Jüngst haben 14 prominente deutsche und französische Ökonomen und Ökonominnen einen Vorschlag zur Reform der Eurozone gemacht, der auf großen Widerhall bei den Regierungen in Paris und Berlin gestoßen ist. Das Interessante daran: Die 14 Wissenschaftler versuchen die französischen und die deutschen Positionen zur Zukunft der Währungsunion unter einen Hut zu bringen. Die französische Vorliebe für eine stärkere europäische Wirtschaftsregierung und mehr europäische Risikoteilung soll mit der deutschen Vorliebe für nationale Strukturreformen und möglichst hoher Risikovermeidung verbunden werden. Konkret sollen einerseits auf europäischer Ebene Fonds eingerichtet werden, die den Ländern in einer Krise Geld zum Investieren geben; und auf der anderen Seite sollen die Länder stärker an die Kandare genommen werden, wenn sie sich nicht ans europäische Regelwerk „guten Wirtschaftens“ halten.
Das Dokument ist politisch sehr wichtig, um die verschiedenen Interessen an einen Tisch zu bekommen. Ich fürchte aber, dass der sicher gut gemeinte Entwurf nach hinten losgehen könnte. Denn die Autoren fordern – wie auch schon viele vor ihnen –, dass Staaten in Europa ihre Schulden abschreiben sollen, wenn sie „insolvent“ sind. Bei allen sinnvollen und guten Vorschlägen, die die Autoren sonst machen, erscheint mir der Vorschlag zur Einrichtung eines formalen Insolvenzregimes im höchsten Maße kontraproduktiv zu sein. Ich glaube, so ein Regime birgt das Risiko, die Eurozone stark zu destabilisieren und erneut in den Krisenmodus zu schleudern.
Dabei klingt die Idee eines Insolvenzregimes auf den ersten Blick so gut, dass sie selbst im wirtschaftspolitisch eher linken als auch im liberalen Lager auf Zustimmung trifft: Die Linken erhoffen sich, dass Staaten mit einem ordentlichen Insolvenzregime ihre Schulden reduzieren könnten und damit mehr Raum für eine expansive Fiskalpolitik bekämen, mit der Beschäftigung und Wachstum gestützt werden könnten. Darüber hinaus würden die Banken direkt für ihre schlechten Kredite in die Haftung genommen und die Steuerzahler anderer Staaten müssten nicht in die Bresche springen. So argumentiert etwa der linke US-Ökonom Joseph Stiglitz.
Finanzielle Spaltung Europas würde erhöht
Den Liberalen dürfte gefallen, dass ein höheres Insolvenzrisiko zu höheren Zinsen für Staaten führen würde, die stärker von einer möglichen Insolvenz bedroht sind. Die Regierungen würden dann erst gar nicht so viele Schulden aufnehmen und die Gefahr einer Überschuldung würde deutlich sinken. Das heißt, die Staaten würden effektiver der Disziplin des Marktes unterzogen, als das ohne die drohende Insolvenz der Fall wäre.
Ich denke aber, dass ein Insolvenzregime sehr unangenehme Nebenwirkungen haben könnte: Regierungen würden nicht handlungsfähiger – wie es manche Linke glauben –, sondern im Gegenteil in eine viel stärkere Abhängigkeit von den Finanzmärkten geraten, als es jetzt schon der Fall ist. Und das würde mit hoher Wahrscheinlichkeit die jetzt schon deutliche ökonomische und finanzielle Spaltung Europas verstärken, also genau das Gegenteil dessen bewirken, was die 14 ÖkonomInnen erreichen wollen.
Der Hauptgrund für diese unangenehmen Nebeneffekte ist das Fehlen eines klaren Kriteriums dafür, wann ein Staat insolvent ist. Und das ist alles andere als ein technisches Detail. Denn ohne solch ein klares Kriterium werden die Staaten zu Spielbällen von Finanzmarktlaunen.
Für Unternehmen ist die Sache einigermaßen klar: Ein Unternehmen ist insolvent, wenn sein Eigenkapital negativ ist, wenn also seine Schulden sein Vermögen übersteigen. Dann wird das Vermögen verkauft und aus den Erlösen werden möglichst viele ausstehende Schulden bezahlt. Weil es nicht für alle reicht, müssen manche Gläubiger eben auf eine Rückzahlung verzichten.
