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Nullzinsen: situationsgerecht, aber auf Dauer gefährlich

 

Seit Juli 2012 liegt der Leitzins der EZB unter einem Prozent, seit November 2013 bei 0,25 Prozent, und wenn es nach Herrn Draghi geht, wird er da für mindestens ein weiteres Jahr bleiben, oder sogar noch sinken. In Europa verläuft die Entwicklung damit ähnlich wie in Japan, wo die Notenbank ihre Zinsen seit 1999, also seit 15 Jahren, bei knapp über Null hält. In den USA ist das de facto seit Anfang 2009 der Fall. Real, nach Abzug der aktuellen Inflationsrate, sind die Leitzinsen in allen drei Volkswirtschaften zurzeit negativ.

Grafik: Nominale Notenbankzinsen seit 1989
Grafik: Reale Notenbankzinsen seit 1989

Nullzinsen sollen möglichst über die gesamte Laufzeit hinweg für sehr niedrige nominale, real sogar für negative Marktzinsen sorgen. Ziel ist es, den Unternehmen das Investieren wieder schmackhaft zu machen, indem die Kosten der Fremdfinanzierung deutlich unter das Niveau der erwarteten Erträge gedrückt werden. Vermutlich reicht das nicht aus für einen Aufschwung, der die gesamte Wirtschaft erfasst und der sich selbst trägt. Das Hauptproblem ist, dass viele Banken, die meisten staatlichen Schuldner und nach wie vor sehr viele Haushalte nach dem Einbruch der Vermögenspreise im Jahr 2008 und der darauffolgenden tiefen Rezession vor allem darauf aus sind, ihre Bilanzrelationen zu „normalisieren“, ihre Schuldenlast zu reduzieren. Immer noch haben wir es in weiten Teilen der Industrieländer mit Bilanzproblemen zu tun – neue Schulden zu machen, kommt nur für Akteure infrage, die finanziell bereits gesund sind. Davon gibt es nicht genug.

Da die Reparatur der Bilanzen, das sogenannte Deleveraging, in den Industrieländern offenbar nach wie vor noch nicht beendet ist, ist vorläufig nicht mit einem neuen Nachfrageboom zu rechnen, der das Produktionspotenzial besser auslasten und zu einem nachhaltigen Anstieg der Inflationsraten führen würde. Das gilt vor allem für den Euroraum – die Inflationsrate liegt mit aktuell 0,7 Prozent deutlich unter der Zielgröße von knapp unter zwei Prozent. Die EZB, aber auch die Fed und die Bank of Japan können daher bis auf Weiteres bei ihrer Nullzinspolitik bleiben.

Bei den Banken tragen niedrige Leitzinsen nicht unbedingt zur Expansion der Kreditvergabe bei, aber immerhin zu einer positiven Marge zwischen Soll- und Habenzinsen und damit zu Gewinnen und einer Stärkung des Eigenkapitals (was wiederum eine der Voraussetzungen für eine verstärkte Kreditvergabe ist); beim Staat senken sie die Zinsausgaben und helfen so, das Budgetdefizit zu vermindern (womit finanzieller Spielraum für eine expansivere Finanzpolitik zurückgewonnen wird); und bei den Haushalten vermindern sie die Zinslast und verkürzen die Zeitspanne, in der forciert gespart werden muss.

Schnelle konjunkturelle Erfolge sind aber nicht zu erwarten, wie wir spätestens seit dem Buch von Reinhart und Rogoff (This time is different) wissen. Darauf hat auch Lucrezia Reichlin von der London Business School in ihrem Vortrag bei der ECB Watchers‘ Conference am 12. März in Frankfurt hingewiesen (Monetary policy beyond maintaining price stability): Die aggregierten Verbindlichkeiten von Unternehmen, Haushalten, Finanzsektor und Staat sind in den wichtigsten Ländern Eurolands in Relation zum nominalen BIP immer noch nicht zurückgegangen – das Deleveraging ist nicht vorangekommen, trotz Nullzinsen und „unkonventioneller“ geldpolitischer Maßnahmen.

Grafik: Kredite an den private Sektor seit 1998

Je länger die Leitzinsen bei Null gehalten werden, desto mehr machen sich aber auch einige volkswirtschaftlich negative Effekte bemerkbar. Auf einen dieser Effekte hat John Taylor von der Universität Stanford bei der Frankfurter Konferenz mit dem folgenden Zitat hingewiesen: „(A)s they approach zero, lower … rates run the significant risk of perversely discouraging the lending and investment …“ Es stammt aus dem FT-Artikel Bernanke risks creating a liquidity trap (10. September 2012) von Peter R. Fisher von BlackRock. (Die New Yorker BlackRock, Inc. ist der weltgrößte Vermögensverwalter, vor der Schweizer UBS, manche würden sagen: BlackRock ist die weltgrößte Schattenbank.)

