Exklusiv aus dem Wirtschaftsdienst: Die EU-Kommission hat ihren Vorschlag für den mehrjährigen Finanzrahmen (2021 – 2027) vorgelegt. Dieser Finanzrahmen regelt welcher Staat wie viel einzahlt, wie viel bekommt und wofür das gemeinsame EU-Budget ausgegeben wird. Gemessen an den hochfliegenden Plänen Emmanuel Macrons für eine Neugründung Europas sind im Budget eher wenige Veränderungen vorgesehen. Die Kommission hat eine vorsichtige Neugewichtung eingeleitet: weg von Agrarsubventionen und Kohäsionspolitik hin zu mehr Mitteln für Außenpolitik, Innovationsförderung und Grenzschutz. In der Juni-Ausgabe des Wirtschaftsdienst bewerten die vier Autorinnen und Autoren des aktuellen Zeitgesprächs den Vorschlag der Kommission.
Jens Südekum, Professor am Düsseldorf Institute for Competition Economics, konstatiert, dass der Entwurf wie eine Fortschreibung der laufenden Periode wirkt. Die Höhe bleibt mit etwa ein Prozent des Bruttonationaleinkommens der EU nahezu konstant, auch wenn der Entwurf Akzentverschiebungen vorsieht: Weniger Geld für Kohäsion, Agrarbereich und Umwelt, aber dafür deutlich mehr Geld für Innovation und Digitales sowie Grenzschutz und Verteidigung. Trotzdem blieben Agrar- und Kohäsionspolitik mit knapp 65 Prozent die größten Ausgabenposten. Hier hätte sich Jens Südekum Mut zu deutlicheren Kürzungen gewünscht, um mehr Mittel für Verteidigung, Innovationsförderung und digitale Infrastruktur veranschlagen zu können. Darüber hinaus hat die Kommission einen europäischen Stabilisierungsfonds im Umfang von rund 30 Mrd. Euro angeregt, der im Falle von asymmetrischen Schocks noch vor den ESM-Programmen aktiviert werden könnte.
Die Ausrichtung des Entwurfs fasst Südekum wie folgt zusammen: „mehr Geld für Investitionen und die Stärkung von Instrumenten, die im Krisenfall im Rahmen einer gesamteuropäischen Konjunkturpolitik eingesetzt werden können, dafür eine Kürzung von Ausgabenbereichen, die einen tendenziell umverteilenden Charakter haben.“ Dieser Entwurf geht nach seiner Einschätzung in Richtung der Vorschläge die Macron gemacht hat, seien aber zu zaghaft umgesetzt. Außerdem äußert er die Erwartung, dass dieser Entwurf im Verlauf der Verhandlungen der Mitgliedstaaten noch weiter abgeschwächt wird. Im geplanten Budget werde auch zu wenig Wert auf die Bereitstellung europäischer öffentlicher Güter wie Verteidigung, Innovationsförderung und den Ausbau der digitalen Infrastruktur gelegt. „Ein zukunftsweisender Entwurf für den gemeinsamen Haushalt hätte die europäischen öffentlichen Güter und die Elemente der zentralen Stabilisierungspolitik noch stärker betont […]“, hält Südekum fest.
Peter Becker, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, sieht den Entwurf des mehrjährigen Finanzrahmens durch einen Pragmatismus gekennzeichnet, der den widersprüchlichen Erwartungen und Interessen der Mitgliedstaaten entspricht. Durch diese Ausgangslage sind die Reformmöglichkeiten allerdings begrenzt, sodass das zu erwartende Ergebnis der Verhandlungen zwangsläufig nahe des Status quo liegen werde. Becker stellt fest: „Für die Mitgliedstaaten sind noch immer die nationalen Nettosalden der entscheidende Maßstab zur Bemessung ihrer Reformbereitschaft. […] Nicht das Ergebnis für die Handlungsfähigkeit der EU, sondern die Folgen für das nationale Budget bestimmen die nationalen Positionierungen.“ Für Becker ist es langfristig wünschenswert, dass diese „Nettosaldo-Logik“ überwunden wird und die EU einen größeren Entscheidungsspielraum in Bezug auf ihren Haushalt erhält.
