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Der EZB fehlt ein Ausstiegsszenario

 

Ich frage mich, ob wir uns damit abfinden müssen, dass die Zinsen für viele Jahre auf dem jetzigen Niveau verharren werden. Das wäre so etwas wie das japanische Modell für Euro-Land. Was machen dann nur die Sparer, und müssen eines Tages auch die Versicherungen vom Steuerzahler gerettet werden, weil sie ihre Renditeversprechen nicht einhalten können?

Die Fragen müssen Ernst genommen und ein kritischer Blick auf die Politik der EZB geworfen werden. Sie hat ein neues Instrument, genannt forward guidance, mit dem sie der Öffentlichkeit entgegen dem, was früher üblich war, mitteilt, wie lange sie die Leitzinsen auf einem bestimmten Niveau halten will und unter welchen Umständen sie beabsichtigt, sie weiter zu senken oder zu erhöhen. Die eigentliche Zinspolitik hat ihren gesamten Spielraum de facto ausgeschöpft. Gegenwärtig versucht Mario Draghi glaubhaft zu machen, dass die Zinsen noch nicht ihren unteren Wendepunkt erreicht haben – am 5. Juni gibt es aller Voraussicht nach den nächsten Schritt in Richtung Null beziehungsweise, bei der Einlagefazilität, in den Minusbereich.

Anders als die Fed oder die Bank of England hat die EZB noch kein konkretes Kriterium genannt, an dem sie ihre Politik ausrichten will. Kann ja sein, dass die Inflation erst mal auf zwei Prozent steigen muss, ehe sie die Zügel anzieht. Nach dem Vorbild der amerikanischen und der britischen Notenbank könnte sie auch auf die Arbeitslosenquote schauen. Erst wenn diese, sagen wir, acht Prozent erreicht hat, käme es zu einer Wende in der Zinspolitik. Damit die forward guidance wirklich einen Einfluss auf die mittelfristigen Zinserwartungen hat, brauchen die Marktteilnehmer irgendwann einen solchen Anhaltspunkt.

Für mich ist allerdings ziemlich wahrscheinlich, dass es auf Jahre hinaus weder einen nachhaltigen Anstieg der Inflationsrate auf zwei Prozent noch einen Rückgang der Arbeitslosenquote von zurzeit 11,8 Prozent auf acht Prozent geben wird. Dafür ist die Outputlücke zu riesig und die Dynamik des Aufschwungs zu mickrig. Selbst Mario Draghi gibt inzwischen zu, dass, egal wie man misst, die Lücke zwischen aktueller und potenzieller Produktion ziemlich groß ist („pretty wide„) und sich noch lange nicht schließen wird. In den beiden vergangenen Quartalen hatte das reale BIP Euro-Lands jeweils nur um 0,2 Prozent zugenommen. Die Kapazitätsauslastung ist daher weiter gesunken. Damit ist wahrscheinlicher geworden, dass die Disinflation weitergeht; sie könnte sogar in eine ausgewachsene Deflation umschlagen.

Grafik: Arbeitslosenquote und Inflation in der Währungsunion

Mit anderen Worten, es ist damit zu rechnen, dass die EZB für eine lange Zeit bei ihrer extrem expansiven Politik bleiben wird. Die Renditen der zehnjährigen Bundesanleihen waren im Frühjahr 2012 und 2013 jeweils kurz auf 1,17 Prozent gesunken und hatten in diesem Mai auch schon einmal 1,31 Prozent erreicht – sie liegen heute bei 1,41 Prozent. Wenn die kurzen Zinsen, die im Wesentlichen von den Leitzinsen bestimmt werden, dauerhaft so niedrig bleiben wie sie sind, würde es nicht überraschen, wenn die Renditen der Zehnjährigen demnächst auf schweizerisches oder japanisches Niveau sinken würden, also auf 0,75 oder 0,59 Prozent.

Nun könnte man meinen, dass das doch toll sei: Wenn die Sparer praktisch keine Zinsen mehr bekommen, müssten sie doch das Sparen sein lassen und stattdessen mehr konsumieren und investieren, etwa Häuser bauen. Andererseits müssten die Unternehmen versuchen, sich so viel Geld zu leihen wie es nur ginge, denn es sollte doch möglich sein, damit einen Ertrag zu erwirtschaften, der sich positiv von den niedrigen Kreditzinsen unterscheidet; Drei-Monatsgeld kostet nur 0,3 Prozent! Und, bingo, schon spränge die Konjunktur an. Die EZB hat ja die Leitzinsen genau aus diesen Gründen so weit gesenkt.

In Japan hat eine solche Politik allerdings nicht so richtig funktioniert. Nach den Zahlen des Internationalen Währungsfonds betrug die jährliche Zuwachsrate des realen privaten Konsums in den 20 Jahren bis 2015 (also einschließlich der Prognosen für dieses und das kommende Jahr) nur knapp ein Prozent, mit geringen Fluktuationen um diesen Mittelwert. Bei den Investitionen gab es im Durchschnitt nur eine negative Zuwachsrate von 0,6 Prozent – und das, obwohl die Zinsen seit gefühlten ewigen Zeiten bei Null liegen. Japan hat nach 1990, als die damaligen Aktien- und Immobilienblasen geplatzt waren, trotz der extrem expansiven Geldpolitik und Nullzinsen nie mehr die frühere Wachstumsdynamik erreicht. Da der Schuldenabbau Priorität hatte, war die Geldpolitik für das Ausgabenverhalten von Haushalten und Unternehmen nur wenig relevant.