Das Eigenkapitalkriterium ist aber genau nicht anwendbar auf einen Staat. Zwar haben auch Staaten Vermögen, vor allem ihre öffentliche Infrastruktur. Aber die kann nicht als Sicherheit für ausstehende Schulden verwendet werden. Kein Staat kann und darf sich darauf verpflichten, seine Infrastruktur notfalls zu verscherbeln, wenn es an den Schuldendienst geht. Ein Unternehmen kann liquidiert werden, ein Staat nicht.
Das Kriterium, das die 14 ÖkonomInnen nennen, ist dann auch nicht das Eigenkapital, sondern die „Tragfähigkeit“ von Schulden. Aber das ist alles andere als ein klares Kriterium zur Feststellung einer Insolvenz. Bei der Schuldentragfähigkeit wird berechnet, ob die Staatsschulden bei verschiedenen Annahmen über zukünftiges Wachstum, zukünftige Inflation, zukünftige Zinsen und zukünftige staatliche Finanzierungssalden abnehmen, zunehmen oder gleich bleiben. Würden sie dauernd zunehmen, wären die Schulden nicht tragbar.
Diese Berechnung ist natürlich nur so viel wert wie die Annahmen über die Zukunft, die man macht – und wer kann schon hellsehen? Dabei spielen die Zinsen eine besonders kritische Rolle: Wenn sie stark steigen – wie das in der Eurokrise der Fall war –, können die Schulden jedes Staates schnell explodieren und untragbar werden. Bei steigenden Zinsen brechen Investitionen, Wachstum, Beschäftigung und Steuereinnahmen ein und das Haushaltsdefizit wird größer; gleichzeitig muss ein Staat dann mehr zahlen, weil sein Zinsdienst steigt. Wenn die Zinsen steigen, werden seine Schulden also schnell untragbar. Und genau hier liegt die Krux: Die Zinsen können nämlich auch dann steigen, wenn ein Staat ansonsten einigermaßen nachhaltige Schulden hat.
Ab wann ist ein Staat insolvent?
Das liegt daran, dass man zwar keine Insolvenz für Staaten feststellen kann, Staaten aber sehr wohl zahlungsunfähig werden können. Der Fall tritt dann ein, wenn es nicht gelingt, fällige Schulden zurückzuzahlen. In der Regel finanzieren Staaten die Rückzahlung ihrer auslaufenden Schulden durch die Aufnahme neuer Schulden. Das heißt im Grunde nichts anderes, als dass die Altschulden ständig verlängert werden. Sollten die Gläubiger aus welchen Gründen auch immer einmal nicht mehr dazu bereit sein, dann ist der betreffende Staat zahlungsunfähig.
Dieses sogenannte Verlängerungsrisiko kann selbsterfüllend werden: Wenn einige Gläubiger davon ausgehen, dass andere Gläubiger ihre Forderungen nicht verlängern werden, also dem Staat keine neuen Kredite mehr geben, werden sie dessen Zahlungsfähigkeit bedroht sehen und selbst die Refinanzierung verweigern. Erwarten also ausreichend viele Gläubiger den staatlichen Zahlungsausfall, tritt er tatsächlich ein. Das führt dann zu explodierenden Zinsen. Und wenn man als Kriterium für staatliche Insolvenz die Tragbarkeit der Schulden nimmt, kann im Prinzip jeder Staat zu jeder Zeit Opfer einer sich selbst verwirklichenden Zahlungsunfähigkeit werden – die dann in die Insolvenz führt.
Und eine solche Zahlungsunfähigkeit ist sehr schmerzvoll: Wenn die Staaten alles Geld für die Rückzahlung von Schulden verwenden müssen, bleibt kaum noch was übrig für die Stützung der eigenen Wirtschaft, also für Investitionen, Umwelt- oder Sozialausgaben. Die Länder müssen ihre Ausgaben radikal kürzen, was die Kaufkraft der Bevölkerung dezimiert und die Arbeitslosigkeit hochschießen lässt.
Da die Zahlungsunfähigkeit von Staaten in Europa durch die Verweigerung der Finanzmärkte zur Refinanzierung verursacht wurde, werden mit einem Insolvenzregime für Staaten genau diese Märkte mit der Entscheidung über die ökonomische und soziale Zukunft von Staaten beauftragt. Das nennt sich dann „Marktdisziplin“. Mit solch einem Regime würden Finanzmärkte jetzt viel schneller die weitere Finanzierung einstellen, wann immer sie nervös werden – etwa wegen einer Rezession, irgendwelchen Finanzmarktkalamitäten in einem anderen Land, wegen eines politischen Skandals oder der Revision ökonomischer Daten.
