Am europäischen Arbeitsmarkt findet, fast unbemerkt von den Medien, ein Mini-Boom statt. Er hatte Mitte 2013 begonnen und gewinnt zusehends an Kraft. Im Durchschnitt ist die Beschäftigung in diesen vier Jahren mit einer Rate von 1,1 Prozent gestiegen – im vergangenen Jahr waren es sogar rund 1,5 Prozent. Die deutschen Zahlen unterscheiden sich nicht nennenswert von diesen Mittelwerten. Der Boom hat die gesamte Währungsunion erfasst. Nichts spricht zurzeit dagegen, dass er noch einige Jahre weitergehen wird.
Wie die folgende Grafik zeigt, gibt es, zumindest auf der Makroebene, keine Engpässe beim Arbeitsangebot. Im dritten Quartal dürften rund 156 Millionen Menschen beschäftigt gewesen sein, was nicht viel mehr ist als Anfang 2008, dem letzten zyklischen Spitzenwert. Wäre die Beschäftigung von 2008 bis heute mit derselben Rate wie von 1995 bis 2007 gestiegen, wären im Augenblick nicht weniger als 174 Millionen Menschen in Brot und Arbeit. So gesehen existiert eine „Reservearmee“ von etwa 18 Millionen. Von Vollbeschäftigung kann also keine Rede sein (auch Anfang 2008, vor dem Beginn der großen Rezession, war das übrigens nicht der Fall).
Die Zahl passt zu der sogenannten Unterbeschäftigungsquote Eurolands (der „U-6“). Zuletzt betrug sie 17,4 Prozent. Sie enthält nicht nur die 14,9 Mio. Arbeitslosen im engeren Sinne (das entspricht einer Quote von 8,9 Prozent), sondern auch die 6,3 Mio. Menschen, die zwar offiziell nicht arbeitslos sind, aber gerne arbeiten oder mehr arbeiten würden, wenn es den richtigen Job gäbe.
Mario Draghi hatte in seinem Frankfurter Vortrag vom 17. November darauf hingewiesen, dass die Erwerbsquote in letzter Zeit kräftig gestiegen ist – für die Alterskohorte 15 bis 64 Jahre liegt sie um nicht weniger als zwei Prozentpunkte über dem Höchstwert vor der Rezession. Vor allem Frauen und Ältere drängen in den Arbeitsmarkt. Ich denke, das wird sich fortsetzen – immer weniger Frauen wollen Hausfrauen sein, die Betreuungsangebote für Kinder verbessern sich zusehends, und die staatlichen Renten reichen Vielen nicht mehr für einen angemessenen Lebensstandard. Außerdem macht Arbeiten vielfach einfach auch nur Spaß und es sind auf einmal Jobs da, wo es früher keine gab. Die alten Rollenmodelle verblassen.
In den USA hatte die Wende am Arbeitsmarkt in Reaktion auf die expansive Wirtschaftspolitik und die aggressive Sanierung des Finanzsektors etwa drei Jahre früher eingesetzt als im Euroraum. Seitdem hat die Beschäftigung im Durchschnitt jährlich mit einer Rate von 1,6 Prozent zugenommen. Trotz einer Arbeitslosenquote von nur 4,3 Prozent sind jedoch auch dort immer noch Reserven vorhanden, wie der obigen Grafik ebenfalls zu entnehmen ist. Sie sind allerdings deutlich geringer als in Europa (rund 10 Millionen). Auch die aktuelle Unterbeschäftigung von 7,9 Prozent (die U-6 Quote) spricht dafür, dass es in Amerika bis zur Vollbeschäftigung noch ein langer Weg ist. Das ist der Grund, weshalb es die Fed mit ihren Zinserhöhungen nicht eilig hat: Steigen die Löhne wegen des Überangebots an Arbeit nicht, oder nur langsam, steigt auch das Preisniveau nur langsam. Im Oktober waren die durchschnittlichen Stundenlöhne in den USA gerade einmal 2,4 Prozent höher als vor Jahresfrist, während das Plus bei den Verbraucherpreisen 2,0 Prozent betrug.
