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Vorsichtiger Optimismus beim Griechenland-Deal

 

Vor, während und nach den Verhandlungen der Eurogruppe und der Europäischen Staats- und Regierungschefs um das neue Griechenlandprogramm ging großer Aufruhr durch Europa und die Welt. Die deutsche Drohung mit dem Grexit und die harten Bedingungen für neue Milliardenkredite an Athen wurden auf Twitter mit dem Hashtag „ThisIsACoup“ – „das ist ein Coup“ – kommentiert. Mit dem wolle Europa – vor allem Deutschland – die griechische Regierung aus dem Amt und Griechenland aus dem Euro jagen.

Nachdem sich aber die erste Aufregung – auch bei mir – gelegt hat, sollte man sich anschauen, was eigentlich genau beschlossen wurde und nüchtern die Vor- und Nachteile für Griechenland und den Rest der Eurozone abwägen. Und dabei zeigt sich, dass es tatsächlich Grund für einen vorsichtigen Optimismus gibt. Denn die Erklärung der Staats- und Regierungschefs enthält viele wichtige Punkte, die einiges zum Positiven in Griechenland wenden könnten.

Die öffentliche Diskussion konzentriert sich vor allem auf die Sparmaßnahmen bei der Rente und die Erhöhung der Mehrwertsteuer – also auf die Austeritätspolitik, die Griechenland durchführen muss. Klar ist, dass diese Austeritätspolitik auch weiterhin von den Griechen verlangt wird. Aber für diese Politik wollen die Staats- und Regierungschefs jetzt sehr viel mehr Gegenleistungen geben als noch vor dem Referendum der Griechen.

Das erste Zugeständnis ist die Finanzierung, die Griechenland im Gegenzug für die Reformen erhalten soll. Die war laut dem ehemaligen Finanzminister Yanis Varoufakis der wirkliche Knackpunkt zwischen Griechen und Kreditgebern. Die griechische Regierung hatte schon eingesehen, dass sie ohne Austerität keine neuen Gelder bekommen würde und selbst am 22. Juni eine lange Sparliste vorgelegt. Die Kreditgeber wollten aber im Gegenzug nur Kredite für den Finanzbedarf der nächsten fünf Monate – also bis November – geben. Spätestens im September oder Oktober hätte man sich dann wieder zusammensetzen müssen und die Verhandlungen wären von vorne losgegangen. Die Unsicherheit über die Zahlungsfähigkeit Griechenlands und damit die Zukunft der griechischen Wirtschaft hätte sich fortgesetzt. Das war der Punkt, an dem die Griechen die Verhandlungen abgebrochen und das Referendum ausgerufen haben.

Nach dem Referendum und den harten Verhandlungen dieses Wochenendes sieht die Situation schon anders aus: Jetzt geht es nicht mehr um eine Finanzierung von fünf Monaten und Kredite in Höhe von 15,5 Milliarden Euro, sondern um eine Finanzierung für drei Jahre in Höhe von 82 bis 86 Milliarden Euro. Wenn der Deal durch die verschiedenen Parlamente gehen sollte (das ist ein großes Wenn), könnten die Griechen ihre Schulden für die nächsten drei Jahre bedienen, ohne immer wieder neu mit den Geldgebern verhandeln zu müssen. Das würde die griechische Regierung erst mal von den kraftaufreibenden Verhandlungen befreien, was eine riesige Entlastung bedeuten würde. Griechenland stände nicht mehr ständig vor dem Abgrund der Zahlungsunfähigkeit – und damit auch nicht mehr dauernd in der Gefahr, dass die EZB deswegen den Banken den Liquiditätshahn zudreht.

Nun ist es unwahrscheinlich, dass die geklärte Finanzierung – wenn sie denn zustande käme – ausreicht, um die Wirtschaft zu beleben, denn die Regierung muss ja weiter ihre Ausgaben senken und die Steuersätze erhöhen. Aber auch hier hält die Vereinbarung ein paar Hoffnungsschimmer bereit. Bei guter Umsetzung des Programms könnten sogar sehr ordentliche Wachstumsimpulse für Griechenland entstehen.

Ein Wachstumsimpuls könnte von den 35 Milliarden Euro Strukturhilfen kommen, die Griechenland sowieso aus EU-Geldern zustehen. Normalerweise muss ein Staat eigenes Geld zu den Projekten zuschießen, damit sie umgesetzt werden können. Weil Griechenland aber bis jetzt all sein Geld für die Bedienung seiner Schulden verwenden musste, fehlten die Mittel für diese Ko-Finanzierung und die Strukturhilfen lagen brach. Die Staats- und Regierungschefs wollen nun, dass Europa einen Großteil der Mittel für die Ko-Finanzierung bereitstellt und die Verfahren zur Nutzung der Strukturhilfen beschleunigt werden. Dabei handelt es sich nicht um Peanuts. Wenn die Gelder in den nächsten drei Jahren abgerufen würden, ständen jedes Jahr 11,7 Milliarden Euro zur Verfügung. Die Sparvorgaben für nächstes Jahr liegen nach Berechnungen des Ökonomen Yannis Mouzakis bei 6,5 Milliarden Euro. Mit den Strukturhilfen ergäbe sich also ein Nettoimpuls für die griechische Wirtschaft von immerhin 5,3 Milliarden Euro, was 2,9 Prozent des BIP ausmacht. Über den sogenannten Multiplikator, der die Rückwirkungen von staatlichen Ausgaben auf die Wirtschaftsleistung misst, und in Griechenland geschätzt bei etwa 1,5 liegen dürfte, könnte das zu einem Wirtschaftswachstum von 4,3 Prozent führen. Die Austeritätspolitik würde durch gezielte Investitionen überkompensiert werden.

