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Um eine echte Währungsunion wird man nicht herumkommen

 

Noch nie waren die Leitzinsen so niedrig wie heute, noch nie haben die führenden Notenbanken so viel Geld gedruckt wie in den vergangenen Jahren. Nur ist immer noch nicht zu erkennen, wie der Funke in die Realwirtschaft überspringen soll. Was tun, wenn die Finanzpolitik in wichtigen Ländern mit aller Macht dagegenhält und auf pro-zyklische Weise versucht, staatliche Haushaltsdefizite und Schulden abzubauen, und wenn überschuldete Haushalte und unterkapitalisierte Banken nur auf Eines aus sind – durch Sparsamkeit und Vorsicht ihre Kreditwürdigkeit und Solvenz wieder herzustellen?

Bei solchem Gegenwind ist die Geldpolitik derzeit einfach überfordert. Den Unternehmen außerhalb des Finanzsektors kommt das Geld zu den Ohren heraus (da sich die Einkommensverteilung bei steigendem Output weiter zu ihren Gunsten verschiebt), aber es gibt keine Anzeichen, dass sie damit das tun, was von ihnen in einem normalen Konjunkturaufschwung erwartet werden kann – dass sie aggressiv investieren und Leute einstellen. Es ist angenehm, viel Geld zu haben, bevor sie aber beginnen, es auszugeben, müssen sie sich einigermaßen sicher sein, dass die Nachfrage nach ihren Produkten dauerhaft expandieren wird. Meist verfügen sie nach wie vor noch über beträchtliche ungenutzte Kapazitäten und sind daher nicht unter Druck, sie weiter aufzustocken.

Da beißt sich die Katze in den Schwanz: Weil die Konjunkturaussichten so trüb sind, wird nicht genügend investiert, und weil nicht genügend investiert wird, sind die Konjunkturaussichten so trüb. Gerechnet mit aktuellen Wechselkursen (statt mit Kaufkraftparitäten) scheint das reale Sozialprodukt der Welt in diesen beiden Sommerquartalen mit einer Verlaufsrate von nur zwei Prozent zuzunehmen und damit nur etwa halb so rasch wie im bisherigen mittelfristigen Trend. Die globale Outputlücke nimmt zu. Umfragen bei Haushalten und Unternehmen liefern bislang keine Belege dafür, dass sich daran demnächst etwas ändern wird. Wer will da investieren?

Besonders schlimm sieht es im Euro-Land aus – hier dürfte es im zweiten und dritten Quartal jeweils zu einem annualisierten Rückgang des realen BIP um ein Prozent gekommen sein. Für das gesamte Jahr muss mit minus 0,5 Prozent gerechnet werden, mindestens. In Italien und Spanien schrumpft die Wirtschaft zurzeit mit einer Rate von etwa 2,5 Prozent! Die Arbeitslosigkeit wird in der Währungsunion im Jahresdurchschnitt knapp 11,5 Prozent erreichen. Aber auch in den USA, in China, in Japan und in Großbritannien läuft es momentan viel schlechter als noch vor wenigen Monaten allgemein erwartet, und auch jeweils deutlich schlechter als im Trend.

Eines ist sicher: Die Geldpolitik wird im gesamten OECD-Raum, und zunehmend auch in den Schwellenländern, sehr expansiv bleiben. Inflationsgefahren gibt es angesichts der niedrigen Auslastung des globalen Produktionspotenzials nicht. Der Wettbewerb um Kunden ist so intensiv wie selten und erlaubt nur vereinzelt und vorübergehend, die Preise anzuheben. Wir nähern uns in der Zwischenzeit negativen Notenbankzinsen. Bankeinlagen bei der EZB, die über die Mindestreserven hinausgehen, werden bereits nicht mehr verzinst. Dänemarks Notenbank ist schon weiter und berechnet den Banken „Gebühren“ für das Privileg, ihr Geld sicher bei ihr anlegen zu dürfen. Auch die Renditen der zweijährigen „Schätze“ des Bundes sind inzwischen im Negativbereich angekommen. Sicherheit ist wichtiger als Rendite. Wenigstens darüber kann sich der deutsche Steuerzahler freuen.

Im Kern läuft es mit der Wirtschaft so schlecht, weil der Schuldenabbau, das sogenannte Deleveraging, auf’s Ganze gesehen eine so große Rolle spielt. Die Frage ist, wie der Prozess beschleunigt und abgeschlossen werden kann. Die klassische Art besteht darin, die Sparer (also die Gläubiger) zur Kasse zu bitten, sie anders als die Schuldner nicht voll am Zuwachs des realen Sozialprodukts teilhaben zu lassen. In den USA gab es in der Nachkriegszeit staatlich verordnete Zinsobergrenzen auf Bankeinlagen und damit de facto auch auf Staatsanleihen, die deutlich unterhalb der Zuwachsraten des nominalen Sozialprodukts lagen – das trug entscheidend dazu bei, dass die reale, kriegsbedingte Schuldenlast des Staates innerhalb von zwei Jahrzehnten auf eine quantité négligeable geschrumpft war.

