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Können wir uns Grenzen leisten?

 

Der Streit um die Flüchtlingspolitik geht in die nächste Runde: In Europa wird über eine Rückkehr zu nationalen Grenzkontrollen diskutiert. Schon warnen die Wirtschaftsverbände vor dramatischen Konsequenzen für den Wohlstand, wenn sich vor den Grenzen lange Schlangen bilden und die Wertschöpfungsketten unterbrochen werden.

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verweist darauf, dass die Wartezeiten für Lkw mit 55 Euro je Stunde zu Buche schlagen und Guntram Wolff vom Bruegel-Institut rechnet mit zweistelligen Milliardenkosten. Parlamentspräsident Martin Schulz ist sich sicher, dass „so manche Produktion zum Erliegen“ kommt.

Das Interessante an solchen Aussagen ist, dass sie bislang kaum durch Studien gedeckt sind. Zwar ist es ein Grundaxiom der Ökonomie, dass offene Grenzen den Wohlstand fördern, weil das für eine effizientere Verwendung knapper Ressourcen sorgt. Nun hat Noah Smith aber auf Basis einer neuen Studie richtigerweise darauf hingewiesen, dass der freie Handel für bestimmte Gruppen auch mit dauerhaften und erheblichen Einkommensverlusten einhergehen kann.

Workers in these industries and regions don’t go on to better jobs, or even similar jobs in different industries. Instead, they shuffle from low-paid job to low-paid job, never recovering the prosperity they had before Chinese competition hit.

Und was den europäischen Binnenmarkt angeht, so haben sich die euphorischen Studien der Kommission zu den Wohlstandseffekten als viel zu optimistisch herausgestellt. Jüngere Studien beziffern die positiven Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung auf rund 2 Prozent, die Kommission hatte in ihrem berühmten Cecchini-Bericht im Jahr 1988 noch 7 Prozent in Aussicht gestellt. Der wichtigste Treiber des Wohlstands ist das Wachstum der Produktivität – und das Grenzregime ist nur ein möglicher Einflussfaktor auf diese Größe.

Wer wie die Bundesregierung argumentiert, Europa verdanke seinen Wohlstand dem Binnenmarkt, der kann sich jedenfalls nicht auf Fakten berufen. In den fünfziger und sechziger Jahren wurde an den Grenzen noch streng kontrolliert, trotzdem war das für die gesamte westliche Welt eine Zeit mit hohen und stabilen Wachstumsraten.

Ist das ein Plädoyer dafür, die Grenzen zu schließen? Nein. Aber ein Plädoyer für eine ehrliche Debatte. Denn umgekehrt lässt sich ökonomisch auch nicht belegen, dass eine Schließung der Grenzen eine wirtschaftliche Katastrophe wäre – zumal es Möglichkeiten gibt, die Grenzen für Menschen zu schließen und Güter weiter vergleichsweise frei zirkulieren zu lassen. Unternehmen passen sich an und auch die Horrorszenarien über das Ende der Globalisierung und einen strukturellen Rückgang der Wachstumschancen nach dem 11. September haben sich nicht bewahrheitet.

Es gibt gute Gründe für offene Grenzen – gerade in Europa, wo die Rücknahme von Schengen neue Zweifel an der europäischen Integration aufkommen lassen würde. Doch wer offene Grenzen erhalten will, der muss seinen Standpunkt auch politisch untermauern und kann sich nur bedingt auf den ökonomischen Sachzwang berufen.