Exklusiv aus dem Wirtschaftsdienst: Die Demokratie scheint in Gefahr. Populisten und Autokraten genießen wachsenden Zuspruch und bieten vermeintlich einfache Lösungen für soziale Probleme an. Was können die Sozialwissenschaften zur Analyse dieser Probleme beitragen? Welche Empfehlungen können sie geben? Sind die von der Öffentlichkeit als zentral empfundenen Probleme überhaupt faktisch die wesentlichen? Einige Wissenschaftler sehen eine Entscheidung über Prioritäten als normativ und damit außerhalb ihres Fachgebiets liegend an. Die Teilnehmer am Zeitgespräch in der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsdienst können sich dennoch auf wesentliche Problembereiche einigen – die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung und eine drohende Altersarmut.
Dass die Bevölkerung eine gestiegene soziale Ungleichheit wahrnimmt, bestätigt auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, der eine wachsende soziale Spaltung und gesellschaftliche Konflikte feststellt. Anstatt darauf mit Populismus, Protektionismus und Paralyse zu reagieren, sollten die politisch Verantwortlichen das Versprechen einer „wahren“ Sozialen Marktwirtschaft einlösen und die soziale Mobilität in Deutschland sowie die primäre Einkommensverteilung verbessern: „Ziel muss es […] sein, den Menschen häufiger als bisher gute Bildungschancen zu bieten, sie erfolgreich in den Arbeitsmarkt zu bringen, eine Teilhabe am technologischen Wandel und der Globalisierung zu ermöglichen und sie sozial besser abzusichern, damit sie Chancen genauso wahrnehmen können wie Verantwortung für sich selbst.“
Welche Probleme konkret angepackt werden sollen und wie, erläutert Bert Rürup, Präsident des Handelsblatt Research Institute. Auch er vertritt die Auffassung, dass Ökonomen nicht entscheiden können, was die drängendsten Probleme sind – dies sei der Politik vorbehalten. Er befasst sich mit seinen Spezialgebieten, der Renten- und Steuerpolitik. Die Armutsfestigkeit des Rentensystems ist seiner Auffassung nach – in einer durch Digitalisierung und „Entbetrieblichung“ geprägten Arbeitswelt – dann am besten gewährleistet, wenn das Äquivalenzsystem relativiert wird und die staatlichen Zuschüsse einen festen Prozentsatz an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten. Da im deutschen Steuer- und Abgabensystem vor allem die Sozialabgaben die unteren Einkommensschichten unverhältnismäßig stark belasten, müsse hier angesetzt werden. Rürup findet einen Freibetrag bei den Sozialabgaben überlegenswert und bei den Steuern Tarifkorrekturen zur Beseitigung der kalten Progression erforderlich.
Jochen Pimpertz vom Institut der deutschen Wirtschaft sieht die Ökonomie mit der Fragestellung überfordert, da bei einer Entscheidung für die drängendsten Probleme im Hinblick auf die der sozialen Lage nicht allein das Effizienz- oder das Allokationskriterium relevant ist. Der Wirtschaftswissenschaftler könne aber dazu beitragen Problemfelder einzugrenzen und Fakten zu prüfen: So kann er untersuchen, ob die Einkommensverteilung sich verändert hat oder wie Altersarmut gemessen werden sollte. Auch kann er darauf hinweisen, welche Art von Solidarität in den Sozialversicherungssystemen geleistet wird, und durch welche Instrumente welche Gruppen stärker oder weniger belastet werden. Sein Beitrag beantwortet die Frage „was Ökonomen in Zeiten ‚postfaktischer‘ Argumentationsmuster zur gesellschaftlichen Debatte beitragen können – nämlich Fakten zur Beschreibung und Einordnung sozialer Probleme, ökonomische Bewertungen zur Auswahl sozialpolitischer Instrumente sowie eine spezifische Perspektive bei der Diskussion gesellschaftlicher Werte.“
Einen ganz anderen Blick wirft der Politikwissenschaftler der Uni Köln Christoph Butterwegge auf die soziale Lage: „Im digitalen Finanzmarktkapitalismus der Zukunft bestehen die Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit fort, der nicht darauf beschränkte Antagonismus von Arm und Reich verschärft sich allerdings erheblich, tritt noch deutlicher als in früheren Geschichtsperioden zutage und überlagert ihn.“ Und die Politik hat diese Lage durch Fehlentscheidungen verschlimmert: Durch die Teilprivatisierung der Rente wurde der Sozialstaat und die gesetzliche Rentenversicherung demontiert, durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes ist der Niedriglohnsektor gewachsen, durch die Steuerreform wurden Kapitaleinkommen begünstigt, zudem belastete die Anhebung der Mehrwertsteuer untere Einkommen überproportional. Diese Politik muss seiner Auffassung nach zurückgedreht werden, will man der zunehmenden Zerrissenheit und Polarisierung der Gesellschaft entgegen wirken – was auch dazu beiträgt populistischen Tendenzen den Boden zu entziehen.
Die politischen Systeme im Westen entwickeln sich seit der Jahrtausendwende „vielerorts in eine autokratische, anti-rechtsstaatliche, die Demokratie rückbauende Richtung“, beobachtet eine Autorengruppe um den Bremer Sozialwissenschaftler Stephan Leibfried. Die gesellschaftlichen Ursprünge dafür sehen sie vor allem in lange vernachlässigten sozialen Verwerfungen, die von Land zu Land in unterschiedlichen Ausprägungen auftreten. Die von den Populisten propagierten Lösungen folgen dabei immer einem ähnlichen Muster: Protektionismus, die Abschottung gegenüber Migranten und der Rückzug auf den Nationalstaat. „Offenbar setzt die westliche Demokratie eine wirtschaftlich halbwegs gefestigte Gesellschaft mit nicht zu viel Ungleichheit – und vor allem mit allseits greifbaren individuellen Aufstiegsperspektiven – voraus, also eine Gesellschaft in Mittellage mit tolerablem Gini-Koeffizienten“, schreiben die Autoren. Die große Frage, die sich stellt, ist, wie es möglich ist, auf einer breiten gesellschaftlichen Basis mit den demokratiegefährdenden Ungleichheiten politisch umzugehen. Den Sozialwissenschaften fehle für eine Antwort bislang noch der Blick für das große Ganze, denn in ihren Teildisziplinen sind sie häufig zu spezialisiert.
Lesen Sie hier exklusiv vorab ausführlich das aktuelle Zeitgespräch aus der Mai-Ausgabe des Wirtschaftsdienst:
Soziale Lage – Was sind die drängendsten Probleme?, in: Wirtschaftsdienst 5/2017 (mit folgenden fünf Beitragen: „Chancengleichheit und eine inklusive Soziale Marktwirtschaft“ von Marcel Fratzscher; „Armutsfestigkeit der Rentenversicherung stärken und Umbau des Steuer- und Abgabensystems organisieren“ von Bert Rürup; „Zur Diskursethik in ‚postfaktischen Zeiten‘“ von Jochen Pimpertz; „Weshalb die soziale Ungleichheit in Deutschland zunimmt und was politisch dagegen getan werden muss“ von Christoph Butterwegge; „‚Involutionen‘: Soziale Ursachen des Demokratierückbaus oder Drängende soziale Probleme und bedrängende Autokratisierung“ von Stephan Leibfried, Kerstin Martens und Uwe Schimank)