Bemerkenswert ist für Becker der Vorschlag der Kommission einen flexibleren und agileren Haushalt vorzulegen. Bisher sind etwa 80 Prozent der Mittel bereits zu Beginn der 7-jährigen Periode festgeschrieben, sodass große Anpassungen kaum mehr möglich sind. „Die Kommission will nun die vielen kleinen Förderprogramme zu großen Instrumenten zusammenfassen und sich die Möglichkeit eröffnen, in und zwischen den neuen mehrjährigen Programmen, die EU-Fördermittel leichter und schneller umschichten und neu verteilen zu können“, so Becker. Die von Der Kommission angeregten Änderungen könnten zu einer effizienteren Nutzung der EU-Mittel führen und die Reaktionsfähigkeit der EU erhöhen. Würden diese Vorschläge umgesetzt, könnte die Kommission ihre politische Autonomie ausweiten. Im Gegenzug verlören die Mitgliedstaaten an Einfluss beim Festlegen gemeinsamer politischer Prioritäten.
Auch Margit Schratzenstaller, Referentin am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung in Wien, sieht die Diskussion um den mehrjährigen Finanzrahmen geprägt vom nationalen Denken in Nettosalden: „Im Fokus der Wortmeldungen aus den Mitgliedstaaten stand in den letzten Wochen weniger die Frage, ob die vorgeschlagenen strukturellen Veränderungen der Ausgaben und im Eigenmittelsystem aus einer gesamteuropäischen Perspektive angemessen sind. Das Hauptaugenmerk liegt vielmehr auf dem Saldo des betreffenden Mitgliedslandes aus Einzahlungen in das EU-Budget und empfangenen Transfers daraus.“ Ihrer Ansicht nach wird von den Mitgliedstaaten ausgeblendet, dass der Nutzen einer EU-Mitgliedschaft weit über die Differenz von Einzahlungen und Transfers hinausgeht. Aus dieser Gemengelage leitet Schratzenstaller ab, dass sich die Verhandlungen um den mehrjährigen Finanzrahmen auf dessen Gesamtvolumen und die zur Finanzierung erforderlichen Finanzmittel verengen werden.
Um diese Sackgasse zu verlassen, schlägt Margit Schratzenstaller bei der Budgetfestlegung eine konsequente Orientierung am europäischen Mehrwert vor: „Danach soll die EU nur solche Aufgaben übernehmen, die sie – auch gemäß dem Prinzip der Subsidiarität – besser bewältigen kann als einzelne Mitgliedstaaten.“ Der Vorschlag der Kommission gehe, gemessen an den unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten, relativ weit und habe die Stärkung des europäischen Mehrwerts im Blick. Dennoch hält Schratzenstaller den Entwurf für nicht weitreichend genug. Die europäischen Herausforderungen sind aus ihrer Sicht groß und vielfältig: Flüchtlingsbewegungen und Migration, Klimawandel, anhaltende regionale Ungleichheiten, digitaler Wandel.
