Mit den aktuellen Zuwachsraten des realen BIP war der Chef der EZB bei der Pressekonferenz am Donnerstag zufrieden, auch mit den Fortschritten am Arbeitsmarkt, und damit, dass das Risiko einer Deflation nicht mehr bestehe. Er schreibt diese Erfolge nicht zuletzt der expansiven Geldpolitik zu, also sich, versteht aber nicht, warum die Inflation nicht richtig anspringt. Wie kann die Wirtschaft boomen, ohne gleichzeitig Löhne und Preise in die Höhe zu treiben?
Angesichts der engen Korrelation zwischen den wichtigsten Stimmungsindikatoren und den guten „harten“ Daten der jüngeren Vergangenheit ist es nicht unwahrscheinlich, dass das reale BIP im zweiten Quartal kräftig zugenommen hat – inzwischen geht die EZB für das Gesamtjahr von einer Zuwachsrate von 1,9 Prozent aus. Vermutlich werden die Prognosen im Verlauf des Jahres weiter angehoben. Die Beschäftigung expandierte zuletzt im Vorjahresvergleich mit der stolzen Rate von 1,46 Prozent und war, mit 154,8 Millionen, erstmals wieder höher als zu Beginn der großen Rezession im Jahr 2008. Nicht ganz so gut sieht es bei der Arbeitslosenquote aus: Sie ist zwar seit ihrem Höhepunkt von 12,3 Prozent im ersten Quartal 2013 auf zuletzt 9,3 Prozent gesunken, liegt aber immer noch weit über ihrem Stand von 7,3 Prozent, den sie um die Jahreswende 2007/2008 erreicht hatte.
Zu Beginn des Jahres sah es für ein paar Monate so aus, als würde sich die Inflationsrate im Verlauf des Jahres ihrem Zielwert von knapp zwei Prozent nähern und damit dem alten Muster folgen – starke Wirtschaft, steigende Preise. Das hat sich als voreilig erwiesen. Wie das nächste Schaubild zeigt, geht es seitdem wieder abwärts mit den Inflationsraten.
Auf zwei vorgelagerten Stufen, bei den Erzeugerpreisen und den Importen, gibt es, wie zu sehen ist, beträchtlichen Kostendruck, nicht aber bei den Lohnstückkosten, der mit Abstand wichtigsten Kostenkomponente. Eine Erklärung könnte sein, dass die vielen neuen Jobs zum großen Teil im prekären Bereich des Dienstleistungssektors entstehen, wo die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer traditionell schwach ist. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist generell ohnehin seit Jahren stark rückläufig. Die sogenannte Unterbeschäftigungsquote Eurolands liegt, je nach Definition, bei 14 bis 18 Prozent.
Hinzu kommt, dass der Auslastungsgrad der gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten möglicherweise viel niedriger ist als vom IWF, der OECD und den Forschungsinstituten berechnet. Sie kommen allesamt zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass sich die Wirtschaft Eurolands in der Nähe, wenn nicht sogar jenseits der Normalauslastung befindet. Wenn ich jedoch unterstelle, dass es im Gefolge der Rezession keinen Bruch in der Zuwachsrate des trendmäßigen BIP-Wachstums (von 1,9 Prozent) gab, komme ich zu dem Schluss, dass die ungenutzten Kapazitäten bei 12,5 Prozent des Produktionspotenzials liegen. Wenn etwas an dieser Sichtweise dran ist, verwundert es nicht, warum Löhne und Preise so ungewöhnlich moderat zunehmen.
Es muss demnach ein heftiger Preiswettbewerb herrschen, verbunden mit der Verhandlungsschwäche der Arbeitsuchenden. Mario Draghi jedenfalls sieht keine Anzeichen, dass es bei den inländischen Kosten und Verbraucherpreisen zu einer signifikanten Beschleunigung kommen könnte. Man wolle weiterhin erst einmal abwarten, ob die gute Konjunktur nicht am Ende doch zu höheren Inflationsraten führt. Jetzt ist erst mal Sommer. Am 7. September werde der Stab der EZB neue Prognosen vorlegen. Dann werde man überlegen, ob die „forward guidance“ geändert werden müsse und welche Strategie angemessen sei. Auf die Frage nach den Effekten der Euro-Aufwertung argumentierte er, wie kürzlich bei seiner Rede im portugiesischen Sintra, dass tendenziell etwas gegen deren restriktive Wirkungen getan werden müsse, also expansive Maßnahmen erwogen werden könnten.
Insgesamt wird die EZB bei ihrer expansiven Politik bleiben, solange es keine Anzeichen für eine nachhaltige Annäherung der Inflationsrate an das 2-Prozent-Ziel gebe. Es bleibt daher bis zum Dezember bei den Netto-Bondkäufen von 60 Mrd. Euro pro Monat. Einen Mangel an Wertpapieren, die angekauft werden können, gebe es nicht. Und an den Leitzinsen wird sich bis auf Weiteres ebenfalls nichts ändern.
Was lernen wir? Es kommt allein auf die Inflation an. Sie ist zu niedrig. Nach den inflationsgeschützten Staatsanleihen, also nach Meinung der Marktteilnehmer, sind selbst die Inflationsaussichten über die nächsten 10 Jahre kaum höher als ein Prozent.
Auch wenn sich die Inflation der Marke von zwei Prozent nähern sollte, bedeutet das noch nicht, dass das eine nachhaltige Entwicklung ist. Wer also wissen will, wann sich die EZB bewegt und das Zinsniveau wieder ansteigt, muss vor allem die Lohndynamik im Euroraum beobachten. Es wird der Punkt kommen, an dem der Aufschwung zu echten Knappheiten am Arbeitsmarkt und damit zu Lohninflation führt. Wie Mario Draghi kann auch ich das aber überhaupt noch nicht erkennen.
Wenn die obige Grafik zum Produktionspotenzial die wirtschaftliche Situation einigermaßen korrekt beschreibt, müsste das reale BIP ein Jahrzehnt lang mit einer jährlichen Rate von drei Prozent wachsen, damit die freien Kapazitäten verschwinden und die Arbeit knapp und teuer wird. Das glaube selbst ich nicht.
In der Zwischenzeit könnte der Boom an den Aktienmärkten weitergehen, obwohl die Kurse, gemessen an den traditionellen Kennziffern, total überhöht sind. Je länger das anhält, desto schmerzhafter wird die Korrektur sein. Vielleicht kommt sie aber schon dadurch, dass das reale BIP noch einige Quartale lang mit Raten von 0,6 bis 1,0 Prozent zunimmt, so dass die Marktteilnehmer folgern, dass die Inflation irgendwann unweigerlich anziehen und die EZB daher ihren Kurs wechseln muss.
Für die Bondmärkte war die implizite heutige Botschaft: Für’s Erste besteht kein großer Handlungsdruck. Ich glaube aber, dass die gute Konjunktur ein Abgleiten der langen Renditen in Richtung Null verhindern wird. Zu langfristigen Inflationserwartungen von etwas über ein Prozent passen nominale Renditen von rund 3 Prozent.