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Rätselhafte Inflationsangst in Europa

 

Es mag ja verständlich sein, dass in den USA die Inflationsangst umgeht, dass das aber in Europa auch so ist, und zwar noch ausgeprägter, ist mir ein völliges Rätsel: Die Renditen der langlaufenden Bundesanleihen steigen seit einigen Tagen ziemlich kräftig, haben im 10-Jahresbereich 4,35 Prozent erreicht und liegen damit nur um 28 Basispunkte unter denen der vergleichbaren amerikanischen Treasuries. Laut Bloomberg haben sich die US-Renditen in den vergangenen sechs Monaten um 3 Basispunkte, die deutschen dagegen um 35 Basispunkte erhöht.

Langfristige Zinsen, DE USA

Zunächst einmal ein Blick auf die amerikanische Situation: Seitdem die Fed die Funds Rate letzten Dienstag auf 4,75 Prozent zurückgenommen und damit die Zinswende eingeleitet hat, setzen die Marktteilnehmer darauf, dass es gelingen wird, eine nachhaltige Abschwächung des Wachstums zu verhindern. Davon profitieren die Aktienmärkte in den USA, aber auch anderswo, weil die USA in mancher Hinsicht immer noch den Takt vorgeben. Plausibel ist dann natürlich auch, dass die Rohstoffpreise und die Kurse der Rohstoffaktien steigen. Die Party kann weitergehen.

Notenbankzinsen

Andererseits haben wir es allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz mit einem Bernanke-Put zu tun, also der impliziten Garantie der Notenbank, dass es an den Aktienmärkten zu keinem ernsthaften Kurseinbruch kommen wird. Die Zinssenkung war ganz eindeutig durch die Sorge um die Gesundheit der Finanzmärkte motiviert. Es ist klar, wenn nie eine wirkliche Rezession zugelassen wird, wenn immer Vollbeschäftigung herrscht, wird es eines Tages wieder Probleme mit der Inflation geben, vor allem wenn die ostasiatischen, osteuopäischen und südamerikanischen Länder, die bislang als Exporteure von Preisstabilität fungierten, nun selbst an Kapazitätsgrenzen stoßen. Das ist der plausibelste Grund dafür, dass die langen Zinsen seit vergangenen Dienstag um fast 30 Basispunkten gestiegen sind.

Die Marktteilnehmer glauben in ihrer Mehrheit, dass der Fed erneut der Trick gelingen wird. Don’t fight the Fed. Hatte es sich nicht immer gelohnt, in dem Moment in den Aktienmarkt einzusteigen, wenn die Fed erstmals die Zinsen senkte? Die Regel hat in sieben der letzten zehn Fälle gestimmt, in drei Fällen allerdings nicht. Wenn die Rezession am Immobilienmarkt besonders tief war, wie von 1979 bis 1982, kam die Fed nicht gegen die Marktkräfte an. Ich vermute, dass es diesmal ähnlich schlimm sein wird, befinde mich da aber wohl in einer Minderheitsposition.

US Immobilienmarkt und Konjunktur

Die aktuelle Inflation beträgt im Vorjahresvergleich bei den amerikanischen Verbraucherpreisen übrigens 2,0 Prozent, bei der Kerninflation 2,1 Prozent, bei den industriellen Erzeugerpreisen 2,2 Prozent, bei den Einfuhrpreisen 2,5 Prozent, bei den Löhnen und Gehältern 3,4 Prozent Prozent, und beim BIP-Deflator 2,7 Prozent.

Verbraucherpreisinflation DE USA

Noch ist die Inflation also unter Kontrolle. Da die Märkte aber von Erwartungen leben, hat das nicht viel zu sagen: Der Dollar ist sehr schwach, was tendenziell sowohl die Exportpreise als auch die Importpreise in die Höhe treibt, die Wirtschaft operiert in der Nähe ihrer Kapazitätsgrenzen, so dass es keine großen Reserven bei der Produktivität mehr gibt (die Lohnstückkosten ziehen an), und die Hausse bei den Rohstoffpreisen wird ungebremst auf das inländische Preisniveau durchschlagen. Wenn die Gesamtnachfrage also, wie mehrheitlich angenommen, robust bliebe, wäre die Inflation in der Tat ein Thema.