Eine Möglichkeit das EU-Budget grundlegend zu reformieren sieht Schratzenstaller auf der Einnahmenseite: „Ein Katalysator für eine solche fundamentale Umstrukturierung der EU-Ausgaben könnte eine grundlegende Reform der Einnahmen sein, die steuerbasierte Eigenmittelquellen als eine zentrale Säule des Eigenmittelsystems etabliert.“ Die Kommission hat als steuerbasierte Eigenmittel einen Anteil aus den Einnahmen der Versteigerung von Emissionszertifikaten und einer harmonisierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage sowie einer Steuer auf Verpackungsabfälle aus Kunststoff vorgeschlagen. „Diese neuen Eigenmittelquellen sollen künftig einen Anteil von 12 % der gesamten EU-Einnahmen erbringen.“, so Schratzenstaller. Der europäische Nutzen des mehrjährigen Finanzrahmens könnte ihrer Meinung nach durch die Einführung weiterer steuerbasierter Eigenmittel erhöht werden: „Geeignete Kandidaten sind insbesondere solche Steuern, die aufgrund von Ausweichreaktionen auf nationaler Ebene nur schwer durchgesetzt werden können.“
Gustav Horn, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf, sieht die Ausgangslage für die Debatte über den mehrjährigen Finanzrahmen von zwei gegensätzlichen Lagern geprägt: „Auf der einen Seite stehen jene, die eine bessere Koordination über eine vertiefte europäische Zusammenarbeit erreichen wollen. Auf der anderen Seite wird eine verstärkte nationale Haftung inklusive der Möglichkeit eines Rückbaus europäischer Zusammenarbeit bis hin zur Aufgabe der gemeinsamen Währung gefordert.“ Wolle man eine vertiefte Zusammenarbeit, müssten die institutionellen Rahmenbedingungen geschaffen werden: Eine solche Vertiefung könnte durch die Ausweitung der Kompetenzen der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments sowie die Schaffung eines Europäischen Währungsfonds (EWF) geschehen.
Die Einrichtung des EWF, durch den Ausbau des bisherigen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), ist zumindest zwischen Deutschland und Frankreich grundsätzlich gewünscht. Wie die jüngste Vergangenheit gezeigt habe, könne es auch innerhalb der Währungsunion zu Leistungsbilanzkrisen kommen. „Diese im Notfall durch Vergabe von Krediten an Defizitländer zu beheben, wäre Aufgabe des EWF. Damit würde ein ‚Backstop‘ errichtet, der in unruhigen Krisenzeiten das Aufkeimen von Panik verhindern kann. Dies ist essenziell für die Stabilität des Euroraums“, schreibt Horn zu den Aufgaben des zu gründenden EWF. „Geht man […] von inhärent instabilen Märkten aus, die immer wieder Krisen mit hohen Kosten in Gestalt von vernichteten Produktionskapazitäten und hoher Arbeitslosigkeit erzeugen, ist ein unkonditionierter Backstop unerlässlich. […] Wenn man aber diese Position einnimmt, muss man auch der Einrichtung eines Backstops ohne damit verknüpften Bedingungen zustimmen“, stellt Horn mit Blick auf mögliche Konditionen der Kreditvergabe fest. Seiner Ansicht nach gehören Konditionen und Anreize nicht in die Krisenphase, sondern in deren Vorfeld und die Phase nach der Krise. Grundsätzlich ist Gustav Horn verhalten optimistisch und sieht die Möglichkeit, den Euroraum mit glaubwürdigen Institutionen auszustatten, die sowohl in Krisenzeiten wirksam handeln als auch in guten Zeiten Impulse setzen können.
Lesen Sie hier exklusiv vorab ausführlich die vier Beiträge des aktuellen Zeitgesprächs zur Finanzplanung der EU aus der Juni-Ausgabe des Wirtschaftsdienst:
Künftige Finanzplanung der EU – neue Prioritäten, höhere Effizienz?, in: Wirtschaftsdienst 6/2018
(mit folgenden Beiträgen: „Ein Budget im Geiste Macrons?“ von Jens Südekum; „Pragmatismus und Flexibilität: der Fokus der EU-Kommission bei ihrem Vorschlag für den neuen Finanzrahmen“ von Peter Becker; „Ausgaben am europäischen Mehrwert orientieren und mehr Eigenmittelquellen erschließen“ von Margit Schratzenstaller; „EU-Fiskalpolitik: zwischen Konditionalität und Freibrief“ von Gustav A. Horn)