Gestern war die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen auf ein neues Rekordtief von 0,18 Prozent gesunken, heute liegt sie bei 0,22 Prozent. Bis zu Laufzeiten von acht Jahren bezahlen die Anleger den Schuldner „Bund“ inzwischen dafür, dass sie seine Verbindlichkeiten kaufen, ihm also Geld schenken dürfen. Sie würden zwar gerne Zinsen bekommen, aber wenn es nicht geht, ist es auch gut. Sicherheit hat ihren Preis. Nicht mehr lange, so scheint es, bis Deutschland nach der Schweiz und Japan das dritte Land sein wird, in dem lang laufende Staatsanleihen eine negative Rendite haben und damit aus Anlegersicht ein Zuschussgeschäft sind.
Verblüffend ist, dass es zur selben Zeit im Gebälk des Euros hörbar kracht, ablesbar an den steigenden Renditen (also fallenden Kursen) italienischer, spanischer, portugiesischer und vor allem griechischer Bonds. Nimmt damit nicht das Risiko für den deutschen Staat zu, der jetzt schon für diverse Rettungsprogramme finanzielle Garantien übernommen hat? Sollten Anleger nicht daher besser die Finger von deutschen Anleihen lassen? Offenbar gibt es aber kaum ein anderes Land, das sich so robuster Gesundheit erfreut wie unseres, wegen der schwarzen Null und so, mit einem Überschuss in der Leistungsbilanz von acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts und Ersparnissen, wie sonst in keinem anderen großen Land. Heinrich Heines Eindruck, dass Deutschland ein kerngesundes Land sei, mit seinen Eichen, seinen Linden, ist auch fast 200 Jahre später noch der Eindruck, den die Anleger haben.
Ebenso ist nicht unmittelbar einleuchtend, warum der Wechselkurs des Euro in den vergangenen Wochen so stark gestiegen ist: Ende November lag er bei 1,0560 Dollar, heute dagegen bei 1,1240. Dabei verfolgt die EZB nach wie vor einen expansiveren Kurs als die US-Notenbank und versucht den Euro zu schwächen. Warum gelingt ihr das nicht?
Entscheidend ist wohl, dass die Fed dabei ist zurückzurudern. Nachdem sie die Leitzinsen im Dezember von nahe Null um 25 Basispunkte auf 0,38 Prozent angehoben hatte und dabei durchblicken ließ, dass 2016 vier weitere Erhöhungen folgen würden, ist das auf einmal kein Thema mehr, obwohl es am Arbeitsmarkt sehr gut läuft – die Beschäftigung nimmt weiterhin mit Raten von rund zwei Prozent zu und damit doppelt so rasch wie im Euroland. Von daher könnte die Fed die Zügel weiter anziehen.
Es gibt aber bisher keine Anzeichen, dass die amerikanische Inflation auf die günstige Lage am Arbeitsmarkt reagiert und endlich anspringt. Im vergangenen halben Jahr betrug die sogenannte Kerninflationsrate des Konsums stabil 1,2 Prozent (annualisiert) und lag damit weit unterhalb des Notenbankziels. Am Markt glaubt kaum noch jemand, dass sich daran demnächst etwas ändern wird. Aus den inflationsgeschützten US-Anleihen lässt sich ablesen, dass die für die kommenden fünf Jahre erwartete durchschnittliche Inflationsrate bei nur 0,95 Prozent liegt.
Normalerweise würden die Zinsen bei langen Laufzeiten steigen, wenn die Fed, wie Mitte Dezember geschehen, einen Kurswechsel einläutet. Es wäre ja ein Zeichen dafür, dass sie mit steigenden Inflationsraten rechnet. Stattdessen sind die Renditen der zehnjährigen Treasuries von damals 2,3 auf heute 1,69 Prozent gesunken, was als ein Zeichen dafür interpretiert werden kann, dass die Anleger mit erneut sinkenden statt mit steigenden Inflationsraten rechnen, vielleicht sogar mit einer Rezession.
Gleichzeitig signalisieren die Futures-Kontrakte der Fed Funds Rate, also des Leitzinses, dass sich die amerikanische Notenbank in diesem Jahr nicht mehr bewegen wird. Zudem haben die Marktteilnehmer ihre Wachstumsprognosen für dieses Jahr in den vergangenen Wochen von ursprünglich drei Prozent auf durchschnittlich 2,2 Prozent gesenkt.
