Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Niemand braucht TTIP

 

Das Letzte, was wir uns in diesen Tagen wünschen würden, ist ein Geheimvertrag zwischen der EU und den USA, der zum Ziel hat, den Handel zwischen den beiden Regionen zu intensivieren. Mindestens zwei Gründe sprechen dafür, die Verhandlungen entweder auf Eis zu legen oder ganz abzubrechen.

Erstens sind überall die Euroskeptiker im Aufwind. Sie wehren sich dagegen, dass die Nationalstaaten immer mehr Kompetenzen an eine europäische Superinstanz abgeben. Da geht es nicht an, dass in Brüssel von der Kommission ohne jegliche öffentliche Diskussion über etwas verhandelt wird, was die Lebensqualität der Menschen potenziell stark beeinträchtigen könnte. Wo ist der Politiker, der überzeugend erklären kann, warum wir TTIP brauchen?

Zweitens ist nicht sicher, ob ein noch größerer einheitlicher Markt wirklich im allgemeinen Interesse ist. Nicht nur die unmittelbar Betroffenen wie die europäischen Stahlarbeiter oder die Winzer in Südfrankreich wehren sich gegen eine weitere Öffnung der Märkte, auch in der Wissenschaft wird zunehmend bezweifelt, ob Freihandel etwas uneingeschränkt Gutes ist. Nicht immer entschädigen nämlich die Gewinner die Verlierer ausreichend für deren Verluste. Wenn die Keule der Globalisierung einmal eine Region getroffen hat, dauert es oft mehr als eine Generation, bis sie sich davon erholt hat. Das Ruhrgebiet, die Chemieindustrie von Sachsen-Anhalt oder die Schuhproduzenten der Pfalz belegen diese These. Die Menschen sind nicht so mobil, wie das in der Außenhandelstheorie unterstellt wird. Wer ein Haus hat, das noch abzubezahlen ist und dessen Wert durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit gefallen ist, oder beispielsweise einen voll berufstätigen Ehepartner hat, ist manchmal nicht in der Lage, den Wohnort zu verlassen, also dorthin zu ziehen, wo es mehr Jobs gibt.

Eine intensivere internationale Arbeitsteilung bedeutet außerdem noch mehr Transporte, eine noch größere Belastung der Umwelt, das Verschwinden vieler regionaler Anbieter, die McDonaldisierung der Innenstädte und den Verlust vieler beruflicher Fähigkeiten. Zwar mag die Produktivität durch einen vergrößerten Markt etwas stärker zunehmen als zuvor, die Vielfalt des Lebens aber geht verloren. Vor allem für wohlhabendere Gesellschaften gilt das, was wohl der Grund dafür ist, dass der Widerstand gegen TTIP besonders in Deutschland so stark ist.

Zudem scheint es mit den Produktivitätsgewinnen nicht so weit her zu sein. Wenn ich der EU-Kommission glauben darf, erhöht sich das reale BIP Europas innerhalb von zehn Jahren gerade einmal um 0,5 Prozent, was nicht über die normale statistische Fehlermarge bei der Messung des BIP hinausgeht. Wozu also der ganze Aufwand? Der Verdacht liegt nahe, dass TTIP vor allem im Interesse der (amerikanischen) Landwirtschaft und mancher multinationaler Unternehmen ist, nicht aber im Interesse der Bürger. Warum sonst wird ihnen verheimlicht, was da im Einzelnen verhandelt wird?

Bei TTIP geht es weniger um ein weiteres Absenken der Zölle, denn die sind meist schon nahe null, sondern um den Abbau nicht-tarifärer Handelsschranken, insbesondere die gegenseitige Anerkennung von Produktzulassungen. Chlorhühnchen, hormonbehandeltes Fleisch, genmanipuliertes Saatgut, Abgaswerte von Autos oder Medikamente sind hier die Stichworte. Die europäische Seite möchte zudem beispielsweise im Luftverkehr den freien Zugang zum amerikanischen Binnenmarkt durchsetzen, oder sich an Ausschreibungen staatlicher Stellen beteiligen dürfen. So wie es aussieht, sind Kompromisse vielfach nicht möglich. Es ist allerdings nicht einzusehen, warum die Standards in beiden Regionen gleich sein sollen – wenn dadurch etwas weniger Handel getrieben wird, so sei’s drum.

Unser Lebensstandard lässt sich vor allem durch Maßnahmen steigern, die die Produktivität auf einen steileren Wachstumspfad hieven. Dazu gehören eine bessere Infrastruktur, ein höheres Bildungsniveau, die Bekämpfung von Monopolrenten und eine gleichmäßigere Verteilung von Einkommen und Vermögen. Die Vorteile, die eine Vergrößerung des einheitlichen Markts von derzeit 510 Millionen (in der EU) auf 840 Millionen Verbraucher (nach der Ratifizierung von TTIP) mit sich bringt, sind gegenüber dem ungenutzten Wachstumspotenzial einer solchen Strategie eher marginal.

Wird es zu einem Handelskrieg kommen, wenn die EU TTIP scheitern lässt? Ich halte das für ganz unwahrscheinlich. Die EU ist für die USA mit großem Abstand nach wie vor der wichtigste Handelspartner, sodass es einem massiven Schock gleichkäme, wenn die Arbeitsteilung und die finanzielle Verflechtung zwischen den beiden Wirtschaftsräumen beendet oder auch nur reduziert würde. Das ist einfach nicht möglich – selbst Donald Trump wird das sehr schnell einsehen. Mehr als Drohungen gegen einzelne Branchen oder Unternehmen wird es nicht geben, da die Exporte und Importe von Waren und Dienstleistungen in Relation zum nominalen BIP der USA inzwischen 28 Prozent erreicht haben. Ein Fünftel davon entfällt auf den Handel mit der EU. Hinzu kommen die gewaltigen Direktinvestitionen in der EU. Andererseits ist es nur eine Frage von wenigen Jahren, bis China für Europa der wichtigste Handelspartner ist. Die Brüsseler Verhandler haben insgesamt ein besseres Blatt in der Hand, als sie das vielleicht selbst glauben – sie müssen keine Konzessionen machen, die den Interessen der europäischen Verbraucher zuwiderlaufen.

Tabelle 10 wichtigste Handelspartner der EU in 2015

Vollkommen inakzeptabel ist das Drängen der Amerikaner auf Schiedsgerichte, auf eine Paralleljustiz, die es Unternehmen erlaubt, Staaten zu verklagen, wenn die etwas tun, was den Marktwert einer US-Investition vermindert. Schärfere Umweltauflagen, Gesetze, die die Sozialabgaben erhöhen, Bilanzierungsvorschriften und womöglich sogar bestimmte Steueränderungen wären vor solchen nicht-staatlichen Instanzen anfechtbar. Das Motiv „Investitionsschutz“ mag in Ländern wie China, Russland oder Indien relevant sein und Schiedsgerichte außerhalb der oft nicht unabhängigen Justiz als eine naheliegende Alternative erscheinen lassen, ist aber im europäischen Kontext nicht relevant und geradezu eine Beleidigung unserer demokratisch verfassten Staaten mit ihrer funktionierenden Gewaltenteilung (Polen und Ungarn sind hier leider unrühmliche Ausnahmen). Dieser Teil der TTIP-Verhandlungen sollte ersatzlos gestrichen werden.