Wann erhöht die Fed die Zinsen? Sie liegen seit Dezember 2008 bei knapp über Null, also seit fast sechs Jahren. Das war wieder einmal das Hauptthema der Jackson Hole-Konferenz der Zentralbanker in Wyoming. Ursprünglich sollte es zur Zinswende kommen, sobald die Arbeitslosenquote auf etwa 6,5 Prozent gefallen war. Jetzt hat sie 6,2 Prozent erreicht – seit dem zyklischen Hoch von 10 Prozent Ende 2009 befindet sie sich im Abwärtstrend -, aber es gibt keine Anzeichen, dass die Löhne rascher steigen und eine neue Lohn-Preis-Spirale ins Haus steht. Die Stundenlöhne nehmen seit Jahren stetig mit Raten von rund zwei Prozent zu und haben nicht im Geringsten auf den rapiden Rückgang der Arbeitslosenquote reagiert. Real bewegen sich die Zuwachsraten in der Nachbarschaft von Null.
Weder Janet Yellen noch die meisten anderen Direktoren der Fed, noch die Mehrzahl der Analysten erwarten einen ersten Zinsschritt vor dem dritten Quartal 2015. Wenn es mit der Arbeitslosenquote so weitergeht wie bisher, wofür der starke Anstieg der Beschäftigung spricht, könnte sie bis dahin auf 5 bis 5,5 Prozent gesunken sein. Das wäre in der Nähe dessen, was zurzeit als natürliche Arbeitslosigkeit gilt; spätestens dann würden sich nach diesem Konzept Engpässe auf der Angebotsseite bemerkbar machen und die Löhne nachhaltig in die Höhe treiben – und mit ihnen die Inflationsraten.
Zurzeit aber gibt es aus Sicht der Fed keinen Handlungsbedarf, niedrige Arbeitslosenquote hin oder her. Das bevorzugte Maß für die amerikanische Geldentwertung ist der Preisindex der privaten Konsumausgaben – er lag zuletzt 1,6 Prozent über seinem Wert von vor einem Jahr. Angestrebt wird eine Inflationsrate von zwei Prozent. Auch von daher besteht kein Handlungsbedarf. Die Chefin der Fed hatte in ihrer Rede vom 22. August abgelehnt, sich auf die Arbeitslosenquote als einzigen Indikator für die Situation am Arbeitsmarkt zu verlassen. Weshalb sich von einem einzelnen Indikator zum handeln drängen lassen, wenn andere, nicht weniger wichtige Kennziffern in die entgegengesetzte Richtung weisen.
Dazu gehört vor allem die Erwerbsquote, die erfasst, welcher Prozentsatz der über 16-jährigen Amerikaner beschäftigt ist oder sich auf Jobsuche befindet. Sie ist seit ihrem Höchststand von 67,3 Prozent Anfang 2000 erst langsam, dann in der „großen Rezession“ sehr rasch auf mittlerweile nur noch 62,9 Prozent zurückgegangen.
Viele Amerikaner haben offenbar angesichts der tristen Lage am Arbeitsmarkt die Suche aufgegeben und fallen in der Statistik aus der offiziellen Arbeitslosenquote heraus. Dazu gehören diejenigen, die gezwungenermaßen nur Teilzeit arbeiten, aber gerne einen Vollzeitjob hätten (im Juli waren es 7,5 Millionen, nach 4,6 Millionen im Dezember 2007), oder solche, die keinen Job haben und auch keinen suchen, aber gerne arbeiten würden, wenn es denn ginge. Berücksichtigt man diese Gruppen ergibt sich eine Unterbeschäftigungsquote von 12,2 Prozent (die sogenannte U-6). Mit anderen Worten, die „Arbeitslosenquote“ vermittelt ein viel zu freundliches Bild.
Frau Yellen hatte eingangs ihrer Rede die Idee in den Raum geworfen, dass die niedrige Lohninflation selbst ein wichtiger Indikator für die fehlende Anspannung am Arbeitsmarkt sei. Nach den Löhnen zu urteilen sei das Arbeitsangebot im Vergleich zur Nachfrage weiterhin sehr groß, auch dies ein Zeichen dafür, dass man weit von Vollbeschäftigung und stabilitätsgefährdender Lohninflation entfernt sei. Allerdings verwendet sie dann später in der Rede viel Energie auf den Nachweis, dass es sich in Wirklichkeit nur um aufgestaute Lohndeflation (!) handele, nicht um dauerhaft niedrige Steigerungsraten: In der Rezession waren die Löhne nicht so stark gesunken wie in früheren Zeiten, dafür würden sich jetzt die Arbeitnehmer mit ihren Forderungen zurückhalten, gewissermaßen aus Dankbarkeit. Wenn der Stau eines Tages, vermutlich in der näheren Zukunft, aufgelöst sei, dürfte es zu sehr hohen Lohnsteigerungen kommen. Man solle sich nicht täuschen lassen, in Wirklichkeit warte die Lohninflation nur darauf, sich wieder Bahn zu brechen.
Es ist verwirrend. Ich habe den Eindruck, dass sie selbst nicht so genau weiß, was sie glauben soll. Die Ökonomen von Goldman Sachs um Jan Hatzius haben inzwischen laut einem Bericht auf Bloomberg „nachgewiesen“, dass es so etwas wie eine aufgestaute Lohndeflation nicht gibt – die niedrigen Zuwachsraten seien einfach ein Zeichen dafür, dass der Faktor Arbeit immer noch unterausgelastet sei.
Andere Indikatoren bestätigen für Yellen ebenfalls, dass noch keine Rede sein kann von normalen Zuständen am amerikanischen Arbeitsmarkt. Dazu gehören beispielsweise die freiwilligen Kündigungen – sie nehmen zu, wenn es leicht fällt, einen neuen Job zu finden – und die offenen Stellen: Bei beiden gab es seit dem Ende der Rezession deutliche Verbesserungen, aber sie sind noch weit von den Werten entfernt, die sie vor 2008 erreicht hatten. Der Stab des Federal Reserve Board hat kürzlich einen Indikator aus 19 Variablen entwickelt, der die einzelnen Arbeitsmarktstatistiken in einer einzigen Zahl bündelt. Danach überzeichnet der Rückgang der Arbeitslosenquote in gewisser Weise („somewhat overstates„) die Verbesserung der Situation am Arbeitsmarkt.
In der amerikanischen Diskussion über die Geldpolitik geht es jedenfalls nicht mehr darum, weitere expansive Maßnahmen zu ergreifen. Die einzige Frage ist, wann die Zinsen erhöht werden. Janet Yellen dürfte mit ihrer Hinhaltetaktik zunehmend in eine Minderheitenposition geraten. Jedenfalls unterscheidet sich die Lage am US Arbeitsmarkt fundamental von der europäischen, wo die Fortschritte bisher nur marginal waren. Das spricht zumindest für einige Quartale für eine Aufwertung des Dollar gegenüber dem Euro. Der EZB wäre es recht.