Noch nie war die Versorgung der Wirtschaft Eurolands mit Liquidität so großzügig wie zur Zeit. So sollte es angesichts der tiefen Rezession, der stagnierenden Verbraucherpreise und einer Pipeline, in der noch eine Menge an Deflationspotential steckt, natürlich auch sein. Im Juni dieses Jahres hatte die EZB in einer dramatischen Aktion das Gesamtvolumen der Refinanzierungsgeschäfte von €618 Mrd. auf €896 Mrd. in die Höhe getrieben, vor allem indem sie den Banken für ein Jahr so viel Liquidität zu 1 Prozent zur Verfügung stellte wie sie haben wollten, vorausgesetzt sie konnten Sicherheiten stellen. Die Qualitätsanforderungen an diese Papiere waren aber schon im Vorfeld deutlich abgesenkt worden, damit es in dieser Hinsicht erst gar nicht zu Engpässen kommen konnte.
Die Banken nahmen das Geschenk damals gerne an und luden sich die Teller so voll, dass die Liquidität förmlich überschwappte: Ihre bilanzielle Gegenseite, das Kreditvolumen, zog jedoch nicht mit. Zum einen hatten die Institute vor allem damit zu tun, ihre Bilanzen wieder in Ordnung zu bringen – weil ihr Eigenkapital durch aktuelle und künftige Abschreibungen auf faule Aktiva aller Art stark geschrumpft war oder zu schrumpfen drohte -, zum anderen waren die potentiellen Kreditnehmer angesichts der miserablen Absatzaussichten und der steigenden Arbeitslosigkeit gar nicht so erpicht auf weitere Schulden. Bis heute ist die Kreditnachfrage des privaten Sektors noch nicht angesprungen. Seit dem Höhepunkt im Oktober 2008 ist sie sogar um 1,1 Prozent gesunken; damals hatte es im Vorjahresvergleich noch eine Zuwachsrate von 7,8 Prozent gegeben. Der Trog ist voll, saufen aber wollen die Pferde nicht.
Wie reichhaltig die Liquiditätsversorgung ist, lässt sich der nachfolgenden Graphik entnehmen. In normalen Zeiten leihen sich die Banken Tagesgeld untereinander zu einem Satz, der sich in der Nähe des zentralen Leitzinses der Notenbank befindet. Der Hauptrefinanzierungssatz der EZB beträgt seit dem 13. Mai 1,00 Prozent. Seit Monaten liegen die ganz kurzfristigen Geldmarktzinsen aber nur wenig über dem Einlagesatz der EZB von 0,25 Prozent. Die Banken wissen offenbar nicht, wohin mit dem Geld. Hätten sie im Sommer gewusst, dass es einmal zu dauerhaft so niedrigen Interbankzinsen kommen würde, hätten sie sich an den langfristigen Geschäften mit einem Satz von 1 Prozent nicht beteiligt. Ein anderes Zeichen dafür, dass es für die Banken keine Probleme bei der Refinanzierung gibt, war ihr ziemlich geringes Interesse an der zweiten Ein-Jahresauktion mit unbegrenzter Zuteilung zu 1 Prozent am 1. Oktober – das Volumen erreichte nur 17 Prozent des Geschäfts vom 25. Juni. Axel Weber, der Präsident der Bundesbank, hat inzwischen angedeutet, dass die dritte Aktion dieser Art im Dezember die letzte sein wird.
Dreimonatsgeld kostet unter Banken übrigens nur 0,60 Prozent. Gewöhnlich ist ein so großer Abstand zum Leitzins ein Indiz dafür, dass die Marktteilnehmer eher mit einer Zinssenkung als mit einer Zinserhöhung rechnen. De facto ist es allerdings so, dass der effektive Leitzins zur Zeit nicht 1 Prozent beträgt, sondern als Folge der Liquiditätsschwemme nur 0,25 Prozent. Der Einlagesatz ist momentan der Leitzins. Aus dieser Sicht lässt sich folgern, dass die Banken doch mit einem Anstieg der Leitzinsen rechnen, aber eben nur von einem Niveau von 0,25 Prozent aus. Wenn die langfristigen Refinanzierungsgeschäfte der EZB in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres auslaufen, wie es sich Herr Weber wohl vorstellt, wird sich der gesamte Geldmarkt wieder am Hauptrefinanzierungssatz (derzeit 1 Prozent) orientieren.