Dazu kommt, dass die Erklärung der Staats- und Regierungschefs noch mehr zur Konjunkturbelebung enthält. So soll ein Fonds eingerichtet werden, in den griechische Aktiva im Wert von 50 Milliarden Euro ausgelagert werden und der diese „Vermögenswerte durch Privatisierungen und andere Wege“ zu Geld machen soll. Ein Viertel dieses Geldes würde dann für öffentliche Investitionen bereit stehen – immerhin 12 Milliarden Euro.

Dabei könnte die Formulierung „und andere Wege“ sehr wichtig werden. Es war Yanis Varoufakis, der vorgeschlagen hatte, öffentliche Vermögenswerte zu beleihen, um daraus wachstumsfördernde Investitionen zu finanzieren. Da die Erfahrung der letzten fünf Jahre gezeigt hat, dass Privatisierungserlöse in Höhe von 50 Milliarden Euro vollkommen unrealistisch sind, könnte die Formulierung „und andere Wege“ bedeuten, dass man über die Umsetzung von Varoufakis‘ Vorschlag nachdenkt.

Würden diese 12 Milliarden Euro tatsächlich zur Verfügung stehen und in den nächsten drei Jahren zusätzlich zu den 35 Milliarden Euro Strukturhilfen verwendet werden, ergäben sich noch sehr viel höhere Wachstumsimpulse, die allein 2016 zu einem Anstieg des BIP von 7,6 Prozent führen könnten. Das würde nicht nur die soziale Lage in Griechenland verbessern, es würde auch zu mehr Steuereinnahmen führen und damit die Notwendigkeit harter Kürzungen verringern. Insgesamt heißt das, dass Griechenland endlich wieder ein wenig Luft zum Atmen bekommen könnte.

Natürlich stehen diesem optimistischen Szenario noch viele Unwägbarkeiten entgegen: Das ESM-Kreditprogramm muss von einigen Parlamenten ratifiziert werden. Finnland hat etwa schon angekündigt, das Programm nicht zu unterstützen. Weil für das ESM-Programm Einstimmigkeit notwendig ist, würde die Verweigerung nur eines Landes bedeuten, dass es keine Mittel für Griechenland gäbe, das Land seinen Schuldendienst nicht mehr leisten könnte, die Kreditgeber massive Verluste erleiden würden und Griechenland mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Euro ausscheiden müsste.

Aber auch das griechische Parlament muss das Programm absegnen. Wenn es Premier Tsipras nicht gelingt, eine Mehrheit für das Programm zu beschaffen, könnte es Neuwahlen geben – was die Unsicherheit wieder massiv erhöhen würde. Wichtig ist auch das Verhalten der Europäischen Zentralbank: Sie stellt den griechischen Banken keine neue Liquidität mehr zur Verfügung solange die Regierung kein Kreditprogramm unterschrieben hat. Wenn zu viel Zeit bis zur Annahme des Programms verstreicht, sind die griechischen Banken pleite und der Grexit stände wieder vor der Tür.

Aber auch wenn alles schnell und gut geht, liegt viel an der konkreten Umsetzung des Programms: Wie genau der 50-Milliarden-Fonds umgesetzt werden soll, ist noch vollkommen unklar. Wenn Troika und Griechen nicht schnell und kreativ mit der Fondsidee umgehen, ist es wenig wahrscheinlich, dass von dort in nächster Zeit hohe Investitionsmittel kommen.

Es gibt also viele Fallstricke. Aber wenn sich jetzt alle zusammenraufen und die positiven Aspekte der Vereinbarung nutzen, könnte die griechische Wirtschaft im nächsten Jahr endlich ihre lange Depression verlassen. Dann würden auch viele Verwundungen der letzten Wochen vergessen sein.

Update vom 16.07.2015: Nach Informationen, die die EU-Kommission gestern veröffentlicht hat, ist ein Großteil der EU-Gelder, die Griechenland zwischen 2007 und 2013 zur Verfügung standen, anders als in meinem Blog-Beitrag unterstellt, doch abgerufen worden. Das waren insgesamt 38,4 Mrd. Euro. Bei den 35 Mrd. Euro, die für den Zeitraum 2014 bis 2020 bereit stehen, handelt es sich demnach nicht um einen zusätzlichen Wachstumsimpuls. Die negativen Effekte durch höhere Steuern und Ausgabenkürzungen werden durch die EU-Strukturhilfen von daher kaum kompensiert werden. Mein vorsichtiger Optimismus wird noch sehr viel vorsichtiger.