Unter den zehn zentralen Themen, über die die Sozialdemokraten in den nächsten Wochen mit der Union verhandeln wollten, fehlte zunächst die Energiepolitik. Auch die Umwelt kam nicht vor, ebenso wenig wie die Zukunft des Euro und die Bankenunion. Ich dachte daher, dass sich die Parteien auf diesen Feldern wohl weitgehend einig seien und keinen Handlungsbedarf sahen. Das hat sich seit gestern geändert – es gibt neuerdings zwölf Arbeitsgruppen, und alle drei Themen sind jetzt abgedeckt. Gut so.
Bei der Energiepolitik sind die Verhandlungsführer der Umweltminister Peter Altmaier von der CDU und Hannelore Kraft, die sozialdemokratische Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen und voraussichtliche Spitzenkandidatin der SPD im Wahlkampf 2017. Sie steht der Energiewende hin zu Erneuerbaren skeptisch gegenüber, jedenfalls was die Beschleunigung des Prozesses betrifft, weil nicht nur E.on und RWE, die größten deutschen Stromversorger in ihrem Bundesland beheimatet sind, sondern weil die Industrie von NRW im Allgemeinen energieintensiver ist und eine größere Rolle spielt als in der übrigen Bundesrepublik. Sie muss an die Arbeitsplätze denken, die durch einen zu schnellen Ausstieg aus der fossilen Stromproduktion verloren gehen könnten. Die Arbeitslosenquote liegt vor allem in den Städten des Ruhrgebiets deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Sie wird daher tendenziell auf die Bremse treten. Sie dürfte bei Peter Altmaier auf keinen großen Widerstand treffen. In der kommenden großen Koalition könnte es eine Mehrheit derer geben, denen die Energiewende überhaupt nicht schmeckt: Ihnen geht alles viel zu schnell. Sie bremsen lieber als sich noch ehrgeizigere Ziele zu setzen als die alte Bundesregierung.
Vor allem die vier großen und bislang sehr profitablen Unternehmen des Stromoligopols dürften ein Interesse daran haben, den Strukturwandel zu verlangsamen. Sie – und ihre Eigentümer – haben etwas dagegen, zu einem Auslaufmodell zu degenerieren. Von Anfang 2008 bis heute ist der Aktienkurs von E.on um 73,9 Prozent, der von RWE um 73,5 Prozent eingebrochen (man beachte den Gleichlauf!). Im Sommer dieses Jahres hatten die Verluste sogar fast 80 Prozent erreicht. Seit der Bundestagswahl vom 22. September hatten die Kurse aber wieder kräftig zugelegt, sind aber nach wie vor sehr niedrig. Die Abstrafung der Grünen hat bei den Versorgern an den Börsen ein kleines Kursfeuerwerk ausgelöst. Trotzdem haben E.on und RWE in den vergangenen knapp sechs Jahren zusammen 152 Milliarden Euro an Marktwert verloren. EnBW und Vattenfall, die beiden anderen Oligopolisten, dürften kaum besser abgeschnitten haben. Für diese Unternehmen ist die Aufnahme von Eigenkapital sehr teuer geworden und sie werden nicht mehr in der Lage sein, die hohen Dividenden zu zahlen, die sie zu den Lieblingen der konservativen Anleger gemacht hatten. Die Aktien waren bislang eine Alternative zu Bundesanleihen, nur mit viel höheren Ausschüttungen. Das ist vorbei.
Wenn die Expansion der erneuerbaren Energien so weitergeht wie bisher, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die traditionellen Kraftwerke nur noch eine Rolle als Puffer spielen. Sie kommen in nicht allzu ferner Zukunft nur dann zum Einsatz, wenn weder der Wind weht noch die Sonne scheint, wenn alle Stromspeicher leer sind und kein Strom aus dem Ausland importiert werden kann. Es liegt auf der Hand, dass so etwas nur sehr selten passieren wird. Da inzwischen etwa ein Viertel des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Quellen stammt, gibt es ein Überangebot an Strom.
Ein Indiz für das Überangebot ist, dass sich Unternehmen an der Leipziger Strombörse gelegentlich per Termin eine Kilowattstunde für 5 Cent oder weniger kaufen können, ein anderes, dass sich die Abschaltung der Atomkraftwerke bei der Versorgungssicherheit überhaupt nicht bemerkbar gemacht hat. Nicht nur das: Der deutsche Großhandelspreis für Strom ist seit dem Frühjahr 2011 um etwa ein Drittel gesunken.
Die Kombination von langfristig garantierten Abnahmepreisen für die Lieferanten von „grünem“ Strom, der Verpflichtung der Netzbetreiber, diesen Strom stets vorrangig einzuspeisen sowie dem Verfall der Investitionskosten in der Photovoltaik hat die Installation von Solarpaneelen auf Hausdächern und Feldern zu einer attraktiven Geldanlage für (fast) Jedermann gemacht. Die Energiegenossenschaften sprießen nur so aus dem Boden und die Banken freuen sich über ein profitables Geschäftsfeld, vor allem die Volksbanken. Letztlich garantiert ja der Staat die Zins- und Tilgungsleistungen der Schuldner. Die Sache würde sich inzwischen auch dann rechnen, wenn die Einspeisevergütungen niedriger wären. Hauptgrund: Die Überschwemmung des Marktes mit immer billigeren Solaranlagen aus China. Da machen sich der technische Fortschritt und die sinkenden Kosten bei Massenproduktion bemerkbar. Manche nennen das Dumping, aber für die Stromverbraucher, die Installateure und die Umwelt sind das eher gute Nachrichten.
