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Kurzfristig sinken die Rohstoffpreise – langfristig aber auch

 

Russlands gefährliche Abhängigkeit von den Rohstoffpreisen

Diese Woche bin ich in Russland, und muss gleich etwas sagen zum Thema Rohstoffpreise, dem ökonomischen Hauptthema hier. Mehr als drei Viertel der russischen Exporte entfallen direkt oder indirekt auf Öl, Gas, Kohle, Metalle, und der Aktienmarkt des Landes wird dominiert von Unternehmen, die in diesen Sektoren tätig sind. Die Rohstoffe sind zugleich Russlands Fluch und Segen.

Zuerst einmal etwas dazu, warum sie ein Segen sind: Wenn ich nur ein Loch in die Erde bohren oder graben muss und dann alles Mögliche herauskommt, was sich gut verkaufen lässt, kann ich es mir gut gehen lassen. Ich brauche kaum zu arbeiten und habe ein anständiges Einkommen, solange die Konkurrenz in anderen Ländern kein Überangebot erzeugt, das mir die Preise verdirbt und damit mein Einkommen mindert. Aber sonst brauche ich mir keine großen Sorgen zu machen.

Da das reale Sozialprodukt der Weltwirtschaft auch in diesem schwierigen Jahr um etwa 2,5 Prozent expandieren wird, dürfte die Nachfrage nach Rohstoffen weiter zunehmen. Entscheidend ist, dass die Schwellenländer weiterhin sehr viel rascher wachsen als die dienstleistungsintensiven Industrieländer. Sie haben einen überdurchschnittlichen Appetit auf Energie und Rohstoffe. Sie befinden sich allesamt in einem rasanten wirtschaftlichen Aufholprozess und benötigen und produzieren vor allem Dinge, die sich anfassen lassen, Autos, Kühlschränke, Fernseher, Häuser, Autobahnen, Handtaschen, Kräne, Bohrmaschinen und so weiter. Der Anteil der Industrie und der Bauwirtschaft am gesamtwirtschaftlichen Output ist bis auf Weiteres deutlich größer als in den reichen Ländern.

Die Produktionsstruktur in den Schwellenländern ist rohstoffintensiv und sorgt dafür, dass es einen stetigen Anstieg der Nachfrage nach dem gibt, was Russland anzubieten hat. Im Jahr 2011 betrug der Handelsbilanzüberschuss vor allem wegen der lukrativen Rohstoffexporte etwa 140 Milliarden Euro, das entspricht zwölf Prozent des BIP. Der Überschuss in der Leistungsbilanz lag bei 65 Milliarden Euro – um diesen Betrag ist also das Nettoauslandsvermögen gestiegen. Russland ist dank der immer noch hohen Rohstoffpreise daher finanziell sehr gesund. Der Rubel hat sich seit Ende September gegenüber dem Euro um knapp zehn Prozent aufgewertet. In Berlin sind Russen, wie mir erzählt wird, die besten Kunden der teuren Läden, in anderen westeuropäischen Städten sind sie es vermutlich auch.

Die Ankündigung der Fed, dass der amerikanische Notenbankzins voraussichtlich bis Ende 2014 auf dem jetzigen Niveau bleiben wird, hat ebenfalls einen positiven Effekt auf die Rohstoffpreise. Das Lagern von Rohstoffen ist damit für drei weitere Jahre nahezu kostenlos – wie schon in den drei Jahren zuvor. Anlagen am Geldmarkt bringen nichts mehr, da können sich Unternehmen genauso gut ihre Rohstofflager aufstocken (üblicherweise in Form von Terminkontrakten). Das stützt die Preise, so dass Herr Bernanke ungewollt auch etwas Gutes für das Einkommen der russischen Bevölkerung getan hat – ihre Rente, also ihr arbeitsloses Einkommen, ist sicher, vielleicht erhöht sie sich sogar.

Jetzt zur Kehrseite: Da die Rohstoffproduktion sehr kapitalintensiv ist, wird ein hohes Einkommen mit sehr wenigen Arbeitskräften erzielt. Die Eigentümer dieser Maschinen, Geräte und Schürf- und Bohrrechte werden immens reich, dem großen Rest aber bleibt nicht viel, wenn es nicht gelingt, die Einkommensverteilung durch steuerliche, regulatorische und sozialpolitische Maßnahmen zu korrigieren, und zwar so, dass sie von der Mehrheit als gerecht angesehen wird. Russland ist weit entfernt davon.

Durch die Exporterlöse und die feste Währung werden die Einfuhren stimuliert und verdrängen, da sie relativ billig sind, einheimische Produkte, einschließlich vieler Nahrungsmittel. Eine breit gefächerte Industriestruktur kann gar nicht erst entstehen, so dass es tendenziell zu einer Abwanderung von Ingenieuren, IT-Leuten und Naturwissenschaftlern kommt. In kaum einem anderen Land spielen so viele gut ausgebildete junge Leute mit dem Gedanken, ihr Glück im Ausland zu versuchen. Ein anderer Aspekt in diesem Zusammenhang: Warum sollte der Staat viel Geld für die Grundlagenforschung ausgeben, wenn sich die Staatsausgaben leicht durch Steuern und andere Abgaben auf Rohstoffe finanzieren lässt? Forschungsintensive Produktion ist daher aus Sicht der Regierung nicht sehr relevant.

