Exklusiv aus dem Wirtschaftsdienst: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“, so lautet der berühmte erste Satz des Kommunistischen Manifests von 1848. Heute ist der Kommunismus in Europa Geschichte, aber gilt das auch für Karl Marx und seine Analyse des Kapitalismus. Am 5. Mai 2018 würde Karl Marx 200 Jahre alt. Diesen Umstand nimmt der Wirtschaftsdienst in seiner April-Ausgabe zum Anlass zu fragen, wie aktuell Marx noch ist. Karl Homann und Ingo Pies, Jürgen Kromphardt, Werner Plumpe sowie Bertram Schefold nehmen sich der Frage in vier Beiträgen aus unterschiedlicher Perspektive an.
Karl Homann und Ingo Pies konstatieren, dass „die sozialrevolutionären Hoffnungen des Marxismus […] katastrophal gescheitert“ seien und Marx als politischer Revolutionär „out“ sei. Als Klassiker der Theoriebildung sei er aber, ganz im Gegenteil, alles andere als erledigt. Sie versuchen seiner Ambivalenz gerecht zu werden, in dem sie Marx als Freiheitsphilosophen, als Pionier des Systemdenkens, als ökonomischen Autodidakten und als politischen Demagogen betrachten.
Marx als Freiheitsphilosophen zu bezeichnen, mag auf den ersten Blick überraschen, hat er doch zeitlebens den Liberalismus bekämpft und gilt deshalb vielen als Kollektivist. Sein Ziel sei es jedoch gewesen den Liberalismus zu überbieten, wenn es um die Emanzipation aller Menschen geht. Dabei dienen Staat und Gesellschaft nicht zur Einschränkung von Freiheit, sondern sichern und erweitern die individuelle Freiheit. Hier sei Marx auch heute noch aktuell, so Homann und Pies, die die Marx’sche Position mit Hobbes wie folgt formulieren: „Freiheit gibt es nicht im Naturzustand, sondern nur im Gesellschaftszustand. Individuelle Freiheit muss kollektiv produziert werden.“
Bei der Ursachendiagnose der Lage der Arbeiter, kritisiert Marx diejenigen, die moralische Defizite der Unternehmer, Egoismus oder Gier dafür verantwortlich machen. Stattdessen begreift er den Wettbewerb, in dem sich die Unternehmen befinden und sie nach möglichst hohem Gewinn streben lässt, als „kapitalistischen Systemimperativ“. Karl Marx sei als Pionier des Systemdenkens ein Aufklärer gewesen, schreiben Homann und Pies, der die Grenzen der individuellen Moral bei strukturellen Problemen aufgezeigt habe.
Als ökonomischen Autodidakten sei Marx allerdings in Anlehnung an die klassischen Ökonomen ein folgenschwerer Fehler unterlaufen: Er vertrat die Ansicht, dass eine „industrielle Reservearmee“ dafür sorgen würde, dass das Arbeitsangebot der Proletarier immer größer sein würde als die Arbeitsnachfrage der Unternehmer und der Lohn sich deshalb immer am Subsistenzniveau bewegen würde. Die Lage des Proletariats als Opfer des Systems könne also nur durch einen „(welt-) revolutionären Systemwechsel“ verbessert werden. Übersehen, so Homann und Pies, habe Marx, dass das Arbeitsangebot doch knapp werden kann, und sich die „kapitalistische Wettbewerbslogik“ dann umdreht. Das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital sei keineswegs antagonistisch.
Wortgewaltig hat Marx als politischer Demagoge versucht, das System, das er für immanent unreformierbar hielt, zu diskreditieren und den Klassenkampf anzuheizen. Bis heute sei das Marx’sche Vokabular in „unserem Wortschatz aktiv und kulturell sowie politisch virulent“. Dies birgt die Gefahr, so Homann und Pies, „[…] gerade in Krisenzeiten […] im politischen Diskurs die falschen Fragen zu stellen“. Instinktiv würde „zur Lösung drängender Probleme auf eine Außerkraftsetzung des Marktes gesetzt, anstatt […] durch geeignete institutionelle Weichenstellung Märkte per Ordnungspolitik besser in Kraft zu setzen.“
Jürgen Kromphardt nähert sich der Frage nach der Relevanz von Karl Marx über dessen Rolle als Ökonom. Für Kromphardt liegt die Vermutung nahe, dass lange verstorbene Ökonomen vor allem dann potentiell relevant sind, wenn sie Probleme behandelt haben, die in der heutigen Debatte unterbelichtet sind oder Methoden verwendet haben, die zwar fruchtbar sein könnten, aber heute kaum noch verwendet werden. Beides treffe auf Karl Marx zu. Die von Marx verwendete dialektische Methode könnte sich als erkenntnisfördernd erweisen, wenn es um die Analyse „dynamischer, systemimmanenter Prozesse“ geht, die sich auf Widersprüche und Interessenskonflikte zurückführen lassen, die Änderungen des Systems in einem dialektischen Prozess aus These, Antithese und Synthese durchsetzen. Aktuell relevanter sei aber, so Kromphardt, „die Rückbesinnung auf die Bedeutung der Einkommensverteilung“.
Zentral für die Implikationen der Marx’sche Theorie sei die Verteilung des Sozialprodukts zwischen Arbeitern und Kapitalisten. „Die politisch und ökonomisch schwachen Arbeiter erhalten ihren Subsistenzlohn; das darüber hinausgehende Mehrprodukt fällt den Kapitalisten zu.“ Der Verteilungskonflikt verschärft sich durch eine wachsende Marktmacht der Unternehmen und dem bei wachsender Produktion immer größerem „Mehrprodukt“, dass sich die Kapitalisten „aneignen“. Dadurch muss es nach Marx, vereinfacht gesagt, gesamtwirtschaftlich zu einem wachsenden „Zwiespalt“ zwischen der Konsumgüterproduktion und der Konsumgüternachfrage kommen, was letztlich zu Krisen des Kapitalismus und seinen Zusammenbruch führt.
