Zweimal im Jahr veröffentlichen die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums ein Gemeinschaftsgutachten zur Lage der Wirtschaft und was für die Zukunft zu erwarten ist. Im Herbst lag die Wachstumsprognose der Institute für 2007 noch bei 1,4 Prozent. Jetzt rechnen sie mit einem Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts von 2,4 Prozent im laufenden Jahr und ebenfalls mit 2,4 Prozent für 2008. Ein Korrektur um einen Prozentpunkt nach oben ist kein Pappenstiel, da muss sich in den letzten sechs Monaten einiges getan haben. Der sogenannte Mehrwertsteuerschock ist im ersten Quartal ausgeblieben. Das war’s. Nicht ganz, das Potenzialwachstum hat zugelegt. Das Kieler Institut hatte dieses für alle Strukturökonomen beruhigende Ergebnis im vergangenen Monat vorgerechnet. Wie sonst sollte es möglich sein, dass es in einem verkrusteten und mit maroden öffentlichen Finanzen belasteten Land wie Deutschland zu einem gefestigten Aufschwung kommt, von dem jetzt alle Welt redet. Noch im Juni 2006 hatte die Bundeskanzlerin das Land als Sanierungsfall bezeichnet.
Das Interessanteste am Gutachten, was die Lage der deutschen Wirtschaft betrifft, sind dann auch die Gründe für den unerwarteten Aufschwung. „Ein wichtiger Grund ist die über Jahre andauernde Lohnzurückhaltung,“ so die Institute. Hierdurch habe sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verbessert. Das Kieler Institut hatte den Beginn dieser positiven Entwicklung an der Lohnfront auf das Jahr 2004 terminiert. Die Bundesbank hatte in ihrem Monatsbericht im März (S. 39ff.) gleichfalls die Lohnzurückhaltung als wesentlichen Faktor dafür ausgemacht, dass Deutschland „im vergangenen Jahr in die Rolle des konjunkturellen Schrittmachers im Euro-Raum hineingewachsen ist“. Die moderate Lohnpolitik setzt aber bei der Bundesbank allerdings schon viel früher ein. Hatten überzogenen Lohnerhöhung und ein kräftiger Anstieg des Wechselkurses der DM zu Beginn der 90er Jahre die internationale Wettbewerbsfähigkeit, gemessen am realen Außenwert der Währung, stark beeinträchtigt, so ist eine Verbesserung schon seit der zweiten Hälfte der 90er zu beobachten. Und schon im November 2002 (S. 42) und im März 2003 (S. 54) hatte die Bundesbank in ihren Monatsberichten diesbezüglich keine wirklichen Probleme mehr festgestellt. Und so war der Export, wenn man sich recht erinnert, der Teil der Nachfrage, der die Wachstumsraten in den letzten Jahren im Durchschnitt leicht oberhalb der Nulllinie gehalten hat.
Neben der internationalen Wettbewerbsfähigkkeit braucht eine Wirtschaft natürlich auch das entsprechende Produktionspotenzial um überhaupt wachsen zu können. Es ist der Dreh- und Angelpunkt aller strukturpolitischen Maßnahmen. Das Problem dabei, man kann es nicht beobachten. Wenn eine Wirtschaft über mehre Jahre mit mehr als 2 Prozent wachsen soll, kann es aber nicht bei einem Prozent liegen. Das war der Bereich in dem es bislang vermutet wurde, und letztlich als Ursache für die deutsche Krankheit ausgemacht wurde. Auch hier ist jetzt Licht am Horizont zu sehen. Der expandierenden deutschen Wirtschaft „liegt wohl auch ein höheres Trendwachstum zu Grunde,“ so die Vermutung der Institute jetzt. Rechtzeitig zum Aufschwung hatte das Kieler Institut seine Schätzung für das Potenzialwachstum dann auch angehoben. Es reicht jetzt an die 2 Prozent. Die Hauptursache: Die Arbeitsmarktreformen. Am geschätzten Produktionspotenzials, die strukturelle Stärke oder Schwäche einer Volkswirtschaft auszumachen, ist allerdings höchst umstritten. Die damit verbundenen Probleme haben exemplarisch Gustav Horn und Silke Tober vom IMK im Januar diesen Jahres dargelegt.
So plausibel die Gründe, die jetzt angeführt werden aus einer angebotspolitischen Perspektive auch sein mögen, und welche sollten es auch sonst sein, hat man Lohnzurückhaltung und Arbeitsmarktreformen, doch seit Jahren als einzige mögliche Kur gepredigt, so überrascht sind die Vertreter der Zunft dann doch. Denn eigentlich ist der Aufschwung zu früh und zu ausgeprägt. Darüber, wie der Anstieg der Wachstumsprognose um einen Prozentpunkt zu erklären sei, haben die Institute dann auch stark diskutiert, erzählt Udo Ludwig vom IWH auf der heutigen Pressekonferenz. Seine Erklärung für den unerwarteten Aufschwung, die er auf eine Nachfrage hin gab, mag den einen oder anderen überrascht haben und es gibt wahrscheinlich auch einige, die mit der von ihm verwendeten Begrifflichkeit gar nichts mehr anfangen können. Es habe sich selbst verstärkende Kräfte gegeben, die man nicht richtig eingeschätzt hatte, die Multiplikator- und Akzeleratorkräfte wurden unterschätzt, so Ludwig. So etwas hat man lange nicht gehört. Handelt es sich doch um Mechanismen, die auf der Nachfrageseite der Wirtschaft ansetzten beziehungsweise die Angebotsseite auf die Nachfrageseite reagieren lassen. Das es solche Zusammenhänge gibt, wurde von der Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre vollkommen ignoriert und sie schienen aus dem Möglichkeitsbereich der Wirtschaftsanalyse vollkommen verbannt zu sein.
Vielleicht gibt es eine Renaissance der Bedeutung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bei der Entwicklung wirtschaftspolitischer Rezepte und den Lagebeurteilungen. Was man früher nicht richtig eingeschätzt hat, sollte man in Zukunft besser im Auge behalten.
Das Wunder der Gemeinschaftsprognose wird von einem Institut gar noch überflügelt. Mit drei Prozent (!) Wachstum wird da jetzt für 2007 gerechnet. (siehe Gutachten S. 27) Wer sind die Oberoptimisten? Richtig. Das Institut aus Kiel, das vor zweieinhalb Jahren mit einer Schätzung des Potenzialwachstums von einem Prozent an die Öffentlichkeit trat