Grafik: Kurzfristige und langfristige Zinse in Japan seit 1989

Ich erinnere mich, dass in Japan lange darüber diskutiert wurde, dass dauerhaft niedrige Zinsen nichts bringen: Sparer wollen bis zum Beginn ihres Ruhestands so viel Geld auf die Seite gelegt haben, dass sie von den Zinsen etwa so gut leben können wie zu ihrer aktiven Zeit und dass darüber hinaus noch genügend zum Vererben übrig bleibt. Wenn sich die Habenzinsen halbieren, müssen sie, vereinfacht gesagt, doppelt so viel sparen wie vorher, damit sie das schaffen. Sie würden mehr konsumieren, wenn die Zinsen höher wären!

Ähnlich hat kürzlich Georg Fahrenschon argumentiert. Er ist Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands und damit deren Interessenvertreter: „Unsere Kunden können … nicht (mit dem gegenwärtigen Zinsumfeld umgehen) … Für sie bedeutet das realen Wohlstandsverlust im Rentenalter.“ Er plädiert daher für einen „Ausstieg aus der laxen Geldpolitik“. „Inzwischen gewöhnen sich die Märkte immer stärker an die Droge des billigen Geldes. Der Entzug wird von Tag zu Tag schwerer.“ Versicherungsvertreter dürften das auch so sehen.

Für höhere Zinsen zu plädieren ist Eines, aber wie sieht es damit gesamtwirtschaftlich aus? Zurzeit befinden wir uns im Euro-Land in einer Phase der sogenannten financial repression der Sparer – sie bekommen real nicht das zurück, was sie eingezahlt hatten. In Deutschland ist diese Repression besonders ausgeprägt, da die Realzinsen bei kurzen Laufzeiten negativ sind und die positiven Erträge bei den längeren gerade mal ein paar Zehntel ausmachen. In den meisten anderen Ländern des Euro-Raums sind die langen Realzinsen deutlich höher. Das nominale Sozialprodukt Euro-Lands wird in diesem Jahr vermutlich um 2,5 Prozent zulegen, real vielleicht um 1,25 Prozent. Unter dem Strich gewinnen daher die Schuldner, und es verlieren die Sparer, irgendjemand ist ja Nutznießer dieses Produktionszuwachses.

Das ist natürlich politisch gewollt, denn das Deleveraging, also der Schuldenabbau, muss vorankommen, damit der normale monetäre Transmissionsmechanismus wieder greift. Zurzeit lassen sich die Akteure nicht durch noch so niedrige Zinsen dazu verleiten, netto neue Schulden aufzunehmen und mehr Geld auszugeben – sie wollen ihre Schulden vielmehr verringern und damit kreditwürdiger werden.

Würden die Leitzinsen demnächst steigen, hätte das für Schuldner zunächst einmal den Effekt, dass ihr Schuldendienst real zunehmen würde. Sie bekämen gewissermaßen nicht mehr so viel von den Sparern geschenkt. Der Zeitraum des Deleveraging und der Ausgabenzurückhaltung würde sich dadurch verlängern. Das schließt übrigens die staatlichen Schuldner mit ein. Es käme zu erheblichen Abschreibungen auf Portefeuilles festverzinslicher Wertpapiere, wovon Banken sowie Versicherungen, Pensionskassen und andere Kapitalsammelstellen betroffen wären. Das könnte eine neue Finanzkrise auslösen, soweit die Rekapitalisierung des europäischen Finanzsektors noch nicht abgeschlossen ist. Was vielleicht hinzunehmen wäre, wenn man sicher sein könnte, dass vor allem die Gläubiger dieser Institute, nicht aber erneut die Steuerzahler zur Kasse gebeten würden (bail-in statt bail-out). Positiv wäre vermutlich, dass die Aussicht auf höhere Realzinsen potenzielle Schuldner zwingen würde, umgehend neue Kredite aufzunehmen, Ausgaben also vorzuziehen, weil man nie wieder an so billiges Geld kommen würde. Es würde den Attentismus beenden und die Konjunktur anschieben.

Unter’m Strich bleibt die Erkenntnis, dass sich die EZB mehr damit beschäftigen sollte, wie sich der Ausstieg aus der expansiven Politik bewerkstelligen und kommunizieren lässt. Auf Dauer muss sie sich Sorgen machen über die Enteignung der Sparer und die Fehlallokation des Kapitals. Vielleicht hat die besorgniserregend niedrige Zuwachsrate der Produktivität etwas damit zu tun, dass Geld gewissermaßen verschwendet, also nicht sehr produktiv eingesetzt wird. Es ist ja so viel davon da.