Als Grund, dass es historisch anders gekommen ist, nennt Kromphardt verschiedene institutionellen Veränderungen, wie die Bildung von Gewerkschaften, die Übernahme von sozialen Aufgaben durch den Staat und auch die stabilisierende Wirkung der Ausweitung des öffentlichen Sektors. „Die ungleiche Einkommensverteilung und ihre Wirkungen auf die Gesamtnachfrage nach Gütern schlagen eine Brücke von Marx zu Keynes,“ resümiert Kromphardt, „Marx‘ Prognose eines ständig zunehmenden ‚Zwiespalts‘ hat sich zwar als falsch erwiesen, schärft aber den Blick für die Bedeutung gesellschaftlicher und politischer Prozesse, die institutionelle Regelungen grundlegend verändern können.“ Schon deshalb sei Marx aktuell.
„Die moderne Ökonomie ist viel wandelbarer, flexibler und gestaltbarer als Karl Marx das annahm und als es seine Anhänger festschreiben wollten und festschrieben.“, stellt Werner Plumpe in seinem Beitrag fest. Für ihn sind die Versuche, Marx wieder zu Aktualität zu verhelfen, vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie einem allgemeinen kritischen Anspruch gegenüber der herrschenden Wirtschaftsordnung Ausdruck verleihen sollen und weniger durch die Auseinandersetzung mit der Analyse von Marx‘ Schriften. Für Plumpe hat die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 150 Jahre eindrucksvoll widerlegt, dass der Kapitalismus die Verelendung der Arbeiterschaft immer weiter fortschreibt. Das habe damit zu tun, dass Marx die Dynamik des Kapitalismus falsch eingeschätzt hat. Was Marx aus Sicht von Plumpe aus seiner Zeit heraus nicht hat sehen können, ist, dass „[…] der Kapitalismus soziale Ungleichheit voraussetzt und laufend reproduziert, aber keineswegs Armut.“
Werner Plumpe kritisiert die empirisch unhaltbaren Aussagen von Marx und das Schüren einer Hoffnung auf ökonomische Alternativen, die sich bis heute als Irrwege herausgestellt haben. „Was Marx der Gegenwart daher zu sagen hat, ist doch sehr begrenzt. Er hat die innere Expansionsdynamik des Kapitalismus richtig gesehen und die mit ihr verbundene Krisendynamik zum Thema gemacht, das alles jedoch in einen analytischen und geschichtsphilosophischen Rahmen gestellt, der nicht nur unzutreffend war, sondern heute kaum mehr nachvollziehbar erscheint. So verführend Erlösungshoffnungen sein mögen, so gefährlich sind sie auch, wie die Geschichte des realen Sozialismus gezeigt hat. Harmlos jedenfalls ist das nicht.“, schließt Werner Plumpe.
„Marx wollte beweisen, dass der Kapitalismus unabwendbar auf einen Systemwechsel zutrieb und hat damit auf Systemveränderung gerichtete Strömungen der Arbeiterbewegung und aggressive Lohnpolitik ermutigt, die viel Schaden angerichtet haben“, stellt Bertram Schefold fest. Andererseits hätten die besseren von Marx beeinflussten Ökonomen immer gesehen, dass eine zurückhaltende Lohnpolitik im langfristigen Interesse der Arbeiter selbst liegt. Schefold führt weiter aus: „Es ist schwierig, die richtige Grenze zwischen destruktiver und wachstumsfördernder Lohnpolitik anzugeben; PostKeynesianer, wie früher Nicholas Kaldor oder heute Amit Bhaduri haben sich darum bemüht. So entstand ein Marx modifizierendes Bild des Wachstums gemäß der sogenannten stilisierten Fakten: Die Löhne steigen gleichmäßig mit der Produktivität, der Kapitalbestand steigt mit der Produktion, ohne dass die Profitrate fällt, und das Wachstum der Löhne folgt der Produktivität.“
Abschließend hält Bertram Schefold mit Blick auf die von Thomas Piketty belebte Debatte um die Ungleichverteilung von Einkommen fest: „Heute besteht die Herausforderung Pikettys darin, dieses Bild der stilisierten Fakten weniger durch neue theoretische Einsichten als durch eine Masse empirischen Materials infrage zu stellen. Im Grunde hat er das Problem der fallenden Profitrate wieder zur Diskussion gestellt, auch wenn sein Instrumentarium mehr der Neoklassik als der Marx‘schen Theorie entstammt.“
Lesen Sie hier exklusiv vorab ausführlich die vier Beiträge des aktuellen Zeitgesprächs der April-Ausgabe des Wirtschaftsdienst:
Karl Marx – heute noch aktuell?, in: Wirtschaftsdienst 4/2018 (mit folgenden Beiträgen: „Karl Marx als Klassiker: Freiheitsphilosoph, Systemdenker, ökonomischer Autodidakt, politischer Demagoge“ von Karl Homann und Ingo Pies; „Zur Aktualität von Karl Marx“ von Jürgen Kromphardt; „Die Bedeutung von Karl Marx für das Verständnis der heutigen Wirtschaft“ von Werner Plumpe; „Marx aktuell?“ von Bertram Schefold)
Außerdem lädt der Wirtschaftsdienst am 7. Mai 2018 um 18 Uhr zur Diskussionsveranstaltung „Zeitgespräch: Karl Marx – heute noch aktuell?“ mit Ingo Pies, Werner Plumpe und Bertram Schefold in Hamburg ein. Interessierte können sich unter diesem Link kostenlos für die Veranstaltung anmelden.