Besonders die Staaten, die jetzt schon in der Krise stecken, würden unter dem dauernden Risiko eines Zahlungsausfalls stehen. Und genau das wollen die Verfechter eines Insolvenzregimes mit ihrer „Marktdisziplin“ ja erreichen. Die formale Möglichkeit eines Schuldenschnitts würde dann nach Einrichtung eines Insolvenzregimes die Zinsen vieler schwächerer Staaten erhöhen und damit auch ihre tatsächliche Zahlungsunfähigkeit wahrscheinlicher machen. Die Finanzierungsbedingungen der Eurozonenperipherie würden sich relativ zu den Kernländern wie Deutschland langfristig verschlechtern und dort zu geringeren Investitionen und Wachstum führen.
Das Damoklesschwert der Insolvenz würde dort entweder zu einem dauernd schwächeren Wachstum führen oder zu einem starken Auf- und Ab, bei dem sich finanzmarktgetriebene Booms mit schweren Krisen abwechseln würden, wie man es aus vielen Schwellenlänger etwa in Lateinamerika kennt. Die nördlichen Länder – und vor allem Deutschland – würden ihren ökonomischen und politischen Einfluss über die Peripherie ausweiten. Damit würde ein Insolvenzregime mit hoher Wahrscheinlichkeit sowohl die Fragilität als auch die ökonomische und politische Polarisierung der Eurozone erhöhen.
Fairerweise muss man dazu anmerken, dass die 14 ÖkonomInnen all diese Risiken diskutieren. Sie wollen diese Risiken einhegen, indem sie die Effekte einer Insolvenz von Staaten auf die Gläubiger verringern wollen. Banken sollen etwa weniger Anleihen eines Staates halten, in dem sie ansässig sind; außerdem sollen bestimmte Finanzmarktprodukte eingeführt werden (über eine Verbriefung von Staatsanleihen), die das Risiko von Gläubigern besser streuen sollen, wenn es doch zu einer Insolvenz kommt. Auch wenn all das die Effekte einer Staatsinsolvenz für die Gläubiger etwas abmildern würde (hier kommt es auf viele, viele Details an), so würde das aber nichts daran ändern, dass sich die Situation für schwächere Staaten mit hoher Wahrscheinlichkeit verschlechtern und ihre Zinsen steigen würden. Ob diese Länder dann noch einen Vorteil darin sehen, überhaupt im Euro zu bleiben, wird damit sehr viel ungewisser und das Ende des Euro käme näher.
Dabei wäre so ein Insolvenzregime heute gar nicht nötig. Mit der prinzipiellen Entscheidung der EZB im Jahr 2012, im Notfall so viele staatliche Anleihen wie nötig aufzukaufen (durch das sogenannte OMT-Programm), sowie dem tatsächlichem Aufkauf von Staatsanleihen im Rahmen des QE-Programms ab 2015 hat die Zentralbank signalisiert, im Notfall als Käufer der letzten Instanz für Staatsanleihen bereitzustehen. Fürchten Gläubiger um ihr Geld, können sie ihre Anleihen an die EZB verkaufen. Weil sie das wissen, haben sie weniger Angst vor dem Zahlungsausfall und verlängern damit bereitwilliger ihre Forderungen – was dann wiederum zu sinkenden Zinsen der Staaten und einer größeren Tragfähigkeit ihrer Schulden führt. Weil die EZB in letzter Instanz bereitsteht, hat sie den Teufelskreis sich selbst verwirklichender Prophezeiungen staatlicher Zahlungsausfälle mit einem Schlag aufgehoben.
Dabei macht die EZB nichts anderes als das, was Zentralbanken in allen anderen entwickelten Volkswirtschaften tun: Die Bank of Japan, die Federal Reserve in den USA und die Bank of England haben alle Staatsanleihen gekauft. In keinem dieser Länder war der Staatsbankrott jemals ein ernsthaftes Thema und die Zinsen auf Staatsanleihen sind nie so stark gestiegen wie im Euroraum.
Im Moment hat die EZB die fragile Situation im Euroraum stabilisiert, indem sie für die Währungsunion das nachvollzogen hat, was in jeder anderen wichtigen Volkswirtschaft gang und gäbe ist. Wenn aber ein formales Insolvenzregime eingeführt wird, besteht aus meiner Sicht ein hohes Risiko, dass die Eurokrise schnell wieder zurückkehrt und die Existenz des Euro selbst wieder auf dem Spiel steht.