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Warum die osteuropäische Auswanderung die Spannungen innerhalb der EU verschärft

 

In den meisten mittel- und osteuropäischen Ländern ist es in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einem massiven Rückgang der Bevölkerung gekommen, während es im Westen eine nicht weniger kräftige Zunahme gab. Auf beiden Seiten spielten dabei grenzüberschreitende Wanderungen eine große Rolle (einen guten Überblick gibt die Website European Demographic Data Sheet 2018).

Die Migration ist sowohl im Westen als auch im Osten des Kontinents zu einem zentralen Thema in der öffentlichen Diskussion geworden und wird von Politologen wie dem Bulgaren Ivan Krastev für die Erfolge der fremdenfeindlichen Parteien verantwortlich gemacht („The metamorphosis of Central Europe“, in International Politics and Society, Januar 2019, sowie „After Europe“, University of Pennsylvania Press 2017). Genauso wie Freihandel nicht immer, nicht überall und nicht für jedermann etwas Positives ist, kann auch die internationale Mobilität erhebliche und unerwartete Probleme bereiten, vor allem dann, wenn sie zu sehr zunimmt. Sie kann einen wirtschaftlichen Schock in den Ländern des Ostens auslösen, deren Bevölkerung stark schrumpft, und sie kann den Integrationswillen in den aufnehmenden Ländern des Westens überfordern. Vollkommen offene Grenzen für den Produktionsfaktor Arbeit darf es nicht geben – Migration muss gesteuert werden, damit die staatlichen Institutionen nicht überfordert werden.

Ausgelöst wurden die Abwanderungen zunächst durch das Ende des Kommunismus und später dann durch den Beitritt zur Europäischen Union – nach einer relativ kurzen Übergangszeit war es danach auf einmal möglich, sein Land zu verlassen und im reichen Westen Arbeit zu finden. Politische Unterdrückung war dabei kein Motiv. Die Menschen wechselten von einem freien Land in ein anderes. Ein zusätzlicher Grund für den Bevölkerungsschwund war in den meisten Ländern ein starker Rückgang der Geburtenraten, der offenbar eine Reaktion auf den rapiden Strukturwandel war, also auf den Übergang von der Planwirtschaft zur freien Marktwirtschaft.

Tabelle: Europa in Bewegung

Obwohl fast überall im europäischen Osten nach der Wende hohe Zuwachsraten beim realen pro-Kopf-Einkommen erzielt wurden, sind auch heute noch die Einkommensunterschiede sehr groß, so dass weiterhin ein wirtschaftlicher Anreiz besteht, für einige Zeit oder für immer auszuwandern, oder über die Grenze zu pendeln. In Deutschland ist das BIP pro Kopf zurzeit mehr als viermal so hoch wie in Rumänien.

Wie wir in den neuen Bundesländern gesehen haben, kann es sehr lange dauern, bis die Bevölkerung nicht mehr schrumpft. Sie stabilisierte sich dort erst zwanzig Jahre nach der Wende und nachdem die Region 15 Prozent ihrer Menschen verloren hatte. Dabei gab es die ganze Zeit über gewaltige Finanztransfers von West nach Ost. Zwar fördert die EU seit Jahren die Länder des Ostens, insbesondere Polen, die Transfers sind aber im Vergleich zu den innerdeutschen Finanzhilfen eher bescheiden. Ich vermute daher, dass sich der Osten des Kontinents der Tendenz nach weiter leeren wird und dass erst in ferner Zukunft mit einer Wende zu rechnen ist.

