Am 23. April, in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, haben 41 Prozent für Le Pen und Mélenchon gestimmt – und damit für Programme, die die Aufgabe des Euro und den „Frexit“ enthalten. Zwar dürfte der pro-europäische Macron an diesem Sonntag das Rennen für sich entscheiden, wenn es ihm aber nicht gelingt, die französische Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen und die Abgehängten in den Mainstream zu integrieren, würde ein Wahlsieg der extremen Rechten im Jahr 2022 niemanden mehr überraschen. Es wäre das Ende des europäischen Projekts.
Es ist daher in unserem politischen und wirtschaftlichen Interesse, dass Macron Erfolg hat. Als größter Volkswirtschaft Europas, mit soliden Finanzen, einem dynamischen Arbeitsmarkt und als bei weitem wichtigsten Partner Frankreichs kommt unserem Land eine Schlüsselrolle zu. In Berlin wird das leider nicht so gesehen. Da wird darauf gepocht, dass der Vertrag von Maastricht buchstabengetreu eingehalten wird. Wenig wird darüber nachgedacht, wie die Europäische Union der Völker vorangebracht werden kann, ob das überhaupt noch gewollt ist. Von Solidarität und Verständnis für unser Nachbarland ist wenig zu spüren. Wäre der beginnende Wahlkampf nicht eine gute Gelegenheit, das zu ändern? Macron hat das Thema „Europa“ Stimmen eingebracht, Martin Schulz setzt ebenfalls darauf, aber was ist mit Angela Merkel?
Klar ist natürlich, dass Frankreich erst einmal selbst gefordert ist. Als Außenstehendem fallen mir sofort einige Bereiche ein, wo es dringenden Handlungsbedarf gibt: Warum sehen so viele Schulen aus wie Kasernen? Kaum ein Normalbürger kann Englisch, von Deutsch ganz zu schweigen. Warum gibt es keine richtige duale Berufsausbildung? Müssen unbedingt alle Jugendlichen das Baccalauréat machen? Wie sieht der Plan zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit aus? Ist den Politikern nicht klar, dass sie drauf und dran sind, die Zukunft des Landes zu verspielen, wenn da nicht langsam etwas passiert?
Und es geht weiter: Wieso fehlt es an international wettbewerbsfähigen mittelständischen Unternehmen? Warum werden die großen Unternehmen so oft von Absolventen der Verwaltungshochschule ENA geleitet statt von Ingenieuren? Und warum wechseln diese Leute ständig zwischen Politik und Wirtschaft? Wieso wird das Land nicht stärker dezentralisiert, wieso ist Paris immer noch die einzige Stadt, die politisch und wirtschaftlich zählt, während alles andere als Provinz gilt? Warum gelingt es nicht, die Maghrebiner und Schwarzafrikaner besser in die Gesellschaft zu integrieren? Wieso leben sie meist in gesonderten Stadtteilen?
Ich will nicht missverstanden werden: Vieles ist in Frankreich toll und sogar vorbildlich. Es ist immer noch eines der reichsten und demokratischsten Länder, mit einer modernen Infrastruktur, einem erschwinglichen Gesundheitswesen, unabhängigen Medien und einem hohen Produktivitätsniveau, um nur einige Aspekte zu nennen, es hat aber seit der Jahrtausendwende irgendwie die Orientierung verloren. Früher ließ sich durch Abwertungen des Franc verlorenes Terrain auf den Weltmärkten zurückerobern, was jetzt nicht mehr möglich ist. Die Defizite in der Leistungsbilanz nehmen ständig zu, was in Frankreich nicht ganz zu Unrecht als ein Zeichen für eine nachlassende Wettbewerbsfähigkeit angesehen wird. Und dann immer diese unvorteilhaften Vergleiche mit der Bundesrepublik!
Die Liste der Baustellen, die den neuen Präsidenten erwarten, ist lang. Es würde helfen, wenn sich die notwendigen Reformen kombinieren ließen mit einem rascheren Wirtschaftswachstum. Da kommt für Macron die europäische Komponente ins Spiel. Wolfgang Münchau hat vor einigen Tagen in der Financial Times geschrieben, dass sich die inländische Reformagenda wegen der vermutlich im Parlament fehlenden Mehrheit nicht in gewünschter Weise umsetzen lassen dürfte und Macron daher auf einen Ausgleich durch eine institutionelle Weiterentwicklung Eurolands setzt. Dazu gehören eine gemeinsame Finanzpolitik und ein gemeinsames Finanzministerium, europäische Anleihen und die Vollendung der Bankenunion. Münchau befürchtet, dass Berlin auf solche Vorschläge wie gewohnt mit „nein, nein, nein und nein“ reagieren könnte. Dann erginge es Macron nicht anders als Hollande heute, und die Stagnation setzte sich fort. Die Zahl der Unzufriedenen stiege weiter.
Es ist höchste Zeit, dass seitens der deutschen Regierung einmal klar gesagt wird, wie sich die Eurozone weiterentwickeln sollte – was ist wann und unter welchen Bedingungen machbar? Wie die Wahlen in Österreich, in den Niederlanden und jetzt in Frankreich gezeigt haben, lassen sich mit europäischen Themen Stimmen gewinnen. Bei der Bankenunion geht es nur noch um wenige Schritte; sie betreffen die Einlagensicherung, die bessere finanzielle Ausstattung des ESM, des europäischen Rettungsschirms, und die strikte Trennung von Staat und Bankensektor.
Bei den anderen Themen ist realistischerweise in der nahen Zukunft nicht viel zu machen, aber warum sollte nicht grundsätzlich ein Entgegenkommen signalisiert werden? Inzwischen müsste allen Beteiligten doch klar sein, dass eine Währungsunion ohne eine gemeinsame Finanzpolitik nicht von Dauer sein kann.
Es geht zunächst um den Einstieg, um kleine Volumina und einen langen Zeithorizont, damit die skeptischen deutschen und potenziellen anderen Nettogläubiger und Nettozahler nicht fürchten müssen, es gehe ihnen wieder einmal ans Portemonnaie, ohne dass sie im Gegenzug etwas bekommen (zum Beispiel bei der Flüchtlingsfrage). Alle weiteren Fortschritte müssen an vernünftige Bedingungen geknüpft werden. Wenn der Euro überleben soll, muss es am Ende einen Bundesstaat geben. Dabei kann das Zentrum, so wie in der Schweiz, durchaus im Vergleich zu den Mitgliedsstaaten klein sein. Das Subsidiaritätsprinzip könnte strikter angewendet werden als es heute in der EU der Fall ist.
Das jedenfalls wäre der Beitrag, durch den der Euro wieder eine Perspektive bekäme. Er würde den Unternehmen signalisieren, dass sie sich um die Zukunft der Währung keine Sorgen zu machen brauchen. Kaum etwas anderes würde das Wirtschaftswachstum in Frankreich – und in Deutschland – so stimulieren wie ein solcher Plan.