Wenn das Volkseinkommen zu einem großen Teil aus Rohstoffrenten besteht, die in der ersten Runde, bei der Entstehung, nur einer Minderheit zugutekommen, und die Einkommenschancen im Rest der Wirtschaft dürftig sind, werden ehrgeizige Leute, denen es im Beruf vor allem darum geht, möglichst viel Geld zu verdienen, versuchen, in solche Positionen zu gelangen, in denen sie einen Teil der Rohstoffrenten für sich abzweigen können. Ein Unternehmen zu gründen, ist nicht so leicht. Daher sind Jobs im öffentlichen Dienst so außerordentlich beliebt in Russland. Der Kampf um Renten ist der wichtigste Grund, weshalb es in Russland so korrupt zugeht. Diejenigen, die etwas dagegen tun könnten, haben im jetzigen zentralisierten System kein Interesse daran, am Ast zu sägen, auf dem sie sitzen. Die Situation kann nur verbessert werden, wenn die neue und langsam immer wichtigere Mittelschicht Druck macht. Die Demonstrationen an diesem Samstag sind ein hoffnungsvolles Zeichen, dass sich da was tut.

Die Abhängigkeit von Rohstoffen bedeutet zudem, dass Konjunktur und Volkseinkommen Russlands stärker schwanken als in Ländern mit einer breiter gefächerten Produktpallette, so wie die Rohstoffpreise größere Ausschläge aufweisen als Industrieprodukte oder Dienstleistungen: Es kommt immer wieder zu Übertreibungen und darauf folgenden tiefen Abstürzen. Stichwort „Schweinezyklus“ – daran haben auch die zahllosen Termin- und Optionsprodukte nichts geändert. Dieses Auf und Ab, der Wechsel von Euphorie zu tiefer Depression, hat wiederum zur Folge, dass nur in Sachanlagen investiert wird, wenn die erwartbaren Erträge außerordentlich hoch sind. Das vermindert die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote und das mittelfristige Wachstumspotential – und erklärt, warum das rohstoffarme China so viel rascher expandiert als Russland (neun Prozent gegenüber vier Prozent).

Zum Schluss einige Anmerkungen zu den Aussichten für den Ölpreis: Er liegt auch beim heutigen Niveau deutlich über seinem mittelfristigen Trend und dürfte daher angesichts des schwächeren Wachstums der Weltwirtschaft in diesem Jahr eher nach unten tendieren, aber wegen der überreichlich vorhandenen Liquidität und der niedrigen Zinsen und fehlender attraktiver Anlagealternativen nicht einbrechen. Einen Absturz, vergleichbar mit dem, was 2008 geschah, wird es nicht geben. Damals rauschte der Ölpreis in kaum mehr als einem halben Jahr von fast 150 Dollar auf 32 Dollar. Ich denke aber, dass wir Ende des Jahres bei rund 90 Dollar liegen werden.

Was die lange Frist angeht, sind die Analysten nahezu einhellig der Meinung, dass Öl nur teurer werden kann. Ich teile diese Meinung nicht. Ich glaube zum Beispiel nicht daran, dass es in den nächsten zwei Generationen zu dem befürchteten „peak oil“ kommen wird. Es ist alles eine Frage des Preises und der Preise der anderen Energiequellen, also der marktwirtschaftlichen Kräfte. Es ist genug Öl da, und die Förderung wird Jahr für Jahr steigen, vermutlich länger als die meisten von uns leben werden. Gerade werden vor allem in Brasilien und Nordamerika durch neue Verfahren Reserven erschlossen, die bislang nicht zugänglich sind. Aus den USA, dem größten Nettoimporteur der Welt, dürfte in zehn Jahren ein Nettoexporteur geworden sein.

Hinzu kommt die dramatische Steigerung der Gasförderung, die zu einem Kollaps der Gaspreise am freien Markt geführt hat. Durch die Verflüssigung von Gas ist es jetzt immer mehr möglich, es mit Schiffen zu transportieren, wie das Öl. Niemand wird in zehn Jahren noch unbedingt Pipelines brauchen, wenn er Gas beziehen möchte. Für Westeuropa bedeutet das eine geringere Abhängigkeit von russischen Lieferungen.

Gas ist neben der Kohle das wichtigste Substitut für Erdöl. Die Preise pro Energieeinheit von Öl und Gas liegen so weit auseinander wie seit Menschengedenken nicht mehr, wobei die Gaspreise eindeutig eine fallende Tendenz haben. Es ist für einen Ökonomen wie mich eine ausgemachte Sache, dass sich die Ölpreise dem Trend anschließen werden, wenn vermutlich auch nicht eins zu eins. Die Preisspanne zwischen dem texanischen Öl WTI und Brentöl aus der Nordsee ist ein Beleg dafür (im Augenblick 97 zu 112 Dollar), wie sinkende Gaspreise die Erdölpreise mit sich ziehen. Früher war WTI immer um einige Dollar teurer als Brent – seit es in Texas einen scharfen Wettbewerb mit Gas gibt, auf den europäischen Märkten aber nicht, hat sich das Verhältnis gedreht.

Mit anderen Worten, auch die russische Regierung sollte sich nicht darauf verlassen, dass die Preise für Energie immer nur steigen werden. Die technologischen Fortschritte zusammen mit dem hohen Preisniveau sorgen dafür, dass Öl erschwinglich bleibt. Es beunruhigt, dass der russische Staatshaushalt nur dann ausgeglichen ist, wenn der Ölpreis bei 100 Dollar liegt. Die Ausgaben sind in den vergangenen drei Jahren zügig im Gleichschritt mit der Erholung des Ölpreises gesteigert worden. Was geschieht, wenn er einst auf 50 Dollar sinken sollte? Ein gewaltiges Defizit ist dann unvermeidlich. Die politischen Folgen lassen sich leicht ausmalen. Die russische Regierung sollte die Gunst der Stunde nutzen und darangehen, die Wirtschaft auf eine breitere Basis zu stellen. So richtig erkennbar ist das noch nicht.