In der Vergangenheit habe ich die geringe Lohninflation der Industrieländer vor allem auf die Globalisierung, die offenen Grenzen, die immer niedrigeren Transportkosten und auf die zunehmende Transparenz der Märkte durch das Internet zurückgeführt. Das bleibt richtig. Aber dabei handelt es sich um einen allmählichen Prozess, kurzfristig ist es vermutlich wichtiger, wie hoch der Auslastungsgrad der Kapazitäten am Arbeitsmarkt ist, und der ist in Europa weiterhin äußerst niedrig.
Ein anderes Indiz für die schwache Verhandlungsposition der Arbeitnehmer sind die atypisch Beschäftigten. In Deutschland bewegt sich der Anteil dieser Gruppe an der Anzahl der abhängig Beschäftigten insgesamt seit Jahren, im Grunde seit den Hartz IV-Reformen, zwischen 20 und 25 Prozent. Als atypisch gelten nach der Definition des Statistischen Bundesamts Minijobs, Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung sowie Leih- und Zeitarbeit. Rechne ich die Solo-Selbständigen, die sogenannten Freelancer, hinzu, komme ich für 2016 auf eine Quote von 29,0 Prozent. Auch das zeigt, dass die Unternehmen und öffentlichen Arbeitgeber seit Jahren bestimmen können, was sich bei den Löhnen tut und wer seinen Job behalten kann.
Insgesamt nehmen die Löhne in Deutschland und im übrigen Euroraum kaum rascher zu als die Produktivität, also der reale Output pro Arbeitsstunde, so dass die Lohnkosten, genauer: die Lohnstückkosten kaum steigen. Das heißt, der wichtigste Kostenfaktor ist unter Kontrolle. Die Unternehmen können ihre Gewinne allein dadurch steigern, dass sie mehr produzieren. Wenn sie, wie das gegenwärtig in Deutschland und den Nachbarländern der Fall ist, zusätzlich noch ihre Verkaufspreise kräftig erhöhen können – die Wirtschaft brummt ja –, explodieren ihre Gewinne. Ein Beispiel: Zuletzt lagen die deutschen industriellen Erzeugerpreise um 2,7 Prozent über ihrem Vorjahreswert, die Lohnstückkosten in der Industrie dagegen um 1,0 Prozent darunter. Kann es besser laufen? Spricht nicht alles dafür, dass wir an den Aktienmärkten gerade beobachten können, wie die Blase dicker und dicker wird?
Der Boom an den Aktienmärkten ist daher nicht nur darauf zurückzuführen, dass die EZB in großem Stil Geld druckt, sondern auch auf den Anstieg der Gewinne. Weil die Situation fundamental so erfreulich ist, mag niemand so recht seine Aktienportefeuilles herunterfahren. Denn: „This time is different“.
Es sieht so aus, dass die Beschäftigung im Euroraum bis auf Weiteres stark steigen wird. Mario Draghi macht immer wieder klar, dass die Zinsen erst nach dem Auslaufen des Bond-Ankaufsprogramm im nächsten Herbst, voraussichtlich sogar erst einige Quartale danach angehoben werden, es also bei der expansiven Geldpolitik bleiben wird. Gleichzeitig ist die Fiskalpolitik mindestens weniger restriktiv als in den Vorjahren, vielleicht sogar schon expansiv. Und die Kombination von nach wie vor schwachem Euro und mehr als nur moderaten Lohnsteigerungen sorgt dafür, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen weiterhin exzellent ist, und zwar im gesamten Euroraum. Die Stimmung ist so hervorragend, dass die Firmen versuchen werden, ihren Personalbestand aggressiv aufzustocken. Die Entlassungen bei Air Berlin und Siemens sprechen nicht gegen diese These – sie haben strukturelle Ursachen.
Alles gut daher? Aus meiner Sicht gibt es nur ein ernstzunehmendes Risiko am Arbeitsmarkt: dass sich der Euro zu stark aufwertet, was angesichts der vergleichsweise hervorragenden Fundamentals nicht auszuschließen ist. Das dürfte der EZB-Chef ähnlich sehen und versuchen, das mit seiner ultra-lockeren Geldpolitik zu verhindern. Wir erleben im Euroraum, wie zuvor schon in den USA, eine Renaissance keynesianischer Rezepte. Ernste Strukturprobleme scheint es nicht zu geben. Die sind, soweit es sich dabei um „zu hohe“ Löhne handelt, „gelöst“. Aber das ist ein anderes Thema.