Da habe ich aber meine Zweifel. Die gegenwärtige Finanzkrise ist so tief und weitverbreitet, dass sie nicht einfach par ordre de mufti mit ein paar Zinssenkungen abgehakt werden kann. Noch ist an den Geldmärkten keine echte Entspannung zu sehen. Auch die Renditedifferenzen zwischen Treasuries und Corporate Bonds sind nach wie vor sehr groß. Das Entscheidende ist, dass immer mehr amerikanische Haushalte in Zahlungsschwierigkeiten geraten sind und jetzt anfangen zu sparen. Ihre Häuser sind ja angesichts fallender Preise und strikterer Vergabepolitik der Banken nicht mehr so leicht zu beleihen. Das wird sich in den kommenden Monaten zeigen. In den USA gibt es meiner Ansicht nach ein Inflationsrisiko auf der Kostenseite und ein Deflationsrisiko auf der Nachfrageseite; gegen letzteres kann die Fed nicht viel machen.

Während die amerikanische Inflationsfurcht einigermaßen plausibel zu erklären ist, gilt das für die deutsche und westeuropäische nicht. Es will mir nicht einleuchten, weshalb sich auch hierzulande die langen Zinsen in der letzten Woche so kräftig erhöht haben (28 Basispunkte). Es kann nur etwas mit der weitverbreiteten Vermutung zu tun haben, dass unsere Wirtschaft nach wie vor stark von der amerikanischen abhängt. Das mag kurzfristig stimmen, auf längere Sicht stimmt es nicht. Das Sozialprodukt von Euroland beträgt beim gegenwärtigen Wechselkurs 12,3 Mrd. $, das der USA 14,0 Mrd. $. So groß ist der Unterschied nicht mehr. Bei $1,60 pro Euro ist er weg.

Zuallererst gibt es von der Lohnkostenseite her überhaupt keinen Anlass zur Sorge. Die Arbeitslosenquote beträgt immer noch etwa 7 Prozent und die Löhne steigen entsprechend moderat. Zudem operiert die Wirtschaft nach meinen Berechnungen um etwa 4 Prozent unterhalb des Auslastungsstands, der zuletzt 2001 erreicht worden war. Es gibt also vermutlich noch beträchtliche kostendämpfende Produktivitätsreserven.

Die Frühindikatoren für die künftige Konjunktur lassen vermuten, dass es von nun an doch nicht mehr sonderlich dynamisch weitergehen wird. Anfang des Jahres hatte ich noch geglaubt, dass es gar kein Problem sein würde, beim BIP-Wachstum auf 3 Prozent zu kommen. Jetzt würde ich mich freuen, wenn mehr als 2,6 Prozent herauskämen. Ich sehe, dass die Prognosen meiner Kollegen für 2008 peu à peu auf unter 2 Prozent zurückgenommen werden. Angesichts eines Potentialwachstums von gut 2 1/4 Prozent pro Jahr bedeutet das, dass der Auslastungsgrad des Sozialprodukts schon wieder zurückgeht. Nicht sehr schön, aber positiv was die Inflationsaussichten angeht.

Der feste Euro ist einer der Gründe für den zunehmenden Wachstumspessimismus. Das Leben auf den internationalen Märkten, zu denen der offene inländische Markt übrigens auch gehört, ist härter geworden. Die Amerikaner werden schon allein deswegen nichts gegen einen weiteren Dollarverfall unternehmen, weil sie in der Auslandsnachfrage eine Kompensation für die kommende Schwäche der Konsumnachfrage sehen. US-Zinssenkungen passen in dieses Bild. Euroland importiert also über den Wechselkurs weiterhin Preisstabilität.

Die EZB ist darüber hinaus noch nicht willens, das Handtuch zu werfen und der Fed zu folgen. Zinssenkungen stehen noch nicht auf der Tagesordnung, aber natürlich auch keine Zinserhöhungen mehr. An den Quotierungen am Markt für Forward Rate Agreements lässt sich Erwartung für die kurzfristigen Zinsen ablesen: Bis Sommer 2008 wird ein Ende der Bankenkrise erwartet, nicht aber eine Zinssenkung. Es gibt keinen Trichet-Put, so dass die Marktteilnehmer sich eigentlich keine Sorge über die künftige Inflation zu machen brauchen. Tun sie aber.

Also was? Sind 4,35 Prozent für 10-jährige Bundesanleihen viel oder wenig? Es ist ganz einfach: Wenn sich die Konjunktur beschleunigen würde und der Euro schwächelte, wäre es wenig, wenn sie sich aber abschwächt und der Euro bombenfest ist (was für ein Wort übrigens!), ist das eine ziemlich attraktive Rendite. Man sollte ja auch im Hinterkopf haben, dass sich die Finanzkrise noch hinziehen dürfte und sichere Anlagen daher einen Renditeabschlag verdienen.

Mit anderen Worten: Wer jetzt Bundesanleihen kauft, kann nicht viel falsch machen. Nur wer sie vergangene Woche gekauft hat, dürfte sich ärgern.