Nach dem Lehrbuch, oder besser: nach den Lehrbüchern, die ich kenne, hätte der Euro in den letzten sieben Tagen die Schallmauer von $1,50 durchbrechen müssen. Schließlich hatte die Fed in zwei schnellen Schritten die Funds Rate um nicht weniger als 125 Basispunkte auf 3 Prozent gesenkt. Nur ganz kurzfristig war der Euro auf über $1,49 gestiegen, war dann aber wieder auf knapp über $1,48 gefallen, und ist dann am heutigen Dienstag richtig eingebrochen. Er liegt jetzt bei $1,4635.
Vielleicht sollte man das nicht übergewichten, aber erstaunlich ist es schon, dass sich der Euro genau entgegengesetzt zu den Erwartungen – jedenfalls entgegen meinen Erwartungen – bewegt hat. Wenn man nämlich auf die Terminsätze für die Fed Funds Rate schaut, reibt man sich die Augen: Da wird davon ausgegangen, dass sie im Spätsommer noch einmal um 100 Basispunkte unter dem jetzigen Niveau liegen werden, also bei 2 Prozent. Selbst wenn man das mit der Kerninflationsrate von zuletzt 2,4 Prozent (ggVj) vergleicht, ergibt sich ein negativer Realzins Erst recht kommt man zu diesem Ergebnis, wenn man die unbereinigte Verbraucherpreisinflationsrate (welch ein schönes deutsches Wort!) von 4,1 Prozent nimmt. Die Fed hat voll auf Expansionskurs umgeschaltet.
Und die EZB? Streitet sich angeblich darüber, ob die Zinsen bei 4 Prozent bleiben oder erhöht werden sollten, bei Inflationsraten von aktuell 1,9 Prozent (core) und 3,2 Prozent (headline). Es ist auch nicht damit zu rechnen, dass sich am kommenden Donnerstag etwas an dieser Haltung ändern wird. Die EZB fürchtet um ihren Ruf, und der ist angeblich gefährdet, wenn zu lange Inflationsraten hingenommen werden, die deutlich über dem Ziel von „knapp unter 2 Prozent“ liegen. Sie argumentiert neuerdings, dass die Gewerkschaften durch die hohe Inflation zu überzogenen Lohnforderungen animiert werden könnten. Da die Unternehmen finanziell gut dastehen, wäre ihr Widerstand möglicherweise schwach, so dass es dann letztlich doch …, Bingo, zu einer Lohn-Preisspirale kommen würde, also zur Katastrophe.
Das scheint die Märkte aber überhaupt nicht zu beeindrucken: Dort eine extrem expansive, hier eine vergleichsweise restriktive Geldpolitik. Wäre da nicht die normale Schlussfolgerung, dass der Euro sich noch einmal befestigen müsste? Nicht zu vergessen im Übrigen, dass die US-Regierung gerade ein gewaltiges Ausgabenprogramm vorgestellt hat, das die Haushaltsdefizite erneut in die Höhe treiben wird. Und das gewaltige Defizit in der amerikanischen Leistungsbilanz, durch das jeden Tag ein Dollarangebot von 2 Milliarden an den Markt kommt, wird auch nur ganz langsam kleiner. Soll all das gut für den Dollar sein?
Könnte es sein, dass die EZB es nicht ernst meint? Ich vermute, dass die jüngsten Zahlen zu den Einzelhandelsumsätzen sowie der heutige Einbruch der Stimmungsindikatoren den Eindruck erweckt haben, dass die EZB gar nicht anders kann, als ebenfalls demnächst die Zinsen zu senken. Damit wäre der Zinsvorteil zugunsten des Euro geringer als bisher gedacht, was den Kursverfall erklären könnte. Aber eigentlich waren die amerikanischen Stimmungsindikatoren, die am Dienstag veröffentlicht wurden, noch viel negativer als alles, was zuletzt aus Euroland kam.
Die EZB meint es ernst! Der schwache Euro erleichtert ihr sogar das Festhalten an den 4 Prozent. Ich vermute darüber hinaus, dass sie weiterhin sehr angetan ist von den Fortschritten am europäischen Arbeitsmarkt, wo die Arbeitslosenquote auf 7,2 Prozent gesunken und die Beschäftigung im Vorjahresvergleich um nicht weniger als 1,9 Prozent gestiegen ist. Angetan wird sie auch sein von der deutschen Industrieproduktion, die im Dezember aller Voraussicht nach (wegen der boomenden Auftragseingänge) gegenüber dem November saisonbereinigt um mindestens 1 Prozent zugelegt haben dürfte, und gegenüber dem Vorjahreswert um 5,0 Prozent (die Zahlen werden am Freitag veröffentlicht). Was die harten Statistiken angeht, sieht alles immer noch sehr gesund aus. Die EZB kann es sich von daher leisten, ruhig abzuwarten. Schließlich entsprechen Notenbankzinsen von 4 Prozent ja auch in etwa dem, was man als neutrales Niveau definieren würde, also ein Niveau, bei dem die gesamtwirtschaftliche Nachfrage weder stimuliert noch gebremst wird. Es entspricht etwa dem mittelfristigen Wachstum des nominalen Sozialprodukts des Euroraums, also dem Produkt der Wachstumsraten von Produktionspotential und angestrebter Inflation ( 2 1/4 Prozent und 1,9 Prozent).
Warum sonst könnte der Dollar gegenüber dem Euro noch so fest sein? Einer meiner Kollegen vermutet, dass die Amerikaner wegen der großen Unsicherheit und dem eventuell kommenden Abschreibungsbedarf ausländische Kapitalanlagen auflösen und auf diese Weise Dollars importieren. Das würde auch erklären, warum die Renditen für zehnjährige US Treasuries am Dienstag auf 3,54 Prozent gefallen sind (also, gemessen an der aktuellen Inflation, real ebenfalls weit im negativen Bereich liegen).
Eine weitere Möglichkeit wäre, dass die Märkte wegen der praktisch unvermeidlichen amerikanischen Rezession bereits darauf setzen, dass sich die US-Leistungsbilanz im Gefolge der amerikanischen Konsumschwäche sehr rasch verbessern wird. Der Konsum wird einbrechen, weil es bei den Immobilien zu einem Vermögensschock kommen wird. Im vergangenen Halbjahr sind die Häuserpreise in den 20 größten Städten mit einer Verlaufsrate von nicht weniger als 11 Prozent gesunken. Angesichts des Überhangs an unverkauften Wohnungen wird vermutet, dass die Preise noch einige Zeit weiter sinken werden. Der Wert des bei weitem wichtigsten Vermögensgegenstands amerikanischer Haushalte ist seit Menschengedenken nicht mehr so stark gefallen – man muss wohl bis in die dreißiger Jahre zurückgehen. Wie es damals war, ist ja wohlbekannt.
Insgesamt ist die Schwäche des Euro gegenüber dem Dollar nur mit Mühe rational zu erklären. Sie wird auch nicht lang anhalten.