Die Frage ist, ob das der Beginn einer Exitstrategie ist. Natürlich wäre es das, denn erstens dürfte die Liquidität verknappt werden, und zweitens erhöhen sich unter ceteris paribus-Bedingungen die Sätze am Geldmarkt um rund 75 Basispunkte. Tendenziell schwächt das gesamtwirtschaftlich die Nachfrage, drückt die Kurse von Aktien und Anleihen und stärkt den Wechselkurs des Euro.
Das ist aber noch mehr als ein halbes Jahr hin, und es wird bis dahin noch eine Menge Wasser den Main hinunterfließen. Will sagen, es wird ein Anziehen der monetären Zügel angekündigt, wenn es aber mit der Wirtschaft dann doch nicht so recht läuft, oder wenn sich der Euro übermäßig aufwertet, oder die Verbraucherpreise erneut sinken, lässt sich das ohne Weiteres aufschieben. Die zweite Graphik zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass es keinerlei Preisdruck in der Pipeline gibt und dass das Deflationsrisiko angesichts des Gleichlaufs der Inflationsreihen noch keineswegs aus der Welt ist.
Die Zahlen von der Konjunkturfront sehen hierzulande und auch global im Augenblick recht freundlich aus – ich bin gespannt, wie am Montag die deutsche Industrieproduktion ausfällt (September-Zahlen) -, aber es kann sich nach wie vor lediglich um ein Strohfeuer handeln, als Reaktion auf den scharfen Einbruch im vergangenen Winter und die wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Was wir sehen, muss nicht zwangsläufig in einen Aufschwung münden, der von Eigendynamik getragen wird.
Ich halte eine restriktivere Geldpolitik aus konjunkturellen Gründen für verfrüht, was ja wohl auch die Mehrheitsmeinung im EZB-Rat ist: Die Arbeitslosigkeit steigt (außer in Deutschland), die Banken haben weiterhin Abschreibungsbedarf in Höhe von Hunderten von Milliarden Euro und sind daher bei ihrer Kreditvergabe äußerst zurückhaltend. Ohne eine Expansion der Kredite wird es aber keinen nachhaltigen Aufschwung geben.
Eine ganz andere Frage ist, ob wir es im Gefolge der Liquiditätsschwemme, in Verbindung mit niedrigen Inflationsraten und Zinsen, in Europa schon wieder mit einer neuen Blase am Aktienmarkt zu tun haben, und ob da nicht gegengehalten werden sollte. Wir haben ja gelernt, dass Blasen am liebsten in einem stabilen wirtschaftlichen Umfeld entstehen („the paradox of stability“), zumal wenn es leicht fällt, Fremdmittel zu sehr günstigen Konditionen zu bekommen, so wie heute. Das durchschnittliche Kurs-Gewinnverhältnis der 30 Aktien im DAX beträgt auf der Basis der, wie immer optimistischen, Gewinnprognosen für 2009 schon wieder 15,4. An den Rohstoffmärkten ist die Rezession ebenfalls schon lange abgehakt, und in China entsteht, folgt man Nouriel Roubini von der NYU, gerade die Mutter aller Blasen (mit billigem Geld aus Amerika, wo die Notenpressen auf Hochtouren laufen) – dort haben die Aktienkurse seit Jahresbeginn zwischen 72 und 101 Prozent zugelegt (Schanghai und Szenzhen).
Es fällt immer schwer, die „punch bowl“ wegzunehmen, wenn die Party gerade in Schwung kommt. Ich kann aber nicht erkennen, dass wir in Europa wirklich schon in Partylaune sind. Sagen Sie das mal einem Opelarbeiter. In Japan hat sich die Restriktionspolitik des Jahres 1997 verheerend auf die Konjunktur und das Wachstum des Produktionspotentials ausgewirkt. Der Hauptgrund war, dass die Aktivseite der Bankenbilanzen als Folge der Crashs an den Märkten für Aktien und Immobilien damals immer noch sehr fragil war, so dass sofort eine neue Rezession cum Deflation einsetzte.
Ich plädiere daher dafür, mit einer geldpolitischen Exitstrategie erst zu beginnen, wenn die Signale von den Kreditmärkten eindeutig positiv sind. Ein bisschen damit zu drohen, dass Geld demnächst nicht mehr so billig und reichlich zu haben sein wird, ist zwar nicht hilfreich, schadet aber auch nicht besonders – außer dass der Euro dadurch weiter aufwerten dürfte.