Die Migration hatte und hat erhebliche Effekte sowohl auf die abgebenden als auch auf die aufnehmenden Länder. Da vorwiegend junge (und meist beruflich gut qualifizierte) Menschen das Wagnis der Auswanderung auf sich nehmen, erhöht sich im Osten der Anteil der Alten, während er im Westen dadurch tendenziell sinkt und die Alterung der Gesellschaft verlangsamt. Deutschland erlebt neuerdings durch die Zuwanderung trotz einer Geburtenziffer von nur 1,6 Kindern je Frau – 2,1 sind nötig zur „natürlichen“ Stabilisierung der Bevölkerung – einen kräftigen Populationsgewinn. Die Tabelle zeigt, dass es in einigen westlichen Nachbarländern zu noch deutlich höheren Zuwachsraten gekommen ist. Vor allem die wohlhabende Schweiz schlägt in dieser Hinsicht alle Rekorde.

Volkswirtschaftlich gesehen exportiert der arme Osten Humankapital in den Westen, und der muss dafür wenig oder nichts zahlen. Die Osteuropäer dürften in der Regel nur zuwandern, wenn sie Aussicht auf einen Arbeitsplatz haben – Kosten für ihre Erziehung und Ausbildung fallen nicht an. Für die reichen Länder des Westens ist das ein ausgezeichnetes Geschäft, während die östlichen Gesellschaften ihre Investitionen in Humankapital auf Null abschreiben müssen.

Da sich die Einwanderer mit niedrigen Löhnen zufrieden geben, weil die ja immer noch viel höher sind als die Löhne in ihren Heimatländern, unterbieten sie in bestimmten Berufen die Einheimischen. Ich habe den Eindruck, dass sich dadurch der Wettbewerb um Jobs in einigen Branchen verschärft hat. Das betrifft, wie wir täglich erleben, vor allem den Bau, das Transportwesen, Restaurants und Hotels, das Handwerk oder häusliche Dienste. Das hat zur Folge, dass die Einheimischen entweder ihre Jobs verlieren oder sich ihrerseits mit niedrigeren Löhnen zufrieden geben müssen.

Das hebt nicht gerade die Stimmung und erzeugt Ressentiments gegenüber den (technokratischen) Eliten, die ihnen die offenen Grenzen eingebrockt haben. Viele wählen dann die AfD, die Lega oder den Front National, also Parteien, die mit der europäischen Integration nicht viel am Hut haben. Das ist die zentrale These von Ivan Krastev.

Im Osten müssen derweil immer weniger Junge für die Kinder, Alten, Kranken und Arbeitslosen aufkommen, die im Land geblieben sind. Kindergeld, Renten, Krankengeld und Arbeitslosengeld sind entsprechend gering und erlauben nur einen niedrigen Lebensstandard. Auch hier bieten sich die Pro-Europäer als Sündenböcke an: Sie werden abgewählt. Gewählt werden Politiker, die auf nationale Abschottung setzen. Erstaunlicherweise lassen sich mit Fremdenfeindlichkeit Stimmen gewinnen, obwohl die meisten Menschen in Polen, Ungarn oder Rumänien kaum jemals mit Ausländern in Berührung kommen, geschweige denn mit ihnen um Jobs konkurrieren müssen.

Wenn das europäische Projekt gelingen soll, darf die Politik nicht tatenlos zusehen und die Marktkräfte einfach wirken lassen. Offene Grenzen und die krasse Ungleichheit der Einkommen zwischen West und Ost passen nicht zusammen. Es ist an den reichen Ländern des Westens, die Finanztransfers in den Osten signifikant aufzustocken, nicht zuletzt um die Osteuropäer für ihren Transfer von Humankapital zu entschädigen, aber auch aus Gründen der Solidarität und Stabilität.

Auf Dauer darf das Ziel, die Lebensverhältnisse einander anzugleichen, nicht nur für das eigene Land gelten, sondern für die gesamte EU – wenn die Union nicht auseinanderfliegen soll. In der Vergangenheit war Geld, das der europäischen Integration diente, stets gut angelegtes Geld. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Finanzpolitik. Auch wenn wir die nicht gleich von heute auf morgen bekommen können, braucht es doch die glaubhafte Aussicht, dass wir uns auf dem Weg dahin befinden.