Je niedriger die Leitzinsen – und mit ihnen die Sätze am Geldmarkt – desto niedriger sind die Opportunitätskosten der Kassenhaltung: Auf Bargeld gibt es keine Zinsen, auf Termineinlagen de facto auch nicht – daher spielt es keine große Rolle, ob man Bares unter der Matratze hat oder Einlagen bei der Bank hält. Indem die Notenbanken den Marktteilnehmern versichern, dass es auf lange Zeit bei den Nullzinsen bleiben wird („forward guidance„), verstärken sie die Tendenz, den „Bargeldanteil“ bei den Anlagen zu erhöhen. Wenn sich dann auch die Renditen an den Bondmärkten der Nullmarke nähern, besteht immer weniger Anreiz, lange Festzinsanleihen zu erwerben oder – aus Sicht der Banken – langfristige Festzinskredite zu vergeben. Der Grund: Die Risikoprämie für das Halten langfristiger statt kurzfristiger Forderungen schrumpft, während das Risiko großer Kursverluste zunimmt. Kasse ist dann die plausible Anlagealternative. Jedenfalls springt das Kreditgeschäft nicht an.

Niedrige Zinsen haben zudem die folgenden Nebeneffekte:

  • sie verführen ansonsten risikoaverse Anleger wie Pensionskassen, Versicherungen und kleine Sparer zu riskanten Investitionen – sie begünstigen die Bildung von gefährlichen Blasen an den Märkten für Immobilien, Rohstoffe und Aktien;
  • die staatlichen Budgetdefizite schrumpfen wegen des geringeren Schuldendienstes rascher als erwartet – für Taylor kann dadurch die finanzpolitische Disziplin unterminiert werden, während ich das in einer Zeit unterausgelasteter Kapazitäten eher für situationsgerecht halte;
  • soweit die Zentralbanken massiv Staatsanleihen kaufen, so wie das in den USA und Japan der Fall ist, und wie es auch die EZB zu erwägen scheint, verwischen die Grenzen zwischen Geldpolitik und Finanzpolitik; Notenbanken verlieren dadurch angeblich ihre Unabhängigkeit; das ist ein beliebtes, aber empirisch nicht belegtes Argument; alle Notenbanken haben auf den Aktivseiten ihrer Bilanzen vorwiegend „risikolose“ Papiere des eigenen oder fremder Staaten sowie Forderungen gegenüber Banken (wie vor allem die EZB); warum sollen Staatspapiere von schlechterer Qualität sein als Bankenaktiva? Zudem ist nicht erwiesen, dass unabhängige Notenbanken eine bessere Geldpolitik betreiben als abhängige, jedenfalls soweit es sich um die reichen Länder handelt;
  • es kommt zu einer Umverteilung von Einkommen zulasten der Sparer und zugunsten der Schuldner, oder auch zulasten der Alten und zugunsten der Jungen – das kann nicht jedem gefallen, könnte aber ebenfalls situationsgerecht sein („financial repression„);
  • die Sanierung der Banken kommt nicht voran, wenn es ihnen leicht gemacht wird, faule Kredite zu prolongieren; bei Nullzinsen ist das nahezu schmerzlos; in Japan handelt es sich hier immer noch um ein großes Problem

Die Frage ist, was sich machen lässt. Es wäre wichtig, so rasch wie möglich zu „normalen“ Verhältnissen am Kapitalmarkt zurückzukehren, wo die kurzen Zinsen etwas mit der Zuwachsrate der Produktivität und der angestrebten Inflationsrate zu tun haben, und wo die Anleiherenditen eine angemessene Prämie für das Risiko enthalten, dass es zu Kursverlusten und unerwartet großen Kaufkraftverlusten (also Inflation) kommt. Nullzinsen sind aber kurzfristig ohne Alternative.

Die Wirtschaftspolitiker müssen gleichzeitig energischer als bisher den staatlichen Schuldnern, den Banken und Haushalten helfen, ihren Schuldendienst zu vermindern und den Rücken freizubekommen für zusätzliche Ausgaben. Die Amerikaner haben es in dieser Hinsicht bisher geschickter angestellt als die Europäer und Japaner – nicht zuletzt deswegen expandiert ihr Sozialprodukt schon wieder recht kräftig, und am Arbeitsmarkt werden zügig neue Jobs geschaffen.