Exklusiv aus dem Wirtschaftsdienst: Seit langem hat es keine umfassende Reform im deutschen Steuersystem gegeben. Vor der Bundestagswahl und angesichts deutlicher und wohl auch längerfristiger gesamtstaatlicher Überschüsse werden zunehmend Vorschläge zur Entlastung der Steuerzahler gemacht. Dabei sind viele Aspekte zu berücksichtigen – beispielsweise die Frage, welche Einkommensgruppe entlastet werden sollte und welche tatsächlich durch die Vorschläge entlastet würde. Die Teilnehmer am Zeitgespräch in der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsdienst haben dazu unterschiedliche Auffassungen. Während sich die Reformvorschläge der Parteien im Wesentlichen auf die Einkommensteuer fokussieren, sehen sie durchaus auch Reformbedarf bei einer Vielzahl anderer Steuerarten.
Für 2016 hat das Finanzministerium einen gesamtstaatlichen Überschuss von 26,4 Mrd. Euro ausgewiesen. Der Arbeitskreis „Steuerschätzungen“ geht von zusätzlichen Steuereinnahmen in Höhe von rund 54 Mrd. Euro bis 2021 aus. Das befeuert die Fantasie der Befürworter von Steuersenkungen: Bei der Einkommensteuer soll der „Mittelstandsbauch“ abgeflacht, die kalte Progression gemildert und der Solidaritätszuschlag abgeschafft werden. Das Ziel ist es, vor allem niedrige und mittlere Einkommen stärker zu entlasten, aber auch die notorisch als zu hoch empfundene Steuerquote zu drücken.
Katja Rietzler vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung fragt sich, ob Steuersenkungen tatsächlich notwendig sind und ob es überhaupt die „richtige“ Steuerquote gibt. Sie weist darauf hin, dass die Staatseinnahmen im Konjunkturverlauf auch als automatische Stabilisatoren wirken und dass bei der Besteuerung als Maß für „Gerechtigkeit“ das Leistungsfähigkeitsprinzip allgemein anerkannt ist. Die Reformvorschläge, die zur Zeit diskutiert werden, wirken sich aber ganz unterschiedlich auf die Einkommensgruppen aus, von einzelnen Maßnahmen würden entgegen den Behauptungen ihrer Fürsprecher die höheren Einkommensgruppen deutlich profitieren, beispielsweise von der reinen Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Mit Steuersenkungen sind aber auch jeweils sehr unterschiedliche Auswirkungen auf das Budget verbunden, Die „fiskalischen Spielräume sollten dabei nicht überschätzt werden“, so Katja Rietzler, da der Bedarf auf der Ausgabenseite unverändert hoch ist. Alle wollen mehr in Bildung und physische Infrastruktur investieren. Dafür müssen aber genügend Finanzmittel übrig sein!
Auch die Autorengruppe um den ifo-Präsidenten Clemens Fuest hält das richtige Maß an Steuern und Abgaben für eine politische Frage. Die Autoren entscheiden sich aber für die Leitlinie, die Steuerquote auf dem Niveau von 2014 konstant zu halten. Unter dieser Vorgabe „wären bis 2020 Entlastungen von bis zu 40 Mrd. Euro möglich“. Sie schlagen verschiedene Tarifänderungen vor, die zu unterschiedlichen Steuerausfällen führen. Ein Teil dieser Kosten kann durch eine positive Wirkung auf das Wachstum und dadurch steigende Steuereinnahmen finanziert werden. Eine vollständige Selbstfinanzierung halten sie dagegen für unwahrscheinlich. Ganz anders als Katja Rietzler sehen sie aber den dringenden Bedarf, die Staatsausgaben zu begrenzen – und zwar durch das Anheben des Renteneintrittsalters. Dann kann der Staat den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung senken. Sind mehr öffentliche Investitionen nötig? Dazu meinen sie: „Es sind genug Mittel zum Investieren vorhanden, doch liegen mitunter nicht genügend planfestgestellte Projekte vor, oder Investitionen scheitern am Widerstand der Bevölkerung (Stromtrassen) oder an der Unfähigkeit der Verantwortlichen (Flughafen Berlin).“
Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin fragt: „Wie kann die arbeitende Mitte entlastet werden?“ Bei der Diagnose stellt er zum einen fest, dass sich die Gewichte innerhalb des Steueraufkommens seit 1950 von den direkten Steuern auf Einkommen und Vermögen zu den indirekten Steuern verlagert haben (vgl. Abbildung 1). Zum anderen muss die gesamte Belastung mit Steuern und Abgaben in den Blick genommen werden (vgl. Abbildung 2), wobei die Rentenbeiträge als zurechenbare Versicherungsleistungen nicht wie Steuern zu betrachten sind. Von einem „Tarif auf Rädern“, der die kalte Progression beseitigen soll, hält Stefan Bach wenig, da er vor allem die hohen Einkommen begünstigt: „Wenn man dagegen stärker die unteren und mittleren Einkommen entlasten und hohe Steuerausfälle vermeiden will, muss man die Steuersätze im oberen Einkommensbereich anheben. Politisch und ideologisch kann man das mit den steuerlichen Entlastungen für hohe Einkommen und Vermögen über die letzten Jahrzehnte sowie der gestiegenen Ungleichheit bei der Einkommens- und Vermögensverteilung begründen.“ Was kann man außerdem tun? Die „überzogenen Steuerprivilegien für Unternehmensübertragungen reduzieren“ und eventuell wieder eine Vermögensteuer einführen. Aber auch bei den Sozialbeiträgen könnte man ansetzen, beispielsweise könnten die Bundeszuschüsse zu den Sozialversicherungen angehoben werden (was ja Fuest et al. vehement ablehnen). Oder man könnte den ermäßigten Mehrwertsteuersatz absenken oder gar eine Art Grundeinkommen „einen neuen Sozialtransfer an jeden Bürger in Höhe der Mehrwertsteuer und der Verbrauchsteuern in Höhe des lebensnotwendigen Verbrauchs“ einführen.
Auch die Autorengruppe um den Präsidenten des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung und Vorsitzenden des Sachverständigenrates für Wirtschaft, Christoph M. Schmidt, sieht die Belastung durch Steuern und vor allem Abgaben in Deutschland als zu hoch an. Nach den Berechnungen der Autoren liegt die Quote – wenn sie um weitere Zahlungsverpflichtungen durch Gebühren und Regulierungen bereinigt wird – 2015 sogar bei über 41 Prozent. Auch sie halten das Steuer- und Abgabensystem nicht für wirklich progressiv. Als Heilmittel schlagen sie ebenfalls einen Tarif auf Rädern und die Abschaffung des Solidaritätszuschlags vor, aber auch die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen in den Sozialversicherungen wäre eine Option – wenn auch keine, die die Autoren für sinnvoll erachten. Besser wäre es die unteren und mittleren Einkommen zu entlasten, indem der Anstieg der Abgaben für die Sozialversicherungen, mit dem zu rechnen ist, nachhaltig begrenzen wird und versicherungsfremde Leistungen zukünftig ganz vom Steuerzahler getragen werden.
Margit Schratzenstaller vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung „fehlt die Perspektive eines fundamentalen Umbaus des Steuer- und Abgabensystems“. Die in Zukunft zu bewältigenden Herausforderungen (wie die Energiewende, der demografische Wandel, die Digitalisierung, die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen und die Gleichstellung von Männern und Frauen im Erwerbsleben) erfordern eine „grundlegende Reform der Gesamtarchitektur des Abgabensystems“. Der Fokus sollte dabei auch auf die unterschiedliche Besteuerung von Arbeit und Kapital gelegt werden. Zur Stärkung der Nachhaltigkeitsorientierung des Systems entwirft die Autorin Eckpunkte: Die erste Säule ist die „deutliche Reduktion der Abgaben auf Arbeit“ und die „Einschränkung des Ehegattensplittings“, die zweite Säule „eine stärkere Ausschöpfung von Umweltsteuern“, die dritte Säule „die Stärkung von Steuern auf Vermögen und Vermögenserträge“. Grundsätzlich sollte die soziale Sicherung stärker steuerfinanziert werden.
Lesen Sie hier exklusiv vorab ausführlich das aktuelle Zeitgespräch aus der Juni-Ausgabe des Wirtschaftsdienst:
Wie sollte das Steuersystem in Deutschland reformiert werden? in: Wirtschaftsdienst 6/2017 (mit folgenden fünf Beitragen: „Steuerreform: das ganze Bild betrachten!“ von Katja Rietzler; „Entlastungen bei der Einkommensteuer möglich“ von Clemens Fuest, Björn Kauder und Niklas Potrafke; „Steuerreformen in der nächsten Legislaturperiode: Wie kann die arbeitende Mitte entlastet werden?“ von Stefan Bach; „Zeit für Reformen – nicht nur der Steuern“ von Philipp Breidenbach, Roland Döhrn und Christoph M. Schmidt; „Ökosoziale Abgabenstrukturreform“ von Margit Schratzenstaller )