Im Economist vom 12. Oktober findet sich auf Seite 24 ein Schaubild, aus dem hervorgeht, dass die Installation von einem Kilowatt Spitzenleistung von Anfang 2007 bis zum Frühjahr 2013 von 4,7 Euro auf 1,7 Euro gesunken ist. Das ist ein Rückgang von 64 Prozent!
Bei Windrädern gibt es ein ähnliches Phänomen: Durch den Einbau neuer Generatoren, Getriebe und Rotoren lässt sich die Stromerzeugung nachhaltig steigern, ohne dass die Anzahl der Windräder groß vermehrt werden müsste. Darauf weist etwa Matthias Willenbacher hin, der Mitbegründer von Juwi, einem führenden Projektentwickler für Anlagen der Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen. Sein Buch „Mein unmoralisches Angebot an die Kanzlerin“ ist ein Playdoyer für den rapiden Ausbau der alternativen und dezentralen Stromproduktion, ohne Abstriche bei der Sicherheit der Versorgung. Es hat sich zu einem Bestseller gemausert. Willenbacher will seine Anteile am Unternehmen an Energiegenossenschaften verschenken, wenn bis 2020 der gesamte Strom des Landes aus erneuerbaren Quellen kommt. Zurzeit liegt das Ziel der Regierung bei (mindestens) 35 Prozent. Vor allem im Vergleich zu den früher üblichen Subventionen für Kohle und Atomstrom würde der Umstieg nicht übermäßig viel kosten.
Ich zitiere mal aus dem Buch: „Der Wechsel im System wird dazu führen, dass wir ohne eine nennenswerte Erhöhung der Anlagenzahl (also der Windräder) in der Lage sind, rund 60 Prozent des deutschen Strombedarfs durch Windenergie zu decken. Und das, ohne gleichzeitig bei starken Windgeschwindigkeiten die Gesamtleistung über den Bedarf hinaus deutlich zu erhöhen. Wir erhalten so etwa sechsmal so viel Strom bei nahezu gleicher Anlagenzahl. Auch im Hinblick auf das Landschaftsbild und den Naturschutz ist das eine wichtige Nachricht. Es ist genügend Potenzial und Platz da, um den entscheidenden Beitrag zur Energiewende zu leisten.“ (Seite 129)
Der vorigen Graphik aus dem Economist ist übrigens zu entnehmen, dass erneuerbare Energien 2013 mit etwa 17 Milliarden Euro subventioniert werden dürften. Das entspricht 0,62 Prozent des diesjährigen BIP. Da gibt es also noch Luft nach oben, wenn man nur wollte. Vor allem müsste man versuchen, die etablierten Produzenten und Verteiler von Strom mit ins Boot zu nehmen. Am besten sollten sie an der Energiewende mitverdienen, und zwar durch Gebühren für das Vorhalten von Reservekapazitäten und Netzen, durch Einnahmen aus der Energieberatung, durch Beteiligungen an lokalen Stromanbietern und natürlich durch den (rückläufigen) Verkauf von Strom. Auf Dauer aber würden Hausbesitzer und Bauern im Nebenerwerb die wichtigsten Anbieter von Strom werden. Jedes Oligopol hat sich einmal überlebt.
Wenn nahezu der gesamte Strom eines Tages aus erneuerbaren Quellen stammt und bei der Elektromobilität der Durchbruch gelänge, würde das Wunder für die Umwelt bewirken. Wichtig ist, dass in den benachbarten Ländern eine ähnliche Strategie verfolgt würde. Die Sache hat nämlich einen Haken: Die rückläufige Nachfrage nach Öl, Kohle oder Gas reduziert die Preise dieser Energieträger, was den Umstieg auf Erneuerbare finanziell weniger attraktiv macht. Vermutlich ist das jedoch kein kriegsentscheidender Einwand, denn auf Dauer sind Sonne und Wind nicht zu schlagen – ihre Grenzkosten liegen bei Null. Im Übrigen ist die deutsche Energiepolitik zunehmend ein Rollenmodell, das die meisten Länder der EU übernehmen dürften.
Die Energiewende ist bisher eine Erfolgsstory. Eine ganz neue Industrie ist entstanden, die sich auf den Weltmärkten ausgezeichnet schlägt und in der immer mehr moderne Arbeitsplätze entstehen. Insgesamt gab es bereits 2012 „brutto“ knapp 370.000 Arbeitsplätze im Bereich Erneuerbare Energien. Vor allem in den neuen Bundesländern ist die Branche zu einem Jobmotor geworden.
Zudem ist die neue Industrie, gemessen an den Patentanmeldungen, äußerst innovativ. Die Anzahl der Patente ist von 2005 bis 2012 von rund 400 auf 2.200 gestiegen.
Es konnte allerdings nicht ausbleiben, dass der Wettbewerb durch die selektiven finanziellen Anreize des Staates vielfach verzerrt worden ist. Die neue Regierung sollte noch einmal einen großen Schritt wagen, damit der Umstieg auf erneuerbare Energien nicht auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wird, sich dann aber langsam zurückziehen, Übergangsfristen einräumen und das Feld den marktwirtschaftlichen Kräften überlassen, allerdings innerhalb eines regulatorischen Rahmens, der die übrigen Prioritäten der Gesellschaft berücksichtigt. Warum sind ausgerechnet energieintensive Unternehmen von der Umlage befreit, warum profitieren nicht auch Haushalte von den stark gesunkenen Großhandelspreisen für Strom, warum brauchen wir gigantische Offshore-Anlagen und Stromautobahnen, wenn es dezentrale Systeme auch tun würden? Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Zurzeit ist die sogenannte Allokation der Ressourcen nicht optimal. Ich hoffe, dass Peter Altmaier und Hannelore Kraft das auch so sehen und die richtigen Weichen stellen.