei gesagt, ein Zeichen dafür, dass der Auslastungsgrad der Kapazitäten noch niedrig ist – was wiederum ein erfreuliches Zeichen für die künftigen Gewinne ist.

Trotzdem ist der Zusammenhang zwischen Krediten, Geldmenge und Inflation seit Jahren praktisch nicht mehr existent – es wäre etwas anderes, wenn sich all die Liquidität in einem Boom der Verbrauchernachfrage niederschlagen würde. Aber das ist ja gerade nicht der Fall. Die Wachstumsmaschine Eurolands brummt ohne den Konsumzylinder.

So oder so, die EZB wird fortfahren, die Zinsen anzuheben, sie zu „normalisieren“. Dabei sticht ein Argument nicht mehr, das sie in der Vergangenheit immer wieder angeführt hatte: dass die Finanzpolitik zu wenig für die Rückführung der Defizite tue, so dass sie, so die implizite Botschaft, bei der Zinspolitik notgedrungen gegenhalten müsse. Wie es aussieht, werden die Staatsdefizite im Euroraum insgesamt in diesem Jahr kaum mehr als 1 Prozent des nominalen BIP erreichen und damit weit unter der kritischen Marke von 3 Prozent liegen. Dabei sind wir immer noch weit entfernt von Vollbeschäftigung. So gesehen, könnte die EZB es ruhig angehen lassen.

Effektiver Wechselkurs des Euro

Und dann der Wechselkurs des Euro! Er befindet sich in einem klaren Aufwärtstrend, wenn vielleicht auch nur deshalb, weil Renminbi und Yen, die eigentlichen Aufwertungskandidaten, sich wegen ständiger Interventionen einerseits und rekordniedrigen Notenbankzinsen andererseits nicht lehrbuchgemäß verhalten – und das Geld aus dem Dollar ja irgendwo hin muss. Euroland importiert zunehmend Preisstabilität auch deswegen, weil bei steigendem Wechselkurs das Güterangebot im Inland zunimmt. Das Risiko steigender Inflationsraten nimmt jedenfalls mit jedem Cent ab, den der Euro zulegt. Auch das spricht dafür, es bei den Zinsen nicht zu übertreiben.

Die Renditen der zehnjährigen Bundesanleihen klettern derweil fast täglich. Heute sind sie bei 4,24 Prozent angekommen. Es ist noch nicht so lange her, dass sie fast unter 3 Prozent gefallen wären (am 9.9.2005 lagen sie bei 3,05 Prozent). Nicht, dass sich die Lage an der Inflationsfront seitdem verschlechtert hätte. Es kann nur damit zusammenhängen, dass die EZB die kurzen Zinsen inzwischen um 175 Basispunkte angehoben hat und dass das stärkere Wirtschaftswachstum auch eine Annäherung an einen „normalen“ Langfristzins nahe legt. Der könnte etwa 50 Basispunkte über dem „normalen“ Notenbanksatz liegen, also bei 4 1/2 Prozent. Die 50 Basispunkte sind die Risikoprämie, die bei diesem, im historischen Vergleich niedrigen, Zinsniveau plausibel ist. Der Markt läuft offenbar tatsächlich in Richtung 4 1/2 Prozent, und es dürfte so weitergehen, solange es keine schlechten Nachrichten von der Konjunktur gibt. Die Zinsstrukturkurve ist also wieder ein bisschen steiler geworden. Das kann auch interpretiert werden als ein Zeichen dafür, dass sich die Marktteilnehmer keine Sorgen um den Aufschwung machen. Mögen sie recht behalten!