Die Fed hat praktisch keinen Spielraum mehr für eine restriktivere Politik. Damit entfällt das wichtigste Argument für einen festen Dollar.
Nicht nur der amerikanischen Notenbank, auch der EZB, der Bank von Japan und der People’s Bank of China macht es zudem Sorge, dass die Weltwirtschaft ins Schlingern geraten ist. Sie sollte daher möglichst nicht durch höhere Zinsen oder andere restriktive Maßnahmen zusätzlich destabilisiert werden. Aktienkurse steigen, Aktienkurse fallen. Das Gleiche gilt für die Preise von Erdöl und anderen Rohstoffen. Der Einbruch der Märkte muss nicht, kann aber ein Indiz dafür sein, dass sich eine neue globale Finanzkrise anbahnt. Oft haben sich die Signale des Marktes als verfrüht oder falsch erwiesen, aber seine Prognosequalität ist allesamt besser als die „offizieller“ Prognostiker wie IWF, OECD, EU-Kommission oder Forschungsinstitute. Die haben bisher noch nie eine Rezession rechtzeitig vorhergesagt.
Ausgangspunkt sind diesmal die verschiedenen schuldenfinanzierten Vermögensblasen in China, die dabei sind zu platzen, mit der Folge, dass sich das Ausgabenwachstum dort stark abgekühlt hat. Jahrelang wurde zu viel, und zu wenig gewinnorientiert, investiert, was sich jetzt rächt. Hinzu kommt der politisch gewollte Strukturwandel in Richtung privatem Konsum und Dienstleistungen, der offenbar mit erheblichen Reibungsverlusten einhergeht, also einer Abschwächung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. China ist gemessen in Kaufkraftparitäten die größte Volkswirtschaft, es war bislang der wichtigste Wachstumsmotor der Weltwirtschaft und der bei weitem größte Importeur von Rohstoffen.
Insgesamt ist es durch die Probleme Chinas inzwischen in der ganzen Welt zu einer Reihe von Dominoeffekten gekommen: In den rohstoffproduzierenden Ländern sind die Realeinkommen eingebrochen, ebenso wie die Wechselkurse ihrer Währungen, die Investitionen der Rohstoffmultis haben sich halbiert, die Kredite der internationalen Banken an die Rohstoffproduzenten haben ebenso wie deren Bonds stark an Wert verloren, die Banken selbst sind unter Druck geraten (was sich daran zeigt, dass der Marktwert ihrer Aktien oft nur noch bei der Hälfte ihres Buchwerts liegt), die Kapitalflucht hat deutlich zugenommen, die Risikoprämien und der Goldpreis sind gestiegen und weltweit sind die Aktienmärkte im freien Fall.
Die positiven Effekte der billigeren Rohstoffe und niedrigeren Zinsen beschränken sich im Wesentlichen auf Deutschland und einige wenige andere Länder, die nicht mit Schuldenproblemen zu kämpfen haben, der größere Teil der Welt sieht sich dagegen einem Nachfrageschock ausgesetzt. Selbst die USA müssen angesichts der niedrigen Ölpreise damit zurechtkommen, dass die Milliarden an Dollar, die in die Anlagen für Schieferöl gesteckt worden waren, abgeschrieben werden müssen. Es riecht nach neuer globaler Rezession und Deflation.
Vielleicht sehe ich zu schwarz. Vielleicht erleben wir nur den Übergang von einem Wirtschaftsmodell zu einem neuen, zu einer neuen Struktur von Angebot und Nachfrage, zu einer Vernichtung von Teilen des Kapitalstocks, wie es immer wieder einmal vorkommt. Jedenfalls halte ich es aber für verfrüht, schon jetzt auf eine Rückkehr der Inflation zu setzen, oder auf steigende Kurse von Bank-, Rohstoff- oder Exportwerten, oder auf eine Trendwende in der Geldpolitik. Vermutlich wird die Finanzpolitik der Tendenz nach weltweit expansiver ausgerichtet werden als wir uns das bisher vorgestellt hatten – wie sonst lassen sich die Outputlücken, die jetzt entstehen, einigermaßen füllen?