Die negativen Realzinsen am Geldmarkt der Währungsunion wirken ähnlich. Termineinlagen und vor allem Spareinlagen verlieren ständig an Wert. Vermutlich wird die EZB diesen Prozess weiter vorantreiben und damit Neuland betreten. Den meisten von uns dürfte es dabei allerdings ziemlich mulmig zumute werden. Damit die Sache Erfolg hat, muss das Zinsniveau rascher zurück gehen als die Inflationsrate. In Japan hat die Strategie bisher deshalb nicht funktioniert, weil es simultan zu einer Deflation kam, die Sparer also selbst bei Nullzinsen real noch im positiven Bereich blieben. Sparen wurde de facto gefördert. So kommen die Kreditnehmer nie von ihren Schulden runter. Die Bruttoschulden des japanischen Fiskus sind in letzter Zeit weiter dramatisch gestiegen und haben inzwischen 230 Prozent des Sozialprodukts erreicht!

In den Problemländern der Währungsunion behindern sehr hohe reale Kapitalmarktzinsen den Entschuldungsprozess. Für zehnjährige Anleihen muss der Staat in Italien und Spanien am Markt rund 7 Prozent Rendite bieten, und das bei einem real sinkenden und nominal bestenfalls stagnierenden Sozialprodukt. Die Gläubiger wehren sich auf diese Weise gegen ihre Enteignung. Nicht nur das, sie zwingen die Schuldner, noch weniger auszugeben und möglichst keine neuen Schulden zu machen. Nur wenn die Troika aus EU-Kommission, EZB und Internationalem Währungsfonds überzeugt werden kann, dass sie eine solche pro-zyklische Strategie tatsächlich verfolgen, erhalten sie für eine relativ kurze Zeit subventionierte Überbrückungskredite. Die Troika ist das Einsatzkommando der deutschen Sparer, Banken und Versicherungen. Ich übertreibe nur ein bisschen! Es läuft darauf hinaus, dass die Schuldner auf ihren Schulden sitzen bleiben und immer weiter sparen müssen. Wie soll da die Konjunktur in Gang kommen?

Am einfachsten wäre es natürlich, wenn die Schulden des Staates weginflationiert werden könnten, etwa nach der Formel „sechs Prozent Nominalwachstum, zwei real plus vier Inflation, Steuereinnahmen plus acht Prozent jährlich (Progressionseffekt), Staatsausgaben ebenso wie Löhne plus vier Prozent, Zinsobergrenze drei Prozent, dazu Kapitalverkehrskontrollen“, oder Varianten davon. Die EZB gibt sich ja Mühe, aber solange sich nichts Grundlegendes ändert, wird sie keine Inflation herbeizaubern können. Das anhaltende Deleveraging hat den Transmissionsmechanismus der Geldpolitik kaputt gemacht.

Da es so nicht weitergehen kann, wird es so auch nicht weitergehen. Man muss sich vor Augen halten, dass der Realtransfer aus den Gläubigerländern in die europäische Peripherie schon vor Jahren stattgefunden hat. Der Norden hat lange Jahre unter seinen Verhältnissen gelebt und dafür Forderungen und Aktiva aller Art im Süden angesammelt. Weil die nicht so rentabel waren wie anfangs gehofft, müssen sie zu einem großen Teil abgeschrieben werden, und zwar unabhängig davon, ob die Schuldnerländer in der Währungsunion bleiben oder nicht. Die Forderungen sind nicht einklagbar, so traurig das ist.

Damit die Währungsunion zusammen bleibt und die Wirtschaft wieder in Schwung kommt, wird es nicht ohne eine Vergemeinschaftung der staatlichen Schulden und gemeinsame Staatsanleihen gehen. Wegen des geringeren Risikos käme es unmittelbar zu einem starken Rückgang der Kapitalmarktzinsen. Die Unsicherheit, die zurzeit das Investieren so sehr belastet, würde weichen.

Die Schritte in Richtung Bankenunion, die Ende vergangenen Monats in Brüssel vereinbart wurden, waren ebenfalls überfällig und richtig – die unheilvolle Korrelation zwischen Finanzsektor und Staatsschulden dürfte endlich gekappt werden. Die Zeit drängt, aber sie zwingt die 17 Euroländer auch, endlich die institutionellen Rahmenbedingungen für eine echte Währungsunion zu schaffen. Dazu gehören eine Transferunion, die Bankenunion, ein gemeinsames aber kleines Schatzamt, Subsidiarität soweit es geht, aber auch gegenseitige effektive Kontrolle der staatlichen Finanzen, Aufgabe einiger Souveränitätselemente, und letztlich eine politische Union, etwa nach dem Schweizer Modell. Es kann keine Währungsunion ohne eine politische Union geben.